Reformation - Impluse damals und heute

Gemäss einer relativ späten Überlieferung soll Martin Luther seine 95 Thesen über den Ablass am 31. Oktober 1517 an der Türe der Schlosskirche von Wittenberg angeschlagen haben. Bei früheren Jubiläen (besonders im 19. Jahrhundert) wurde die Szene oft dramatisch ausgemalt. Man schilderte, wie die Hammerschläge die halbe Stadt erschreckten.

Heute gehen mindestens die Fachleute nüchterner mit dieser Erinnerung um. Wenn man die 95 Thesen liest, erkennt man schnell: Es handelt sich nicht um einen revolutionären Aufruf. Die meisten Leserinnen und Leser hatten damals wohl Mühe mit dem vergleichsweise schwierigen Latein. Der gelehrte Theologieprofessor wandte sich an seine Fachkollegen und nicht ans Volk. Luther, der als Mönch auch als Seelsorger wirkte, fiel auf, dass manche seiner Beichtkinder sich Illusionen machten: Sie stellten sich vor, durch den Kauf eines Ablassbriefs Einlass in den Himmel zu bekommen. Nach Luthers Auffassung – und er hatte Recht – entsprach dies aber nicht der offiziellen Kirchenlehre.

«Lehren muss man die Christen …»

Man lese einige dieser Thesen auf Deutsch: «Lehren muss man die Christen, dass es keineswegs die Meinung des Papstes ist, der Ablasskauf sei irgendwie den Werken der Barmherzigkeit gleichzustellen.» Luther dachte in diesem Augenblick also, er habe den Papst hinter sich! Über diesen sagte er: «Wenn der Papst von den Erpressungen und Schindereien der Ablassprediger wüsste, wollte er lieber, dass die St. Peterskirche in Asche verwandelt, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe errichtet würde.» Nach seiner Einschätzung würde der Papst den Gläubigen das Geld, das ihnen von gewissen Ablasspredigern aus der Tasche gelockt worden sei, gern aus seiner eigenen Kasse zurückerstatten. Es ging Luther um eine Vertiefung des Christentums: «Lehren muss man die Christen: Wer dem Armen gibt oder dem Bedürftigen leiht, tut besser, als wenn er einen Ablassbrief kauft.»

Es ist hier nicht der Ort, den historischen Ablauf in den Einzelheiten zu erzählen. Nur ganz kurz: Ohne sich dessen bewusst zu sein, trat Luther eine Lawine los. Die am Anfang wohl nur handschriftlich vorliegenden Thesen wurden von verschiedenen Verlegern nachgedruckt und wie frische Brötchen verkauft. Viele stimmten Luther zu. Diejenigen, die mit dem Ablasshandel Geld verdienten, schäumten vor Wut und verklagten ihn in Rom. Papst Leo X., ein Medici aus Florenz, ging lieber auf die Jagd, als sich mit theologischen Fragen zu befassen. Schlecht beraten, drohte er Luther mit dem Bann. Dieser, inzwischen selbstbewusster und kühner geworden, verbrannte die Bannandrohungsbulle öffentlich am 10. Dezember 1520. Das Tischtuch war zerschnitten.

Der Reformation viel zu verdanken

Macht es Sinn, diese Ereignisse noch im Jahr 2017 zu feiern? In einer Rede in Zürich im Oktober 2013 sagte Kardinal Kurt Koch – und ich stimme ihm ein Stück weit zu – wir müssten bedenken, dass es nach der Reformation zur Kirchenspaltung und im 16. und 17. Jahrhundert zu blutigen Konfessionskriegen kam. Und ferner sei zu bedenken, dass sich die Reformation Martin Luthers zwar von der in politische Wirren verwickelten Herrschaft des Papsttums befreit habe. Alsbald sei sie aber in eine ähnliche Abhängigkeit von den Fürsten geraten. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz hätten darüber hinaus auch protestantische Obrigkeiten theologisch nicht genehme Meinungen (z. B. der Täufer) gewaltsam unterdrückt. Und immer noch Kurt Koch: Die Behauptung dürfe einem nicht mehr so leicht auf die Lippen kommen, mit der Reformation sei die «Kirche der Freiheit» geboren worden. Wir hätten – so der Kardinal – im Gegenteil, und zwar «auf beiden Seiten», allen Grund, Klage zu erheben und Busse zu tun für die Missverständnisse, Böswilligkeiten und Verletzungen, die wir uns in den vergangenen 500 Jahren zugefügt hätten.

Reformation war Katalysator

Als evangelisch-reformierter Theologe möchte ich Kurt Koch nicht völlig widersprechen. Und doch meine ich, dass er zusätzlich hätte sagen können, dass die heutige römisch-katholische Kirche der Reformation vieles zu verdanken hat (was katholische Fachleute – bei anderen Anlässen auch Kardinal Kurt Koch – schon mehrfach ebenfalls betonten): Ohne die Reformation wäre das Reformkonzil von Trient nicht einberufen worden, das zum Beispiel die Priesterausbildung in der katholischen Kirche völlig neu und seriöser konzipierte. Als Antwort auf die Reformation entstanden die Reformorden der Kapuziner und Jesuiten und andere (etwa die Englischen Fräulein Mary Wards), die aus der modernen römisch-katholischen Kirche nicht mehr wegzudenken sind. Mary Ward war eine Pionierin der Frauenbildung. Und so weiter.

Grundbotschaft: Rechtfertigung aus Glauben

Wenn auch sachlich und nicht im Posaunenton, sind Feiern zum 500-Jahr-Reformationsjubiläum sinnvoll. Gerade die Grundbotschaft Martin Luthers von der «Rechtfertigung allein aus Glauben» ist nicht umsonst auch von der heutigen römisch-katholischen Theologie aufgenommen worden. Ein schöner Beweis ist die gemeinsame Erklärung über die Rechtfertigungslehre, die am 31. Oktober 1999 in Augsburg von Vertretern des Vatikans und des lutherischen Weltbunds unterzeichnet wurde.

Als Delegierter des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds durfte ich dabei sein. Ich könnte viel erzählen – vom Festakt im goldenen Saal des Rathauses, von der abendlichen Vesper in der Kirche St. Ulrich und St. Afra, von den Gottesdiensten am Sonntagmorgen zuerst im katholischen Dom und dann in der evangelischen Kirche St. Anna. Herrliche Kirchenmusik, eindrückliche Reden, gemeinsame Gebete, eine Prozession durch die Stadt, bei der die Bevölkerung Spalier stand. Die Anteilnahme der Augsburgerinnen und Augsburger war so gross, dass die feierliche Unterzeichnung in ein Zelt übertragen werden musste, wo 2000 Menschen das Geschehen bewegt verfolgten. Spontaner Applaus brach aus, als Kardinal Cassidy und Bischof Kasper aus Rom (später wurde auch er Kardinal) und die verschiedenen lutherischen Repräsentanten aus der ganzen Welt – nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Afrika, Asien und Lateinamerika – das Dokument unterschrieben.

Die Gnade im Glauben

«Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.» Das ist die entscheidende Schlüsselformulierung, an der theologische Experten beider Kirchen während Jahren gefeilt hatten.

Wichtig ist, dass die gemeinsame offizielle Feststellung zur gemeinsamen Erklärung die «volle Kirchengemeinschaft» der verschiedenen Konfessionskirchen als «Einheit in Verschiedenheit» definiert, in der verbleibende Unterschiede miteinander «versöhnt» würden und «keine trennende Kraft» mehr hätten. Das heisst, Ökumene bedeutet nach diesem zukunftsweisenden Papier nicht einen religiösen Einheitsbrei, sondern «versöhnte Verschiedenheit», eine sehr schöne Wendung.

Weitere Schritte müssen folgen

Die einzelnen Kirchen dürfen ihren Traditionen treu bleiben. Sie müssen sich ihrer eigenen Vorfahren nicht schämen und können dennoch aufeinander zu und miteinander weitergehen. Wie der katholische Theologe Heinrich Fries es schon vor Jahren formulierte: «Das Anderssein des andern wird nicht als Fremdheit und Feindseligkeit erfahren, sondern als Gewinn: Es ist gut, dass du da bist; durch dich wird mein Eigenes reicher; ich wäre ärmer ohne dich.»

Papst Johannes Paul II. bezeichnete noch am gleichen 31. Oktober 1999 in einer Rede in Rom die gemeinsame Erklärung über die Rechtfertigungslehre als einen Meilenstein im ökumenischen Dialog. Meilenstein bedeutet: Wir sind noch nicht am Ziel, sondern immer noch unterwegs – aber wir sind weitergekommen. Heute vor dreissig Jahren wäre das Ereignis völlig undenkbar gewesen. Ein Vertreter des Luthertums brauchte das Wort «Doppelpunkt». Das heisst, weitere Schritte müssen und werden folgen. Viele haben den sehnlichen Wunsch nach eucharistischer Gastfreundschaft, die nach der offiziellen Lehre der katholischen Kirche bis heute nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen erlaubt ist. Dabei ist das Abendmahl auch für Protestanten heute deutlich wichtiger als in früheren Generationen.

Man hört heute gelegentlich Stimmen, die sagen, die Rechtfertigungslehre sei doch eh veraltet. Niemand frage danach. Heute brauche es soziales Engagement und nicht die Predigt von der Gnade. Gerade das Reformationsjubiläum gibt aber Anlass dazu, dieser Sicht zu widersprechen. Ich wiederhole die Schlüsselstelle der Augsburger Erklärung: «Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.» Persönlich bin ich der Auffassung, dass im Gegensatz zu vielen Unkenrufen diese Botschaft gerade in der heutigen Zeit besonders aktuell ist.

Denn das scheint jedenfalls mir eines der grössten Probleme unserer Zeit zu sein: Viele, wenn nicht je auf ihre Art sogar alle, stehen unter einem enormen Leistungsdruck, was damit zusammenhängt, dass unsere Stellung und unser Ansehen in der Gesellschaft in erster Linie durch das, was wir tun, bestimmt wird.

Als langjährigem Universitätsseelsorger kommt mir zuerst ein Student in den Sinn, der während einiger Zeit in unserer Hausgemeinschaft lebte. Da er eine sehr sympathische Erscheinung war, hatte er, kaum war er als Erstsemestriger nach St. Gallen gekommen, einen grossen Freundeskreis. Er war allgemein beliebt. Doch dann schaffte er das erste Vordiplom nicht. Und auf einmal war er recht allein. Kolleginnen und Kollegen, die vorher oft geklingelt hatten, gingen nun am Haus vorbei. Sie wollten nicht mit einem offenbar Erfolglosen verkehren. Gerade an einer Universität kommt es sehr darauf an, ob jemand auch akademisch mitkommt.

Leistung allein ist keine Lösung

Ähnlich verhält es sich in der Berufswelt. Je anspruchsvoller die Tätigkeit ist, die jemand ausübt, desto mehr zählt die Leistung. Aus Amerika, das uns in solchen Dingen ja immer etwas «voraus» ist, wird erzählt: Manche in der Wirtschaft Tätige wagen es nicht, die ihnen zustehenden Urlaubstage einzuziehen. Denn schon mehrfach soll es vorgekommen sein: Da ging jemand für acht oder vierzehn Tage weg. Als er wieder am Arbeitsplatz erschien, war der Schreibtisch ausgeräumt. Ein anderer sass da. «Hire and fire», «anstellen und entlassen»! Wenn ich es recht beobachte, nimmt diese Tendenz im Zeichen der Globalisierung auch im gemütlicheren Europa zu. Vor allem ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf allen Stufen leiden unter dieser Situation. Seelsorger, Psychologen und Psychiater wissen ein Lied davon zu singen.

Ich will das jetzt nicht weiter ausmalen. Ich denke: Gerade auf diesem Hintergrund ist das nun wirklich eine gute und frohe Botschaft: Der Gott des christlichen Glaubens ist ein gnädiger Gott. Er liebt uns an und für sich und nicht wegen einer erbrachten Leistung. Er liebt die Person und nicht das Werk. Er liebt bereits den Säugling, der noch mit Haut und Haar auf Pflege und Hilfe angewiesen ist. Er liebt aber auch die Alzheimerpatientin im Pflegeheim, die ihre eigenen Kinder nicht mehr kennt. Er liebt natürlich auch den erfolgreichen Nobelpreisträger, aber ebenso Arbeitslose und Behinderte und Prüfungsversager. Das Wort Gerechtigkeit – das war die grosse Entdeckung des jungen Theologieprofessors Martin Luther vor allem am Römerbrief –, das Wort Gerechtigkeit hat in der Bibel eine andere Bedeutung als in der griechisch-römischen Tradition. In der Nachfolge des Philosophen Aristoteles nannten Griechen und Römer einen Richter gerecht, der nüchtern und distanziert – frei von jeder Emotionalität – jedem präzis das Seine zuteilt: Die Guten werden belohnt und die Bösen mitleidlos bestraft. In der Bibel hat ein gerechter Richter andere Eigenschaften: Er lässt sich selbst berühren und setzt sich für die schwächere Partei ein. Er steht nicht neutral gewissermassen auf einem höheren Podest. Sondern er geht besonders auf den Chancenlosen zu und ermöglicht ihm einen neuen Anfang.

Es wäre in diesem Zusammenhang noch viel zu sagen – vor allem über die praktischen Folgen der Rechtfertigungslehre «allein aus Gnade». Wer sich selbst die Botschaft von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes sagen und sich damit aufrichten und motivieren lässt, wird hoffentlich selbst gnädig und barmherzig. Die guten Werke sind nicht eine Vorbedingung, sondern eine Frucht der Gnade. Ich kann nicht mir selbst Barmherzigkeit widerfahren lassen und dann unbarmherzig sein. Das müsste man in vielen Lebensbezügen überdenken.

Die Kirchen müssen beweglich bleiben

Aus Anlass des Reformationsjubiläums noch ein anderer Aspekt: So sehr eine Besinnung über die für Martin Luther so wichtige Rechtfertigungslehre aktuell und hilfreich sein kann, so wenig genügt es, an einem Gedenkanlass nur rückwärts zu blicken. Weder dürfen Protestanten sich bequem zurücklehnen in Erinnerung an die Reformation, noch Katholiken, indem sie sich auf das Konzil von Trient berufen oder auch auf ein neueres Konzil.

Die christlichen Kirchen müssen beweglich bleiben und sich immer wieder erneuern bzw. reformieren lassen. «Ecclesia reformata semper reformanda.» (Die reformierte Kirche muss immer neu reformiert werden.)

Diese Forderung wurde von den evangelisch-reformierten Christen Frankreichs schon im 16. Jahrhundert erhoben. Reformation ist nicht ein einmaliges Geschehen, das in einer Reformationsgedenkfeier bejubelt werden könnte. Jede Kirche – auch die evangelisch-reformierte – steht in der Gefahr, zu erstarren und zu versteinern, wenn sie sich nicht immer neu am Evangelium prüft und für weitere Erneuerungen offen und bereit ist. Immer dort geraten die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen in eine Sackgasse, wo sie meinen, sich auf den Lorbeeren einer einmal durchgeführten Reformation ausruhen zu können. Als Protestant wage ich zu schreiben, dass dies wohl auch von der römisch-katholischen Kirche gilt. Heute ist in ökumenischer Hinsicht ein Zweibahnverkehr angezeigt. Vor Jahren drückte sich der evangelische Theologe Oscar Cullmann folgendermassen aus: «Meine vielen Begegnungen mit Christen anderer Konfessionen und meine Erfahrungen in ihren Gottesdiensten, denen ich beigewohnt habe, haben mir immer wieder bestätigt und mich in der tiefen Überzeugung bestärkt, dass in jeder christlichen Konfession die eine Kirche Christi in besonderer Gestalt als Leib Christi gegenwärtig ist.»

Der in diesem Artikel schon einmal zitierte katholische Theologe Heinrich Fries stimmt mit Oscar Cullmann überein. In seinem (zusammen mit Karl Rahner geschriebenen) Buch «Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit» schrieb er bereis 1983 (aus Anlass von Martin Luthers 500. Geburtstag): «Die Antwort (auf die heutige Herausforderung der christlichen Kirchen) kann wirksam nicht eine Konfession allein geben. Hier sind die gemeinsame Erfahrung und Geschichte der Kirchen in Anspruch zu nehmen, die gemeinsam mehr zu erbringen vermögen als eine Teilkirche allein. Die Verschiedenheit von Geschichte und Erfahrung in den Teilkirchen kann auch ein Gewinn sein.» Dem ist nichts hinzufügen.

 

Frank Jehle

Frank Jehle

Dr. theol. Frank Jehle lebt als Universitätspfarrer und Dozent für evangelische Theologie im Ruhestand in St. Gallen.