Religionsunterricht gehört in die Schule (II)

Kirchlicher Religionsunterricht (RU) muss seine Position nach zwei Seiten klären: gegenüber dem bekenntnisunabhängigen Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG) des schulischen Lehrplans1 und gegenüber der Katechese im Kontext der Gemeindepastoral.

Zusammen mit der Katechese hat der RU teil am Bildungs- und Verkündigungsauftrag der Kirche und führt die Heranwachsenden in das Verständnis und die Praxis des gelebten Christentums ein. Religionsunterricht und Katechese werden in der Schweiz vielerorts nicht unterschieden. Vielmehr findet die «Katechese in der Schule» oder «der Religionsunterricht im Pfarreiheim» statt. Das ist vielleicht mit ein Grund, warum der Religionsunterricht hier im Unterschied zu Deutschland viel an schulischer Anerkennung verloren hat. Die bereits zitierte römische Verlautbarung hält jedoch unmissverständlich fest: «Es muss hervorgehoben werden, dass der katholische Religionsunterricht eigene Ziele verfolgt, die sich von denen der Katechese unterscheiden. Während die Katechese die persönliche Verbundenheit mit Christus und das Reifen des christlichen Lebens fördert, vermittelt der schulische Unterricht den Schülern Wissen über das Wesen des Christentums und das christliche Leben.»2

Religionsunterricht neben Katechese

Formal lässt sich diese Unterscheidung dadurch charakterisieren, dass der RU am Lernort Schule, die Katechese am Lernort Kirche stattfindet. Diese lässt sich am Lernort Kirche ganz anders gestalten, fern von schulischer Lernkultur. Mit erlebnispädagogischen Formen orientiert sie sich an christlichen Handlungsvollzügen wie den Sakramenten, der Liturgie, der Diakonie oder der Koinonia. Die zeitliche, räumliche und soziale Gestaltung braucht keine Stundenpläne, sondern die Beziehung zu Gott, die Begegnung mit gläubigen Menschen oder mit Einrichtungen der Pfarrei, der Vollzug religiöser Praxis und der Aufbau von Handlungskompetenzen stehen im Mittelpunkt.3 Dabei stützt sich die Katechese auf die Grundlegungen im Religionsunterricht.

Im Unterschied dazu stehen im RU die Orientierung im Glaubenswissen, die komplementäre Unterscheidung der ethisch-religiösen Perspektive von den Zugängen anderer Schulfächer und der Dialog zwischen den Schülerinnen und Schülern mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen im Zentrum. Während der Religionsunterricht die Identitätsbildung der Heranwachsenden unterstützen und sie zu einem mündigen Christsein heranführen will, stehen am Lernort Kirche stärker die Sozialisation, die Einführung in und Partizipation am Leben der christlichen Gemeinschaft im Zentrum.

Unterschiedliche Zielgruppen

Der Fachbereich ERG richtet sich an alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse. Diese sollen lernen, sich gemeinsam mit Fragen von Ethik, Religionen und gemeinschaftlichem Zusammenleben auseinanderzusetzen, unabhängig von den jeweiligen konfessionellen und weltanschaulichen Hintergründen der einzelnen Kinder. «In der Perspektive Ethik, Religionen, Gemeinschaft entwickeln Schülerinnen und Schüler Kompetenzen für das Leben mit verschiedenen Kulturen, Religionen, Weltanschauungen und Werteeinstellungen.»4

Den kirchlichen RU besuchen alle christlichen Kinder, unabhängig von ihrer Nähe oder Distanz zur Kirche oder zu den Kirchen, ohne Voraussetzung einer Glaubenshaltung. Er ist ein Bildungsfach, das auf alle «Kirchensteuerzahlenden» ausgerichtet ist, also mehrheitlich auf Kinder aus distanzierten Familien. Er bietet die herausfordernde Chance, Kinder und Jugendliche aus verschiedenen soziokulturellen Milieus anzusprechen, ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Glauben und Kirche ernst zu nehmen und die Kinder zu einem mündigen Christsein zu fördern.5

Katechese lädt Kinder und Jugendliche ein, welche die Bereitschaft haben, das eigene Leben aufgrund des christlichen Glaubens zu befragen und zu gestalten, nach spirituellen Formen und Gottesbeziehung zu suchen, Beziehungen zur christlichen Gemeinschaft aufzubauen und den Glauben zu feiern.

