Enormer Strukturwandel forderte heraus

Der industrielle Aufschwung führte Ende 19. Jh. zu enormen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Anstelle des Verfassungs- und Kulturkampfes rückten wirtschaftliche und soziale Fragen ins Zentrum der Politik.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts trat die Schweiz in ein neues Zeitalter ein. Die Landwirtschaft hatte ihre einstige Vorrangstellung verloren. Auf der anderen Seite erlebten Industrie und Gewerbe einen nie gekannten Aufschwung, verbunden mit einem tiefgreifenden Strukturwandel. Auch der lange bescheidene Dienstleistungssektor überflügelte bis 1910 die Landwirtschaft. Alle sozialen Akteure mussten sich ebenso wie die Politik den neuen Verhältnissen anpassen.

Starke Bevölkerungszunahme

Im gesamten 19. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung mehr als doppelt so schnell wie im 18., von 1,6 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern anno 1798 auf 3,3 Mio. einhundert Jahre später. Die mit Abstand grösste Zunahme fiel in die Periode von 1888 bis 1914. Das Wachstum erfolgte aber nicht gleichmässig, sondern vor allem in industrialisierten Regionen. So stiegen von 1888 bis 1910 die Einwohnerzahlen der Städte Zürich – mit Eingemeindungen – von 27'644 auf 190'733, Basel von 69'809 auf 132'276, Genf von 52'043 auf 58'337, Bern von 46'009 auf 85'651 und Lausanne von 33'340 auf 64'446. Auch kleinere Städte erlebten einen nie gekannten Aufschwung, besonders ausgeprägt etwa Biel, Winterthur und Luzern. In der Schweiz lebten 1910 fast 37 Prozent der Bevölkerung in Städten mit über 5000 Einwohnern – im europäischen Durchschnitt 41 Prozent. Ländliche Regionen verloren gegenüber den industrialisierten und urbanen stark an Gewicht. Die Verschiebung hatte nicht nur eine regionale, sondern auch eine internationale Dimension. Bis in die 1880er-Jahre blieb die Schweiz ein Auswanderungsland. Jährlich verschlug es Tausende, in den frühen 1850er- und 1880er-Jahren gar Zehntausende, nach Übersee. Ab Ende der 1880er-Jahre fiel die Wanderungsbilanz jedoch positiv aus. Zwar zogen bis zum Ersten Weltkrieg weiterhin jährlich Tausende nach Übersee oder ins europäische Ausland. Nun überwog aber die Zuwanderung, begünstigt durch die weitgehende Personenfreizügigkeit. Die Masse der Eingewanderten kam aus benachbarten Regionen, vorab aus Süddeutschland, dem Elsass, Oberitalien und Savoyen. Anfänglich waren sie vor allem deutscher und französischer, ab der Jahrhundertwende aber zunehmend italienischer Nationalität. Die meisten Männer lebten als Arbeiter bzw. Handwerksgesellen. Wirtschaftlich und arbeitsrechtlich waren sie den Einheimischen gleichgestellt. Frauen arbeiteten vor allem im Dienstleistungssektor, und dort überwiegend in der Hauswirtschaft. Im zweiten Sektor konzentrierten sich fast alle in der Textil- und in der Bekleidungsindustrie. Der Ausländeranteil erreichte am Vorabend des Ersten Weltkrieges etwa 15 Prozent.

Strukturwandel in der Wirtschaft

Die Wirtschaft wuchs in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur stark, sie unterlag auch einem Strukturwandel. So verlor die Landwirtschaft nicht nur an Gewicht, sie musste sich auch neu orientieren. Dank Dampfschiffen auf den Weltmeeren und einem ausgebauten Eisenbahnnetz konnte Getreide günstig in die Schweiz eingeführt werden. Der einheimische Anbau erwies sich nicht mehr als konkurrenzfähig; die Anbaufläche halbierte sich von 1850 bis 1900. Dafür stieg der Viehbestand massiv an. In der Industrie avancierten moderne Branchen auf Kosten von traditionellen. So legten die Maschinen-, die Metall- und die elektrotechnische Industrie bis zum Ersten Weltkrieg beträchtlich zu. Dagegen erlebte die einst klar dominierende Textilindustrie einen zwar langsamen, aber stetigen Abstieg. Aufsteigende Branchen beschäftigten im Gegensatz zu absteigenden vorwiegend Männer. Zudem siedelten sich die neuen Fabriken nicht mehr entlang von Wasserläufen auf dem Land an, sondern dank der Dampfkraft in den Städten, wo sie auf qualifizierte Arbeitskräfte zurückgreifen konnten. Angesichts des Städtewachstums und des Ausbaus der Infrastruktur – z. B. der Elektrizitätsversorgung – boomte das Bauge- werbe, wiederum mit Arbeitsplätzen vorwiegend für Männer. Die Schweiz kannte 1870 bis 1913 im internationalen Vergleich ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum, allerdings mit sinkender Tendenz. Sie lag im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gemessen an der industriellen Produktion pro Kopf in Europa an vierter Stelle hinter Belgien, Grossbritannien und Deutschland.

