Reflexionen zum Reformationsjubiläum

Reformation hat eigentlich keinen Anfang und kein Ende. Sie ist ein zeitlich und sachlich sehr unterschiedlicher Vorgang, der die Geschichte der Kirche bewegt. Christliche Kirche ist ständig reformbedürftig, ecclesia semper reformanda. Unter dieser Voraussetzung stellt sich die Frage, was denn als «Jubiläum» gefeiert werden soll?

Ein Reformationsjubiläum zu feiern, scheint eine Gelegenheit für die Weiterexistenz der Kirchen zu sein, sei es durch ihre Medienpräsenz, durch Veranstaltungen oder verschiedenartige Projekte, durch eine Grossdemonstration auf dem Bundeshausplatz, in Pressemitteilungen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes(SEK) oder in gemeinsamen Synoden.1 Nicht zuletzt wird dadurch eine Glaubensvertiefung und eine kirchlich gesteuerte Selbstbesinnung erwartet. Man spürt bei den Kirchenverantwortlichen und Amtsinhabern/-innen freudige Erregung und inneres Bewegtsein von diesem Ereignis: 500 Jahre Reformation.

Was soll konkret gefeiert werden?

Ein Jubiläum setzt nach allgemeinem Verständnis ein bestimmtes, datierbares Ereignis voraus: Etwa die Gründung unseres Bundesstaates durch die Annahme seiner ersten Verfassung, der 8. Mai 1945 als offizielles Ende des unseligen 2. Weltkriegs oder das Gründungsdatum eines Vereins, eines Geburtstags oder die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels usw. Echte, nachhaltige Reformen, sei es auf kirchlichem oder kulturpolitischen Gebiet, setzen Vorbereitungen voraus: Im 16. Jahrhundert bekam die längsterfolgte Auseinandersetzung um die Frage, ob die Autorität der biblischen Schriften dem kirchlichen Lehramt über- oder untergeordnet sei, neue Aktualität. Oder die schon vor 1500 ansetzende Kritik der Humanisten gegen traditionelle, kirchliche Zeremonien und Vorschriften (Ablass, Fasten, Fegefeuer usw.).

Tiefgreifende und nachhaltige Reformen beginnen stets mit Fragen an Traditionen (In-Frage- Stellungen), nicht mit sofortiger Kritik oder sogar Revolution. Theologie ist ihrem an der Bibel orientierten Wesen gemäss immer zuerst und stets eine Wissenschaft des unermüdlichen Fragens und nicht eine auf Positionen, Behauptungen und Rechtgläubigkeit ausgerichtete Materie. Darin unterscheiden sich Theologie und christlicher Glaube vom Fundamentalismus.

Wer sich in der Geschichte etwas auskennt, denkt bei dem nun anstehenden Reformationsjubiläum vielleicht an Luthers Thesen gegen den Ablass im Oktober 1517. Dieses Ereignis war für die eidgenössischen Orte zu Beginn des 16. Jahrhunderts keineswegs nennenswert.

Ablassprediger schon um 1500 unerwünscht

Ablassprediger waren schon um 1500 im Bistum Konstanz, zu dem die meisten eidgenössischen Orte gehörten, unerwünscht. Das erste Reformationsjubiläum in Zürich 1619 ignoriert dieses Datum und feiert wohl den Beginn der Predigttätigkeit des damaligen Chorherrn und Leutpriesters Zwingli am Grossmünster. Auch der «Sieg» der evangelisch-reformierten «Partei» an den Disputationen 1523 in Zürich ist zwar orientiert an Zwinglis Theologieprogramm der 67 Schlussreden, wurde aber schliesslich von der weltlichen Obrigkeit des Rates mehrheitlich beschlossen. Zu berücksichtigen ist ferner die Tatsache, dass Kirchenreformen an allen eidgenössischen Orten, in denen eine Reformation kirchlichen Brauchtums sich durchsetzen konnte (Zürich, Basel, Bern, St. Gallen-Stadt, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden nach der Landteilung 1597), zeitlich sehr unterschiedlich stattfanden und es kaum möglich ist, konkrete Daten übereinstimmend zu nennen. Einheitlich ist lediglich die Feststellung, dass in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts keiner der Reformatoren nur im Entferntesten an eine Kirchenspaltung dachte. Vielmehr erwartete man damals ein vom Kaiser (nicht vom Papst!) angeordnetes Konzil, in dem die Glaubensfragen aus verschiedenen Perspektiven offen diskutiert und beschlossen würden.

