«Religiöse Biografien sind auch Bildungsbiografien»

Wo steht die kirchliche Bildungsarbeit? Welche Entwicklungen zeichnen sich ab? Diesen Fragen geht das von der Arbeitsgemeinschaft Praktische Theologie Schweiz initiierte Buch «Anders. Bildung. Kirche» nach.

Jörg Schwaratzki (Jg. 1981) ist seit 2016 Geschäftsführer Bildungsrat beim Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) St. Gallen.

 

SKZ: Herr Schwaratzki, was war der Grund für dieses Buch?
Jörg Schwaratzki: Uns schienen gemeinsame Koordinaten für kirchliche Bildungsstrategien zu fehlen. Wir haben zwar Flaggschiffe wie das Theologisch-pastorale Bildungsinstitut der deutschschweizerischen Bistümer (TBI) oder das System modularer Aus- und Weiterbildungen in ForModula. Seit 2015 gibt es für die Deutschschweiz mit dem Bildungsrat so etwas wie ein Radarzentrum, das Bewegungen auf dem kirchlichen Bildungsmarkt beobachtet und steuert. Die Arbeitsgemeinschaft Praktische Theologie Schweiz wiederum hat sich den Wunsch nach einer Diskussionsgrundlage zu eigen gemacht und das Buch «Anders. Bildung. Kirche» als gemeinsames Projekt initiiert. An einem gemeinsamen Studientag mit dem Bildungsrat und anderen Verantwortlichen der kirchlichen Bildung konnte sie die Impulse bereits diskutieren. Dieses übergreifende Gespräch erzeugte hohe Resonanz und erste Koordinaten haben sich für die Zukunft gezeigt.

Was hat sich gezeigt?
Die Covid-19-Pandemie hat auch in der kirchlichen Bildung einen Digitalisierungsschub gebracht. Darauf hatten manche schon gewartet, andere waren skeptisch. Ermutigend sind deshalb Grundsatzüberlegungen, die von digitalen Formen der Partizipation auch mehr Mündigkeit erhoffen. Zugleich kreisen viele Beiträge um «reale» Begegnungen als Schatz kirchlicher Bildung: mit Randständigen, mit Kunstschaffenden, mit Figuren der Bibel. Dabei wird die Ambivalenz der kaum reflektierten Körperlichkeit in Bildungsprozessen nicht übersehen, die der Missbrauchsskandal aufdeckt. Kirchliche Bildung wird daran gemessen werden, wie sie Trends adaptiert und dabei dem Aspekt der Menschenbildung im Sinne des Evangeliums gerecht wird. Dies würde bedingen, dass alle Bildungsgefässe befreiende Erfahrungen ermöglichen, Deutungsmöglichkeiten ganzheitlich erschliessen und eine neue Praxis bereits lebendig werden lassen.

Im Vorwort steht: «Bildung ist heute eine Frage der Kirche von morgen» Wie ist sie dies?
Kirche wird in der Begegnung mit und von Glaubenden erfahrbar. Unterschiedliche Beteiligungsformen kommen zum Tragen: von distanziert-teilnehmend zu engagiert bis zu beruflich-verbindlich. Religiöse Biografien sind zu einem Teil auch Bildungsbiografien, wozu leider auch das Fehlen von Bildungsmomenten zählen kann. Aber was Menschen in der Kirche suchen, geht nicht allein in Bildung auf. Zudem geschieht Beteiligung nicht kontinuierlich oder durchgetaktet wie eine Schullaufbahn, sondern häufig punktuell oder fokussiert auf einen bestimmten Aspekt. Deshalb benötigt die Kirche professionelles Personal, das Menschen zu unterschiedlichen Lebenszeitpunkten zur Begegnung mit Gott anleiten kann. Die Kirche im Wandel ist darauf angewiesen, dass unterschiedliche Bildungswege stärker aufeinander bezogen sind und dadurch «mehr» Kirche ermöglichen. Bildung, Pastoral-, Personal- und Kirchenentwicklung können visionäres
Potenzial entfalten, wenn sie zusammengedacht werden.

Was für eine berufliche Aus- und Weiterbildung der Seelsorgenden ist hierfür angesagt?
Mit und parallel zur Publikation ist die Erfahrungs- und Praxisorientierung kirchlicher Bildungsangebote in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Wer zielgerichtet Erfahrungen ermöglichen soll, muss selbst welche gemacht und reflektiert haben. Darauf könnten neue Ausbildungsformate aufbauen, indem die Lernenden unter Begleitung partizipativ und selbstgesteuert, projektbezogen und experimentell an kniffligen Problemstellungen des Berufsfelds arbeiten. Dies kann an einem Praxisort in einer Pfarrei oder in einem Laboratorium geschehen.

Wo können sich Menschen kirchlich jetzt schon anders bilden?
Unser Buch reflektiert exemplarisch die Arbeit in der offenen Kirche Bern und der Diakoniearbeit, in der geistlichen Begleitung und dem Bibliodrama. Auch zur religiösen Bildung in Familie, Theologie und Berufsbildung gibt es neue Blickwinkel. Sicherlich gibt es noch weitere Experimente und Labore. Ein vertiefter Blick würde sich lohnen.

Interview: Maria Hässig

 

Buchempfehlung: «Anders. Bildung. Kirche. Eine Publikation der Arbeitsgemeinschaft Praktische Theologie Schweiz». Herausgegeben von Arnd Bünker, Christoph Gellner und Jörg Schwaratzki. St. Gallen 2022. ISBN 978-3-906018-26-3, CHF 27.–. www.spi-sg.ch

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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