Neue politische Themen und Akteure

Noch die 1870er-Jahre waren geprägt vom Verfassungs- und Kulturkampf. In ersterem ging es um Kompetenzen des Bundesstaates und um Volksrechte. Mit der neuen Bundesverfassung, die 1874 im zweiten Anlauf eine Mehrheit der Stimmberechtigten auf sich vereinigte, verloren die Kantone Kompetenzen an den Bund. Andererseits brachte sie mit dem fakultativen Referendum das erste Volksrecht. Dieses ergänzte 1891 die Volksinitiative für die Teilrevision der Bundesverfassung. Im Kulturkampf wurde die Rolle der katholischen Kirche in den frühen 1870er- Jahren erheblich zurückgestuft. Diese Auseinandersetzungen verloren bald an Bedeutung, sodass 1891 der erste Katholisch-Konservative in den zuvor rein liberal-freisinnigen Bundesrat einziehen konnte.

Angesichts des Wandels verschob sich nun das Schwergewicht der Politik weg von Verfassungs- und konfessionellen Problemen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Damit gewannen die Verbände an Bedeutung, weil sie direkten Zugriff auf die Akteure des Wirtschaftslebens hatten. Es entstand das Verbandssystem, das während des 20. Jahrhunderts mit seinen Absprachen die Politik prägte: 1870 Schweizerischer Handels- und Industrieverein (heute: Economiesuisse), 1879/80 Schweizerischer Gewerbeverband, 1880 Schweizerischer Gewerkschaftsbund und 1897 Schweizerischer Bauernverband. Um Handel und Gewerbe eine einheitliche und solide Rechtsgrundlage zu schaffen, wurde 1883 das Obligationenrecht in Kraft gesetzt. Die schweren Mängel der privaten Eisenbahnen wurden 1898 mit dem Beschluss, sie in den Schweizerischen Bundesbahnen zu vereinigen, angegangen. Um der Unübersichtlichkeit im Banknotenwesen ein Ende zu bereiten, erfolgte 1905 die Gründung der Nationalbank. Mit der Institutionalisierung der Subventionspolitik verfügte der Bund ab den 1880er-Jahren über ein wirtschaftspolitisches Interventions- instrument. Mit dem neuen Generaltarif von 1887 ging die Schweiz mit höheren Zöllen zum Schutz der einheimischen Wirtschaft zum gemässigten Protektionismus über. Nebenbei stiegen damit auch die Bundeseinnahmen, da vor dem Ersten Weltkrieg keine direkte Bundessteuer erhoben wurde.

Sozialpolitische Lösungen

Schliesslich galt es, die sozialen Folgen des wirtschaftlichen Wandels aufzufangen. Seit den 1840er-Jahren wurde Armut zunehmend als soziale Frage betrachtet. Die Not hatte sich zwar gegen Ende des 19. Jahrhunderts eher vermindert. Weil sie aber nicht mehr in ländlichen Gebieten versteckt blieb, sondern sich in den Städten zeigte, drängten sich politische Lösungen auf. Den ersten wichtigen sozialpolitischen Durchbruch brachte 1877 das Fabrikgesetz, das die tägliche Arbeitszeit auf elf Stunden begrenzte. Als nächstes versuchte man die Notfälle infolge von Krankheit und Unfällen, die immer mit dem Wegfall des Lohnes verbunden waren, zu entschärfen. Der Bund erhielt 1890 erstmals die Kompetenz und Verpflichtung zu einer Sozialversicherung. Als Vorbild diente die Bismarck'sche Sozialpolitik im Deutschen Reich. Als ersten Zweig sahen Bundesrat und Parlament die Kranken- und Unfallversicherung vor. Die Gesetzgebung erwies sich als schwierig und langwierig. Ein erstes ambitiöses Projekt – die sogenannte Lex Forrer – scheiterte 1900 am Referendum. Die wesentlich abgespeckte Version von 1911 trat 1914 (Krankenversicherung) bzw. 1918 (Unfallversicherung) in Kraft.

Die Sozialgesetzgebung war nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten eine Angelegenheit von bürgerlichen Reformern, weil sich inzwischen die Arbeiterbewegung im Aufschwung befand. Zwar spielte diese bei den Beratungen eine untergeordnete Rolle. Allein ihre Existenz und ihr Machtzuwachs liessen es aber ratsam erscheinen, die sozialen Probleme zu entschärfen. So nahm etwa die Streiktätigkeit seit Mitte der 1880er-Jahre deutlich zu und erreichte 1907 mit fast 32'000 Streikenden einen Höhepunkt. Die Gewerkschaften erlebten einen regen Zulauf, und auch die 1888 gegründete Sozialdemokratische Partei war in Industriezentren bereits eine beachtliche Kraft, auch wenn dies wegen des Mehrheitswahlrechts in kommunalen und kantonalen Parlamenten und vor allem im Nationalrat noch nicht zum Ausdruck kam.

Bernard Degen


Bernard Degen

Dr. Bernard Degen (Jg. 1952) studierte Geschichte, Ökonomie und Soziologie in Basel und Paris. Er forscht und publiziert zur schweizerischen Wirtschaftsund Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem zu den industriellen Beziehungen. Er war Oberassistent an der Universität Bern und wissenschaftlicher Berater des Historischen Lexikons der Schweiz HLS. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Geschichte der Universität Basel.