Auch Dogmen fallen nicht vom Himmel

Eine kulturwissenschaftliche Theologiegeschichte

Jan Rohls: Offenbarung, Vernunft und Religion. Ideengeschichte des Christentums, Band 1. Mohr-Siebeck-Verlag, Tübingen 2012. 1116 Seiten, Fr. 84.90. Jan Rohls: Schrift, Tradition und Bekenntnis. Ideengeschichte des Christentums, Band 2. Mohr-Siebeck-Verlag, Tübingen 2013. 1027 Seiten, Fr. 84.90. Auf zehn Bände angelegt ist die «Ideengeschichte des Christentums » von Jan Rohls. Die beiden ersten Bände sind jetzt erschienen.

– Schon die bisherigen Veröffentlichungen des Münchner evangelischen Systematikers Jan Rohls belegen sein Interesse an Theologie-, Philosophie- und Kulturgeschichte. Das monumentale Werk, das jetzt zu erscheinen begonnen hat, geht von zwei Leitgedanken aus: Zum einen lebt das Christentum von Ideen, die es in Auseinandersetzung mit fremden Ideen ausgebildet hat, wobei es die fremden Ideen entweder kritisch abweisen oder integrieren und zu eigenen Ideen umwandeln konnte. Zum andern geben nicht nur Texte unterschiedlichster Gattung Aufschluss über die Geschichte einer Idee, sondern auch Denkmäler der Vergangenheit. Denn die christlichen Ideen prägten die Gesellschaften, in denen das Christentum eine bestimmende Grösse war, sie fanden ihren Niederschlag in den unterschiedlichen Bereichen der abendländischen Kultur, in der Philosophie wie in der bildenden Kunst, Musik und Literatur.

Die Ideen hinter den Dogmen

Insofern die vorliegende Ideengeschichte nicht nur den verbindlich erklärten Lehrsätzen, den eigentlichen Dogmen, sondern den dogmatischen Ideen bis in die Gegenwart nachgeht, geht sie über die traditionelle Dogmengeschichtsschreibung hinaus. Für die Entwicklung der dogmatischen Ideen ist aber nicht nur die Entwicklung der Dogmatik von Belang, sondern die Entwicklung auch anderer Disziplinen der Theologie, so dass die Ideengeschichte auch einen Ausschnitt der Theologiegeschichte bietet. Sie berücksichtigt aber auch die Philosophie, insofern diese ihrerseits die dogmatischen Ideen beeinflusst hat. Das gleiche gilt für alle Bereiche der Kultur, insofern dogmatische Ideen auch in der Geschichte der vom Christentum geprägten Kultur begegnen. Die ersten beiden Bände des auf zehn Bände angelegten Werkes widmen sich der Geschichte jener Ideen des Christentums, die systematisch in den Prolegomena zur Dogmatik beziehungsweise in der Fundamentaltheologie verhandelt werden: Offenbarung, Vernunft und Religion; Schrift, Tradition und Bekenntnis. Die kommenden Bände werden der Geschichte der klassischen dogmatischen Ideenkomplexe gewidmet sein.

Ketzergeschichte und Apologetik

Wie Jan Rohls in der Einleitung des ersten Bandes ausführt, ist die Dogmengeschichte in der Alten Kirche Ketzergeschichte im Dienst der orthodoxen Lehre. Auf dieser Linie wurde die Dogmengeschichte von der Reformation und dem gegenreformatorischen Katholizismus in den konfessionellen Streit um die wahre Lehre einbezogen. Mit seiner «Unparteiischen Kirchen- und Ketzer-Historie» schritt dann der Pietist Gottfried Arnold von der konfessionellen Polemik und Apologetik hin zur historischen Kritik. Auf dieser gleichsam ökumenischen Linie stellt auch die vorliegende Ideengeschichte das Christentum historisch dar. Die Anfänge des Christentums und seiner Ideen betrachtet Jan Rohls im Kontext der Religionsund Philosophiegeschichte der Antike. Im ersten Band beginnt er mit der Darlegung des Offenbarungsverständnisses im Alten Orient, in Ägypten und in Israel, im zweiten mit der Thematik mündliche Tradition, Verschriftlichung und Bekenntnis im Alten Orient, in Ägypten und in Israel. Daran schliesst sich im ersten Band das Thema Mythos und Religionskritik bei den Vorsokratikern und im zweiten Band das Thema Mythos, Schrift und Auslegung in Griechenland mit einem Ausblick auf die griechischen und hellenistischen Bibliotheken an. In dieser enzyklopädischen Breite geht es durch die ganze Antike, durch das Mittelalter, die Renaissance und Reformation, das konfessionelle Zeitalter beziehungsweise die Orthodoxie und schliesslich die Aufklärung. Das 19. und das 20. Jahrhundert erhalten dann noch weit mehr Raum. Jan Rohls weiss aber, dass die Darstellung trotz dieses Umfangs keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Im Vordergrund steht zudem der europäisch-nordamerikanische Raum und, namentlich was die Neuzeit betrifft, der Protestantismus. Diese Beschränkung ist gut verständlich, lässt aber auch Wünsche etwa bezüglich der katholischen Theologie offen. So fasst Jan Rohls beispielsweise die vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorgenommene Klärung des Verhältnisses von Offenbarung, Schrift und Tradition sachkundig zusammen, die entsprechende Vorarbeit des französischen Dominikaners Yves Congar wird aber nicht zur Sprache gebracht.

Am besten sind Vorkenntnisse

Was die vorliegende Ideengeschichte jedoch insgesamt bietet, ist eine Enzyklopädie, die allerdings nicht nach alphabetisch geordneten Lemmata, sondern über die zehn Bände hin nach inhaltlichen Gesichtspunkten strukturiert und innerhalb eines Bandes geschichtlich geordnet ist. Bei der Suche hilft das Personenverzeichnis, weniger das knappe Inhaltsverzeichnis, helfen vor allem aber Vorkenntnisse. So findet man beispielsweise zur Vor- oder Nachbereitung eines Ausstellungsbesuches «Karl der Grosse und die Schweiz» im Landesmuseum Zürich den Themenkomplex «karolingische Renaissance» bereits im Inhaltsverzeichnis. Dass die künstlerische Gestaltung der karolingischen Bibeln etwas später, nämlich im Kapitel «Die Bibel in der antiken und frühmittelalterlichen Kunst» thematisiert wird, lässt sich von der Kapitelüberschrift ableiten; besser wäre aber ein interessiertes Blättern, das zu vielen überraschenden Entdeckungen führt.

Die «Reformierte Presse» und die «Schweizerische Kirchenzeitung » stellen monatlich ein Buch der besonderen Art vor.

Rolf Weibel

Rolf Weibel

Dr. Rolf Weibel war bis April 2004 Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet als Fachjournalist nachberuflich weiter