Blind im sozialen Raum

Lange mit sich selbst beschäftigt, antwortete die Kirche offiziell erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die kapitalistischen Auswüchse der Industrialisierung. Sie stolperte in die Arbeiterfrage.

Mit der Industrialisierung wurde im 18. Jahrhundert die soziale Frage angefacht, und sie begann im Verlauf des 19. Jahrhunderts fast in ganz Europa lichterloh zu brennen. Ungesunde und unmenschliche Arbeitsbedingungen im Schmutz, im Dunkeln und in der Nacht, Arbeitszeiten von verbreitet über 70 Stunden pro Woche, Kinderarbeit, aber auch die Folgeprobleme von der Betreuung verwahrloster Kinder in den Waisenhäusern bis hin zum Alkoholismus wurden allgegenwärtig. Die katholische Kirche aber, die seit Anfang ihres Bestehens die sozialen Verhältnisse wesentlich geprägt hatte, schwieg. Erst 1891, ein Jahrhundert zu spät, bezog Papst Leo XIII. mit der Enzyklika Rerum novarum ernsthaft Stellung.

Verpasste Chance mit Folgen

Warum die Kirche die soziale Frage so lange verschlafen hatte, ist schwer zu verstehen. Eine Rolle spielte zunächst wohl die existenzielle Krise des Papsttums und der Kirche im Gefolge der Französischen Revolution, dann aber auch die obsessive Fokussierung Roms und der neuscholastischen Theologie auf die Ismen der Zeit. So wurde Energie verbraucht, die für eine zweite Front gegen die drastischen kapitalistischen Auswüchse fehlte. Zudem ergriff die Industrialisierung manche traditionell bäuerlichen katholischen Gebiete später und weniger heftig als die früh industrialisierten Gebiete Englands, Deutschlands, Frankreichs oder der Schweiz. Die Folgen des Zuwartens sind bis heute spürbar. Die Opfer der Industrialisierung wurden gezwungen, sich für ihre existenziellen Probleme Hilfe bei anderen Organisationen zu suchen, die sich aktiv mit der Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter auseinandersetzten. Insbesondere die nach der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende sozialdemokratische Arbeiterbewegung war kirchlich ungebunden und zunehmend antireligiös. Die Kirche gab damit weitgehend selbstverschuldet ein Gebiet preis, in dem sie während Jahrhunderten viele Menschen durch tätige Christlichkeit erreicht hatte. Die Entwicklung hätte auch anders laufen können, wenn die Kirche früh konstruktiv eingegriffen hätte. Die meisten französischen und deutschen Frühsozialisten, etwa Claude-Henri de Saint-Simon (1760–1825) Félicité de Lammenais (1782–1854) oder Wilhelm Weitling (1808–1871) hatten ihre Theorien nämlich noch auf christlichen Ideen von menschlicher Gleichheit und Liebe aufgebaut. Erst unter dem Einfluss des Kommunistischen Manifests von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) von 1848 entwickelte sich die Sozialdemokratie zunehmend antireligiös.

Laien nehmen das Heft in die Hand

Ernsthafte kirchlich gesteuerte Initiativen im Bereich der Arbeiterfrage gab es erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. In Deutschland nahmen vor allem der Bischof von Mainz, Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), und dessen Studienfreund Adolph Kolping (1813–1865) den Kampf auf. Ihnen schloss sich mindestens verbal auch der St. Galler Bischof Carl Johann Greith (1807–1882) an. Am Ersten Vatikanischen Konzil geisselte er den «Materialismus weniger ruchloser Wohlhabender gegenüber den Armen Christi, von manchen Herren, die ohne Glauben leben, gegenüber den Arbeitern, die in den Fabrikhallen und mechanischen Werkstätten beschäftigt werden, allgemein jener Menschen, die den Menschen in ihren Untergebenen, den Bruder in ihren Brüdern, im leidenden Menschen Würde und Recht nicht weiter erkennen, sondern sie im Gegenteil verachten». Er machte damit aus der Arbeiterfrage eine moralische Frage, in der er insbesondere die oft materialistisch denkenden Arbeitgeber in die Pflicht nehmen wollte. Vor allem aber forderte er das Konzil auf, sich diesen Fragen anzunehmen, allerdings vergeblich.

Angesichts des Fehlens päpstlicher Leitlinien blieb die kirchliche Antwort auf die Arbeiterfrage auch in der Schweiz bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein unbefriedigendes Fragment. Initiativen wie die Gründung einer sozial verantwortlich geführten Fabrik durch den Kapuzinerpater Theodosius Florentini (1808–1865) blieben vorerst erfolglose Einzelerscheinungen. In dieser Lage übernahmen die in katholischen Vereinen organisierten Laien Verantwortung. Dabei kam es zu Konflikten zwischen dem 1857 gegründeten, in den katholischen Stammlanden verankerten schweizerischen Piusverein einerseits und dem 1888 von Vertretern der städtischen Diaspora ins Leben gerufenen Verband der Katholischen Männer- und Arbeitervereine (VMAV) andererseits. Der VMAV wurde von Josef Beck (1858–1943), Caspar Decurtins (1855–1916) und Ernst Feigenwinter (1853–1919) geführt. Die drei profilierten sich in der Arbeiterfrage und engagierten sich unter der Leitung des in Rom gut vernetzten Genfer Bischofs Gaspard Mermillod (1824–1892, 1890 Kardinal) auch in der «Union catholique d’Etudes sociales et économiques à Fribourg» (1885–1889), einer Art katholischer Denkfabrik zur Arbeiterfrage, die sehr einflussreich war. Die Diskussionen zwischen Piusverein und VMAV waren zeitweise heftig und konnten erst 1905 beendet werden, als die verschiedenen Welten im «Schweizerischen Katholischen Volksverein» zusammengeführt wurden.

Der sozialpolitisch interessierte, aber eher vorsichtige St. Galler Bischof Augustinus Egger (1833–1906) wurde vor allem nach dem Tod Mermillods 1892 die führende Stimme der Schweizer Bischöfe in der Arbeiterfrage. Er stand dem VMAV kritisch gegenüber und förderte den Piusverein. Angesichts des Fehlens eines kirchlichen Konzepts engagierte er sich seit den 1880er-Jahren zunächst primär in praktischen sozialen Fragen, insbesondere der Bekämpfung des Alkoholismus.

Besser spät als nie

Endlich erschien 1891 die von der Union de Fribourg und insbesondere Caspar Decurtins mitgestaltete Enzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII.* Zu spät zweifellos, aber immerhin mit einem belastbaren Konzept, nämlich einem dritten Weg zwischen dem ungezügelten Kapitalismus und dem revolutionären Sozialismus. Auf dieser Grundlage gelang es dann doch noch, in der Schweiz eine kirchlich gebundene «christlichsoziale» Arbeiterbewegung aufzubauen. Dabei war der Bischof von St. Gallen federführend. Dazu legitimierte ihn wohl auch die starke industrielle Entwicklung der ostschweizerischen Metropole im Zeichen der Stickereiblüte. Egger wurde nach «Rerum novarum» überhaupt mutiger, beispielsweise indem er 1900 öffentlich vehement für die erste Vorlage für eine Kranken- und Unfallversicherung (Lex Forrer) eintrat. Dass das Triumvirat Beck/Decurtins/Feigenwinter die Vorlage vehement ablehnte, zeigt dagegen, dass innerkatholisch eine Front bestand. Während sich diese eher nach rechts entwickelten, wandte sich der St. Galler Bischof eher nach links, allerdings in klarer Abgrenzung zur Sozialdemokratie. Vor diesem Hintergrund fällte Egger folgerichtig seine wichtigste sozialpolitische Entscheidung: 1898 gab er den in St. Gallen als Seelsorger tätigen Johann Baptist Jung (1861–1922) und Alois Scheiwiler (1872–1938, Bischof 1930–1938) den Auftrag, die ersten christlichsozialen Vereinigungen aufzubauen. Noch einmal achtete er darauf, dass diese dem Piusverein und nicht etwa dem VMAV angegliedert wurden. Am 28. Januar 1899 gründeten die beiden in St. Gallen den ersten christlichsozialen Arbeiterverein, im März dessen weibliches Pendant. Die Tatkraft Jungs und Scheiwilers war formidabel. Sie schufen in kürzester Zeit eine kirchentreue Arbeiterbewegung, die zwar konfessionell begrenzt, aber in ihrer Ernsthaftigkeit und wegen ihrer breiten Organisation tatsächlich ernst zu nehmen war.

Von Versicherungen bis Arbeitsnachweis

Mit der neuen Bewegung, die sich rechts von den sozialdemokratischen Gewerkschaften, aber links von Decurtins etablierte, entstand ein einheitlich geführter, aber vielgestaltiger Kosmos, der neben den Arbeiter- und Arbeiterinnenvereinen, Gewerkschaften, Versicherungen für Arbeitslose, Wöchnerinnen, Alte und Hinterbliebene, eine christlichsoziale Krankenkasse, eine Bank, Konsumgenossenschaften, Presseorgane, die Buchdruckerei Konkordia in Winterthur, die Leobuchhandlung in St. Gallen, ein Arbeitersekretariat in Zürich, eine Lichtbilderzentrale und einen zentralen Arbeitsnachweis umfasste. Jung, der 1903/1904 Präsident und anschliessend bis zu seinem Tod Vizepräsident des Zentralverbands christlichsozialer Organisationen war, gründete zudem verschiedene Raiffeisenbanken und gehörte auch zu den frühen katholischen Befürwortern des Frauenstimmrechts. Scheiwiler siedelte 1904 nach Zürich über, wo er ein Arbeitersekretariat eröffnete und von Jung die Funktion des Zentralpräsidenten übernahm. Vom unermüdlichen Einsatz des späteren Bischofs zeugt seine Publikationsliste mit 3000 Titeln.

Die Schaffung der christlichsozialen Bewegung war eine eindrückliche organisatorische Leistung. Dank ihr stolperte die katholische Kirche, die lange Zeit blind war für die eigentlichen Probleme, schliesslich doch noch in die schweizerische Arbeiterszene. Die Verspätung um ein Jahrhundert führte allerdings zu einem Bedeutungsverlust, an dem die Kirche noch heute leidet.

Cornel Dora

 

* Unter dem Titel «Rerum Novarum ohne Freiburger Maximalforderungen» beleuchtet Prof. Dr. Markus Ries den Beitrag der Union de Fribourg zu dieser Enzyklika. Siehe nächster Artikel in dieser Nummer.

Literatur

  • Prüfer, Sebastian, Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863–1890, Göttingen 2002, bes. 273–280.
  • Altermatt, Urs, Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, 2. erweiterte Auflage, Zürich 1991.
  • Dora, Cornel, Augustinus Egger von St. Gallen (1833–1906). Ein Bischof zwischen Kulturkampf, sozialer Frage und Modernismusstreit, St. Gallen 1994.

Cornel Dora

Dr. Cornel Dora (Jg. 1963) studierte Geschichte, Anglistik und Musikwissenschaft in Zürich. Er leitete von 2001 bis 2013 die Kantonsbibliothek Vadiana und ist seit 2013 Stiftsbibliothekar von St. Gallen. (Bild: Marlies Thurnheer)