Der Glaube des Juden Jesu verbindet

Die unzeitig gestellte Frage nach Jesus und seiner Messianität behindert den jüdisch/römisch-katholischen Dialog. Wie kann er gelingen und fruchtbar werden? Christian M. Rutishauser zeigt Wege auf.

Vor gut 15 Jahren leitete ich eine interreligiöse Tagung zum Profil religiöser Schulen. Was macht eine christliche Schule heute aus, was eine jüdische, was eine muslimische? Die Podiumsdiskussion dazu verlief lebhaft. Interessierte Stimmen aus dem Publikum melden sich. Auf einmal fragte eine Frau: «Herr Rabbiner, was halten sie von Jesus Christus?» Spontan reagierte Rabbiner Goldberger: «Jetzt hören sie doch endlich mit Jesus Christus auf.» Alle erstarrten, die Luft war zum Schneiden, und Goldberger war über sich selbst erschrocken. Wie konnte ihm, dem Vertreter der renommierten Noam-Schule in Zürich, eine so politisch unkorrekte Äusserung entgleiten? Ein emotional aufgeladenes Thema platzte in die Diskussion herein. Als Moderator war mir sofort klar, dass wir das Podium nicht weiterführen können. Ich lud alle ein, auf einer Metaebene zu besprechen, was vorgefallen war.

Die Agenda gemeinsam erstellen

Das Beispiel zeigt, dass Christen in ihrer Unbedarftheit zuweilen nicht verstehen können, warum Juden den, der ihnen am liebsten ist, nicht als Messias bejahen können. Es zeigt zudem, dass Jesus wie auch die Messiasfrage keine zentralen Fragen für Juden sind. Es nervt, wenn sie von christlicher Seite immer wieder darauf angesprochen werden. Im Dialog stehen andere Themen im Vordergrund: Die Auslegung der Heiligen Schrift, vor allem jene der Hebräischen Bibel, weil diese beiden Traditionen Wort Gottes ist. Es geht auch darum, wie Juden und Christen das Zueinander ihrer je eigenen Tradition sehen. Dann werden Vergleiche von patristischer Theologie und talmudischen Texten gemacht, das Synagogenjahr wird mit dem Kirchenjahr ins Gespräch gebracht, oder man beleuchtet das Verhältnis zwischen Juden und Christen in einer bestimmten Epoche. Neben den theologischen Fragen sind ethische und soziale Fragestellungen zentral, zum Beispiel was Gerechtigkeit je bedeutet und welche Impulse für die ökologische Krise von beiden Glaubensgemeinschaften ausgehen. Fragen zu Lebensanfang und Lebensende, zu Menschenbild oder zur gesellschaftlichen Bedeutung der Familie werden diskutiert. Dabei werden die Ereignisse, die die beiden Glaubensgemeinschaften begründen, vorausgesetzt, also die Herausführung der Israeliten aus Ägypten mit dem Bundesschluss am Sinai, von wo die Juden die Tora erhalten, wie auch Jesu Leben, Tod und Auferstehung, dessen Deutung im Neuen Testament als Messias die Grundlage für das Christentum darstellt. Ohne diese Voraussetzungen wäre ein Dialog nicht möglich, weil die Existenz des Andern immer schon in Frage gestellt wäre. Wer Juden zuerst auf Jesus und seine Messianität hin befragt, stellt sie in Frage, bevor überhaupt ein Gespräch begonnen hat. Genau darum hat Rabbiner Goldberger, seligen Angedenkens, so emotional reagiert.

Insofern die Messianität Jesu eine Anfrage an Juden darstellt, die eine existenzielle Antwort erfordert, kommt sie der Aufforderung nahe, sich zu Jesus zu bekennen. Sie stellt eine Form der Mission dar. Wenn Papst em. Benedikt in der Verteidigung seines Aufsatzes, mit dem er 2018 das vatikanische Dokument «Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,29)» kritisiert, schreibt, gegenüber dem Judentum kenne die Kirche keine Mission, sondern nur den Dialog, ob Jesus der Sohn Gottes, der Logos sei,1 dann darf diese Frage im Dialog der jüdischen Seite nicht aufgedrängt werden. Die Agenda über das Gespräch muss von beiden Seiten in freiem Einvernehmen festgelegt werden. Dabei wird Jesus und sein Messias-Sein kein zentrales Thema sein.

Doch wohl verstanden: Die jüdische Forschung hat sich in den letzten 200 Jahren intensiv mit Jesus und Paulus auseinandergesetzt. Sie hat wahrgenommen, dass diese beiden Juden am Anfang des Christentums stehen. Walter Homolka hat in seinem Buch «Der Jude Jesus – Eine Heimholung»2 die Stationen der jüdischen Jesusforschung nachgezeichnet. Diese untersuchte die vielfältigen Messiasverständnisse zur Zeit des Zweiten Tempels. Sie wurden der Christologie der Kirche entgegengestellt. Die Verbindungslinien der Christologie mit der jüdisch-apokalyptischen Literatur hingegen haben Forscher wie Peter Schäfer und Daniel Boyarin nachgezeichnet.3 Die jüdische Exegese hat gerade in den letzten Jahren wertvollste Beiträge auch zum Neuen Testament hervorgebracht.4

Unterscheiden lernen

Wenn die katholische Theologie heute angesichts des Judentums den Glauben an Jesus Christus formuliert, tut sie gut daran, zwei Fragestellungen zu unterscheiden, obwohl das Wort Christus ursprünglich nur die griechische Übersetzung von Messias ist: Einerseits gibt es die Christologie, die formuliert, in welchem Bezug Jesus als Messias und Sohn Gottes mit dem Gott Israels steht. Der Glaube an Jesus als den Christus muss so formuliert sein, dass der biblische, ethische Monotheismus nicht verdeckt wird, sondern vielmehr vertieft aufleuchtet. Andererseits gilt es zu verstehen, wie die ersten Jesusanhänger, oft noch Juden, Jesus als Messias geglaubt haben. Dieser Messianismus spricht darüber, wie die Welt durch Jesus gerechter und freier, heiler und erlöster wurde und zwar im Zusammenspiel von Gott, Mensch und seinem Gesalbten, Jesus. Messianismus und Christologie sind also unterschiedliche Dinge und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Entsprechend dieser Unterscheidung hat folgende Aussage zu Jesus bleibende Gültigkeit: Der Glaube an Jesus als den Messias/Christus trennt Juden und Christen; der Glaube Jesu, der jüdisch-messianisch war, aber verbindet beide.

Sich für eine gerechtere Welt einsetzen

So schlägt nicht die Christologie, sondern die Frage nach dem Messianismus heute die Brücke im jüdisch-christlichen Dialog. Wie können Juden und Christen gemeinsam sowie Seite an Seite für eine gerechtere und heilere Welt wirken und leben? Oft wird diese Frage von jüdischer Seite mit dem Konzept des Tikkun olam verbunden, der Wiederherstellung der Welt gemäss dem Willen Gottes. Messianisches Denken, zumal der Glaube an die Person eines göttlichen Gesalbten, spielt darin oft keine oder nur eine geringe Rolle. Juden betonen vielmehr die Verantwortung und das Tun jedes einzelnen Menschen. Christen sprechen bei dieser Frage oft von der Gnade Gottes und von Jesus Christus, da sie bei der Erlösung der Welt eine zentrale Rolle spielen. Wird im Dialog von Juden und Christen gemeinsam in die Zukunft und auf die Eschatologie geschaut, so sprechen die Christen von der zweiten Wiederkunft Jesu. Auf jüdischer Seite wird für die messianische Endzeit von den einen eine Messiasfigur erwartet, andere sprechen dem jüdischen Volk als Ganzes ein messianisches Verhalten zu und wieder andere erwarten das Kommen der Endzeit ohne Verkörperung in irdischen, menschlichen Personen.

Ein Zeichen der Treue Gottes

Die messianische Zeit ist eine erlöste und heilere Zeit. Nach jüdischem Verständnis gehört dazu die Zusammenführung des jüdischen Volkes aus der Diaspora im Land Israel. Gerade von national-religiösen Siedlern in der palästinensischen Westbank wird der Zionismus und die Errichtung des Staates Israel, obwohl dieser zunächst eine säkulare Erscheinung war, daher heute als messianisches Zeichen gedeutet. Evangelikale Christen und Christinnen teilen diese Ansicht. Sie glauben, dass Jesus Christus wiederkommt, wenn sich das jüdische Volk im Land Israel sammelt. Anders sieht es die katholische Seite: Der Vatikan verhandelt mit dem Staat Israel als Völkerrechtssubjekt und deutet Zionismus und die Errichtung des Staates Israel profangeschichtlich. Auch für die katholische Theologie stellt sich jedoch die Frage, wie die Rückkehr der Juden in ihr Land zu deuten ist, zumal durch Jahrhunderte hindurch ihre Zerstreuung in die Diaspora als Strafe Gottes verstanden wurde. Zu einer katholischen Landtheologie ist in den letzten Jahren einiges geschrieben worden, sich von evangelikalen oder jüdisch-messianischem Zionismus distanzierend.5 Vielmehr wird von biblischen Landverheissungen oder aber von einem Anspruch ausgegangen, dass neben Christen und Muslimen gerade Juden das Anrecht haben, im Land zu wohnen und ein Gemeinwesen aufzubauen, um so umfassend wie möglich gemäss der Tora leben zu können. In der Rückkehr der Juden ins Land wird ein Zeichen der Treue Gottes gesehen, der sich das jüdische Volk gewiss sein kann. Angesichts von eschatologischer Zeitberechnungen muss der Mensch jedoch Ungewissheit aushalten.

Christian M. Rutishauser SJ

 

1 Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Nicht Mission, sondern Dialog, HerKorr 12 (2018) 14.

2 Homolka, Walter, Der Jude Jesus. Eine Heimholung, Freiburg i. Br. 2021.

3 Schäfer, Peter, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017; Boyarin Daniel, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums, Institut Kirche und Judentum, Berlin / Dortmund 2009.

4 Das Neue Testament – jüdisch erklärt, Stuttgart 2021; Fredriksen, Paula, Paul. The Pagan’s Apostle, Yale 2017.

5 Rutishauser, Christian, Versuche zu einer katholischen Theologie des Landes Israel, in: Theologische Quartalschrift Tübingen 201/1 (2021), 72–89; D’Costa, Gavin / Shapiro, Faydra (Hg.), Catholic Approaches to the Land and State of Israel, Washington DC 2021; Cunningham, Phil / Langer, Ruth / Svartvik, Jesper (Hg.), Enabling Dialogue about Land, Mahwah NJ 2020.

 


Christian M. Rutishauser

Prof. des. Dr. Christian M. Rutishauser SJ (Jg. 1965) hat seit 2024 den Lehrstuhl für Judaistik und Theologie an der Universität Luzern inne und ist Leiter des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung an derselben Universität. Er ist Delegat für Hochschulen der Zentraleuropäischen Jesuitenprovinz und Exerzitien- und Kontemplationsleiter.