Fazit

Gelingender kirchlicher Religionsunterricht in der Schule ist grundsätzlich guter Unterricht gemäss den heutigen Anforderungen an ein Schulfach.6 In der Schule zeichnet er sich dadurch aus, dass er den Perspektivenwechsel7 von schulischer Aussensicht zu christlicher Innensicht leisten kann, dabei offen ist für existenzielle Auseinandersetzungen und Vertiefungen sowie eine Kultur des Dialogs aufbaut. Gelingender kirchlicher Religionsunterricht nimmt die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ernst (Gender, kognitives Leistungsvermögen, kulturell- sprachliche Vielfalt, soziokulturelle Milieus) und versucht, insbesondere ein Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche aus distanzierten Familien zu sein. Kirchlicher Religionsunterricht kann gelingen, wenn er ergänzt wird und sich klar unterscheidet von der pfarreilichen Katechese. Für Katechese sind die innovativen ausserschulischen Möglichkeiten auszuloten, ohne «Religionsunterricht im Pfarreiheim» zu spielen. Die kirchliche Präsenz und der Religionsunterricht müssen sich dynamisch und professionell in die Schule vor Ort integrieren und können nicht auf 45-Minuten-Lektionen reduziert werden. Solcher Religionsunterricht kann gelingen, wenn er gemäss nachfolgenden Begründungsaspekten Profil gewinnt.

Sieben Aspekte eines RU mit Profil

Theologisch: RU will die Bereitschaft zu Glauben und christlichem Leben ermöglichen. Er will den Sinn für die Dimension des Göttlichen erschliessen und den Schülerinnen und Schülern Jesus Christus, seine Botschaft, sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung nahebringen. Die Schülerinnen und Schüler begegnen wichtigen Gestalten und Texten der Bibel und verstehen zentrale christliche Glaubensaussagen. Sie lernen christliche Feiern und Feste kennen und werden befähigt, diese mitzufeiern und eigene religiöse Ausdrucksformen zu finden. RU ist selbst Ort der Theologie und des Theologisierens.

Kulturhermeneutisch: Der RU erschliesst den Schülerinnen und Schülern unsere wesentlich vom Christentum geprägte Kultur und Tradition. Er berücksichtigt ebenso, dass die Lebenswelt heutiger Kinder und Jugendlicher nicht mehr allein christlich geprägt ist, sondern durch eine Vielzahl religiöser Ausdrucksformen in Medien und Populärkultur. Der Religionsunterricht befähigt die Schülerinnen und Schüler, christliche und religionskulturelle Codes unserer Gegenwart zu lesen, in einer christlichen «Standardsprache» zu benennen und sich darüber zu verständigen. Der RU leistet damit einen Beitrag zu Sprachfähigkeit und kulturgeschichtlicher Deutungskompetenz wie auch zum Verständnis des Christentums.

Anthropologisch: Die Kinder entwickeln ihre Sinndeutungen oft selbst entlang der ihnen angebotenen (medialen) Bilder und Geschichten und konstruieren Antworten auf anthropologische Grundfragen. Der RU befähigt die Schülerinnen und Schüler dazu, ihre Sinnfragen in der kommunikativen Auseinandersetzung mit anderen und im Lichte des christlichen Glaubens zu überprüfen und zu entwickeln. Die existenzielle Auseinandersetzung und kritische Beschäftigung mit Erzählungen der Bibel, mit überlieferten Glaubensüberzeugungen, mit christlicher Praxis und mit der eigenen Biografie leisten einen wichtigen Beitrag zu gelingender Identitätsbildung.

Bildungstheoretisch: Um die komplexe Wirklichkeit unserer Gegenwart erschliessen, ordnen und verstehen zu können, brauchen Schülerinnen und Schüler unterschiedliche, komplementäre Zugänge und Perspektiven zu den Dingen und Fragen der Welt. Sie werden als kognitiv-instrumentelle, ästhetisch-expressive, evaluativ-normative, existenziell-ultimative Modi der Weltbegegnung beschrieben.8 Religionsunterricht bedient alle diese Dimensionen. In der existenziell-ultimativen Weltbegegnung kann der RU jedoch eine religiöse Vertiefung anbieten, die der Schule aufgrund ihrer weltanschaulichen Neutralität verwehrt ist. Er leistet dadurch einen unverzichtbaren Beitrag zum Bildungsauftrag der Schule.

Gesellschaftlich: Religionsunterricht relativiert die Selbstverständlichkeiten und Absolutheitsansprüche von Schule und Lebenswelt. Mit dem Rückbezug auf die christliche Botschaft fördert er eine kritische Haltung der Schülerinnen und Schüler gegenüber den Erwartungen der Gesellschaft und stärkt die Fähigkeit eines toleranten Umgangs mit Differenzen. Auf der Grundlage eines christlichen Ethos ermöglicht RU ethische Auseinandersetzungen, die Suche nach dem guten Leben und einer gerechteren Welt. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, kritisch zu urteilen, verantwortlich zu handeln und sich in Kirche und Gesellschaft zu engagieren.

Ökumenisch: Eine ökumenische Ausrichtung gehört zum Selbstverständnis der Kirchen seit dem II. Vatikanum und der Charta Oecumenica und wird deshalb auch in Leitsatz 5 für die Glaubensbildung eingefordert.9 Dabei geschieht ökumenisches Lernen nicht nur dadurch, dass katholische und reformierte Schülerinnen und Schüler im selben Schulzimmer sitzen. Vielmehr umfasst Ökumene im RU alle kognitiven und handlungsorientierten Lernprozesse, die zur gegenseitigen Wahrnehmung und Achtung der verschiedenen christlichen Traditionen und Konfessionen beitragen. Die Schülerinnen und Schüler sollen sowohl die Gemeinsamkeiten im christlichen Glauben als auch die Besonderheiten der christlichen Konfessionen kennen lernen, sich darin orientieren und eigene Positionen und Handlungsentscheidungen klären können.

Interkulturell-interreligiös: RU ist der Ort, wo Mädchen und Jungs aller Milieus und Niveaus ein Zugang zur Vergewisserung ihres eigenen Glaubens ermöglicht werden kann. Angesichts der heterogenen Voraussetzungen innerhalb der Familien bezüglich sprachlich-kulturellen Hintergrunds, religiösen Bekenntnisses und Bezugs zu kirchlichen Institutionen ist eine interkulturelle Sensibilität in der Gestaltung des Religionsunterrichts unabdingbar. Die Förderung der Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel und zu interkulturellem und interreligiösem Dialog wird zu einem zentralen Ziel des Religionsunterrichts im Zeichen der Migration. 

1 Vgl. «Religionsunterricht gehört in die Schule» Teil I in SKZ 5/2017.

2 Kongregation für das Bildungswesen, aaO. 74.

3 Vgl. Jakobs Monika: Neue Wege der Katechese, München 2010; Kessler Andreas: Die heterogene Landschaft des reformierten Religionsunterrichts in der Deutschschweiz: Überblick, Analysen und Ausblicke, in: Kessler Andreas / Noth Isabelle (Hrsg.): Lernen in Freiheit. Herausforderungen und Chancen des reformierten Religionsunterrichts in der Deutschschweiz, Zürich 2015, S. 11–26.

4 Deutschschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (Hrsg.): Lehrplan 21, Luzern 2014, vgl. www.lehrplan.ch

5 Vgl. Calmbach Marc u. a.: Wie ticken Jugendliche 2016? Sinus Milieustudie, Berlin 2016

6 Vgl. Kessler Andreas, aaO. 13f.; vgl. Meyer Hilbert: Was ist guter Unterricht? Berlin 2004.

7 Vgl. Schmid Kuno: Stichwort Perspektivenwechsel, www.ethik-religionengemeinschaft.ch/schmidstichwort-perspektivenwechsel [1. 11. 2016].

Kuno Schmid

Kuno Schmid

Prof. Kuno Schmid ist Dozent für Didaktik des schulischen Religionsunterrichts am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern.