Einiges mehr als Trost

8. Sonntag im Jahreskreis: Jesaja 49,14–15

Jes 49,14 Doch Zion sagt: der HERR hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen. 15 Kann denn eine Frau ihr Kindlein1 vergessen, ohne Erbarmen sein gegenüber ihrem leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergisst: Ich vergesse dich nicht.

Diese zwei Verse klingen tröstend: Von allen verlassen und vergessen, erfährt das trauernde Zion den Zuspruch von JHWH, niemals in Vergessenheit zu geraten. Die Versuchung ist gross, diese Verse persönlich zu nehmen und Zion zu einer Variablen zu machen, in der jede und jeder den eigenen Namen eintragen kann – nach dem Motto: Der liebe Gott ist immer bei uns, selbst wenn die menschlich engsten Beziehungen scheitern.

Das Buch Jesaja bietet zu dieser familiären Beziehungsmetapher aber doch einiges mehr als Trost. Der Vergleich der Beziehungen JHWH–Zion und Mutter– Kind kann ohne ein Augenmerk auf das Textumfeld des Buches (v. a. in Kapitel 49) kaum erschlossen werden. Dieses Kapitel aus dem mittleren Teil des Jesajabuches wird der Zeit des Exils zugeordnet, einer Zeit also, in der sich eine Glaubensgemeinschaft fern der Heimat auf den Boden besinnen muss, der trägt und nährt wie eine Mutter ihr Neugeborenes.

Zion wird im Buch Jesaja sehr häufig (47x) und in unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Mal ist es der Wohnort Gottes, des HERRN der Heerscharen im Tempel, mal ist es der Berg, mal die ganze Stadt Jerusalem oder deren Bewohnerinnen und Bewohner (die Kinder dieser Stadt). Dabei wird vor allem im zweiten Teil des Jesajabuches Zion auch zum Synonym der Präsenz Gottes überhaupt, erfahrbar in den zum Gottesvolk Erwählten (den Kindern JHWHs). In den Kapiteln 49 bis 51 wird Zion als Frau beschrieben (Mutter, Braut und Exehefrau). Mit dieser Vorstellung bildet Zion ein Zentrum, zu dem andere Völker strömen. In V.20 heisst es:

49,20 Bald wirst du, die du kinderlos warst, mit eigenen Ohren hören, wie deine Kinder sagen: Mir ist der Platz zu eng, rück zur Seite, damit ich hier wohnen kann.

Die Zukunft wird gebracht

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die «Sprüche des HERRN» mit Bedacht gelesen werden wollen. JHWH spricht zu Zion, zu dem unfruchtbaren, verheerten und zerstörten Land (V.19). Zion darf sich schmücken mit Kindern, verglichen mit einer «Braut» (V.18), die ihre eigenen Kinder nicht selbst grossgezogen hat (V.21). Diese sind bereits da und werden von fremden Völkern gebracht:

49,22 So spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich erhebe meine Hand zu Nationen, und für Völker richte ich mein Feldzeichen auf, und sie bringen auf den Armen deine Söhne herbei und tragen deine Töchter auf den Schultern2.

Die folgenden Kapitel 50 und 51 rütteln auf und erinnern an den Schrecken der «Scheidung» (50,1) zwischen «Mutter Zion» und JHWH. Ohne JHWH ist Zion verloren. Irmtraud Fischer fasste es so zusammen: «Als schutzlose Frau hat sie den betäubenden Becher des Zorns getrunken, aber keiner ihrer vielen Söhne hat die Taumelnde geführt. Sie musste wehrlos zusehen, wie ihre Kinder im Krieg fielen (51,17 20) und die Eroberer über sie hinwegtrampelten (51,23). Der Zuspruch an Zion beginnt jedoch nicht mit dem Bild des Ehemannes, der seine verstossene Frau zurückholt, sondern mit dem Bild der Mutter, die ihr Kind nicht vergessen kann (49,15).»3

Könige in der Kinderpflege

Im Buch Jesaja ( ישעיהו jeschajahu – Gott rettet) liegt eine Antwort auf zutiefst erlebte Gottesferne. JHWH bringt der Frau (Zion) ihre Kinder (ihre Zukunft) wieder, und zwar in solchem Mass, dass es der «Frau» fast zu eng wird. Sie muss Platz machen (V.20) für ihre Kinder, über die sie staunt:

21 Dann wirst du dich in deinem Herzen fragen: Wer hat mir diese geboren? Ich war kinderlos und unfruchtbar, war verbannt und verstossen, wer hat mir diese herangezogen? Ich war doch allein übrig geblieben. Wo kommen sie her?

Es sind die fremden Völker, die die Aufgabe der Rückführung im Dienste JHWHs übernehmen.

49,23 Könige werden deine Kinder pflegen und Fürstinnen ihre Ammen sein.

Das Buch Jesaja beinhaltet ein gesellschaftliches Konzept, dass den Wiederaufbau von zerstreuten Menschen und zerstörten Wohnstätten in den Blick nimmt. Die Zukunft ist in der Verheissung bereits da, getragen von fremden Völkern. Die Zukunft trinkt die «Muttermilch der Völker ».4 Ja, dieses Kapitel ist tröstend und fordert gleichzeitig heraus, die «Kinder» anzunehmen, zu tragen oder für sie Platz zu machen – Platz für die Zukunft, die Gott bereits geboren hat. 

 

 

1 Buber u. a. übersetzen עוּל mit «Säugling».

2 In der revidierten EÜ für על־כתף : «auf den Hüften», sonst meist «auf der Schulter».

3 Irmtraud Fischer, Das Buch Jesaja: Das Buch der weiblichen Metaphern. In: Schottroff Luise / Wacker Marie-Theres (Hg.) Kompendium Feministische Bibelauslegung. Gütersloh: Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 1998, 246–257.

4 Ebd.

Katja Wissmiller

Katja Wissmiller

Die Theologin, Fotografin und Journalistin Katja Wissmiller ist Mitarbeiterin der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich.