Reformierte Turbulenzen

Turbulenzen – gemäss Duden «Luftwirbel, Unruhen, wildes Durcheinander»: Mit diesem Begriff haben zwei Westschweizer Theologen die Krisensituation ihrer reformierten Kirche charakterisiert. 1 Und sie ziehen dabei kräftig die Alarmglocke: Wenn nicht sofort gehandelt wird, hat die Kirche in 15 Jahren nichts mehr zu suchen. Diese Behauptung wird mit nüchternem Blick auf die Altersstufung der höchst variabel noch an der Kirche interessierten Leute soziologisch abgestützt. Es werden Analysen vorgenommen und Vorschläge gemacht.

Die Autoren

Pierre Glardon (*1948) ist Theologe, war Pastor, ist heute Psychopädagoge, vornehmlich im kirchlichen Dienst. Eric Fuchs (*1932) war Pastor im In- und Ausland, dann Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät Genf; von ihm wurde in der SKZ ein Ausschnitt (zur Homosexualität) aus seinem Buch «Le désir et la tendresse» übersetzt.2 Beide haben durch ihren Beruf, in Vorträgen, Kursen, Seminaren, im direkten Gespräch viele Erfahrungen gesammelt, um sich berechtigt zu fühlen, ihre Sorgen nicht einfach sanft auszubreiten, sondern mit Vehemenz aufzuzeigen.

Das Hauptanliegen

Man könnte es so umschreiben: Es geht um den Wiedergewinn der reformierten Identität, denn diese sei in Lehre und Leben vor lauter Grosszügigkeit und Behutsamkeit untergegangen. Die grundlegenden Prinzipien lauten: allein Gott die Ehre – allein Christus – allein die Schrift – allein die Gnade – allein im Glauben – das allgemeine Priestertum – die reformierte (und zu reformierende) Kirche. Das tönt natürlich polemisch und war ursprünglich auch ganz klar gegen die römische Kirche gerichtet. Aber die beiden Autoren zeigen, dass man das auch durchaus mit «modernen Augen» lesen kann: Auch wenn die «Werke» nichts taugen aus eigener Anstrengung (in Synergie mit der Gnade), so muss sich die Berufung durch die Gnade eben doch auch in Werken dokumentieren … Bei wiederholter Betonung der freien Entscheidung und Freiwilligkeit des Einzelnen und bei der Weigerung, moralische Urteile zu fällen, spürt man doch irgendwie die Sehnsucht nach einer Instanz, die «lehr- und hirtenamtlich» verpflichtende Entscheidungen fällen könnte. Jedenfalls können sich die Autoren nicht mit der Meinung eines Kursteilnehmers identifizieren, wonach sich ein Reformierter dadurch auszeichne, dass er sich in Glaubensdingen von jeglichem Dogma befreit habe. Im Gegenteil: Sie fordern, dass man sich wieder auf ein gemeinsames Credo einige, denn es geht nicht nur um «Grundhaltungen», sondern auch um «Inhalte».

In diesem Zusammenhang fällt auch das klare Verdikt gegen jene, die die theologischen in religionswisssenschaftliche Fakultäten umwandeln, ohne Rückbindung an eine Kirche, ja nicht einmal an den christlichen Gott oder Jesus Christus. Auf die entsprechenden Darlegungen hat der Hauptbeschuldigte, Prof. Pierre Gisel (Lausanne), sehr heftig protestiert; er fühlt sich missverstanden und weist darauf hin, dass nicht alle theologischen Fakultäten der Westschweiz gleich ausgerichtet sein können, man müsse mehrere Richtungen berücksichtigen. In der Polemik gegen diese Tendenzen in den Universitäten gehen die Autoren mit ihrem ehemaligen Kollegen Shafique Keshavjee einig, der auf sein Ordinariat in Genf verzichtet hat, weil er diese Strömungen nicht mittragen kann.3 Eine gewisse reformierte Identität wird auch für das Leben gefordert. Hier wird eine nützliche Unterscheidung zwischen Moral und Ethik vorgelegt: Die Moral vertritt eine Anzahl von Regeln, die im Zusammenleben mit den andern Menschen ein gewisses Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten ermöglicht. Aber Regeln allein genügen nicht: Es braucht den Bezug auf Werte, die sich jedem Menschen mit absoluter Macht einsichtig machen. Die Ethik legitimiert, die Moral reguliert.

Und wir Katholiken?

Das Buch der beiden Autoren hat nicht nur Turbulenzen zum Thema, sondern hat auch Turbulenzen bei den Lesern ausgelöst, ganz heftig im Internet. Letztlich fordern die Autoren eine reformierte Spiritualität, die allein die Kirche noch retten kann; und diese Spiritualität soll in Kursen, solid theologisch grundiert und ebenso solid psychosozial ausgerichtet, vermittelt werden. Wie kann heute (!) das Alte (!) vermittelt werden? Uns Katholiken fehlen nicht die hier gesuchten Stukturen – die Frage ist, wie sie verwirklicht werden. Wir haben mehrere «Credos»: Was verstehen die einzelnen Gläubigen darunter? Das «Credo des Gottesvolkes», von Paul VI. einsam konzipiert, ist ja kaum überlebensfähig. Verzichten wir so strikt, wie unsere Autoren es wollen, auf homosexuelle Amtsträger in der Kirche (nicht aus Homophobie, sondern weil das Menschsein auf Andersheit angelegt ist und nicht auf Selbigkeit)? Ein Verstoss aus der eucharistischen Gemeinschaft wegen einer neuen Ehe ist für die Autoren unvorstellbar, aber sie können sich nicht einmal die orthodoxe Variante einer Zweit- oder Drittehe nach Scheidung vorstellen! Eine Kirche (und Kurien), die keine Gewaltentrennung kennt, ist nicht mehr tragbar, der Papst als absoluter Monarch ist wohl endgültig überlebt. Und was sehen wir vor für die restlichen 15 Jahre, die uns noch verbleiben?

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).