Andere jubiläumswürdige Ereignisse

Wenn Zürich ein Reformationsjubiläum feiern will, wäre dafür Ostern 1525, die Einführung der neuen Abendmahlsordnung Zwinglis, wohl das sinnvollste Ereignis. Man muss dazu allerdings sofort feststellen, dass Zwingli noch 1523 als Priester sehr eingehend an einer Reform der traditionellen Messe, besonders ihrem innersten Kanon der Eucharistie, arbeitete2 und dass seine originelle Abendmahlsliturgie 1525 im Wesentlichen aus Elementen der Messliturgie bestand und vom Zürcher Rat nur mit knapper Mehrheit und allerlei Änderungen durchgesetzt wurde.

Gibt es wohl noch andere Daten des 16. Jahrhunderts, welche innerhalb dieser Reformbewegung jubiläumswürdig wären? Etwa die Aufhebung der teilweise noch blühenden Klöster in Stadt und Landschaft Zürich? Oder irgend ein, allerdings erst zu Bullingers Amtszeit eingeführtes Helvetisches Bekenntnis? Oder irgendeine, der römischen Amtskirche widersprechende Lehrmeinung?

Einige weitere Bedenken gegen die in vollen Zügen laufenden Vorbereitungen reformierter Jubiläums-Veranstaltungen stimmen nachdenklich, da diese ja nicht nur eine zürcherische Angelegenheit sind. Die frühesten Kirchenordnungen zum Beispiel liegen zeitlich weit auseinander: Zürich 1525, St. Gallen 1659! Die Genfer Reformen ereigneten sich erst ab ca. 1540. Wann soll also «Reformation» gefeiert werden? Wo und wie? 1619, 1719 und noch 1819 hatte sich Zürich jeweils am Neujahrstag der Reformation erinnert.

Ein besonderer Reformationssonntag, wie er teilweise heute noch gefeiert wird, war noch nicht in Sicht. Erst 1828 bekam diese Idee, wohl auf dem Hintergrund des damaligen Kulturkampfes, Zustimmung in der Zürcher Kirchensynode. 1841 wurde dieser Gedächtnistag erstmals am 1. Sonntag im November eingeführt. Man sucht auch nach theologisch einheitlichen Schwerpunkten eines Reformationsgedenkens: Etwa die «Abthuung» der Messe: Zwingli hat, wie schon angedeutet, die Messe als Gottesdienstform nicht abschaffen, sondern reformieren wollen, und zwar durchaus neben dem allsonntäglichen Predigtgottesdienst mit der fortlaufenden Auslegung ganzer biblischer Bücher, heute erfahrungsgemäss wieder eine sehr aktuelle, verheissungsvolle Option!

Schriftprinzip früh vertreten

Das sogenannte «Schriftprinzip» (sola scriptura), dass alles am biblischen Text orientiert sein soll, haben schon im 14. und 15. Jahrhundert namhafte Theologen in Auseinandersetzung mit der Amtskirche vertreten, nicht nur Waldenser, Albigenser und Hussiten. Auch die Laienpredigt war im Spätmittelalter zuweilen sogar mit päpstlichem Segen zugelassen. Die Reformation zeigt mancherlei Weiterführungen angestammter Tradition der Mutterkirche, z. B. im Beibehalten der einst auf einen Heiligen geweihten Kirchen (St. Peter, St. Jakob in Zürich; St. Leonhard, St. Laurenzen in St. Gallen, St. Alban in Basel usw.).

In den reformatorisch angelegten Taufregistern tauchen meistens dieselben Namen von Heiligen auf, wie schon im Spätmittelalter. Im Gegensatz zu Zürich blieben in anderen eidgenössischen, der Reformation zugewandten Orten St. Gallen Stadt, Fürstenland, Thurtal oder in Appenzell die meisten Klöster bestehen.

Im rückblickenden Gedenken an kirchliche Reformbemühungen des 16. Jahrhunderts (nicht als Jubiläum, sondern als Aufarbeitungsprozess, wie z. B. in Zürich!), dürfen die leidigen Streitigkeiten und manche Fehlentscheide nicht verschwiegen werden, die durch teilweise sehr unreligiöse Machtentscheide von Obrigkeiten, einzelnen Zünften oder vom pöbelnden Volk erfolgt sind. Die dabei zerstörten alten Schriften und Kunstwerke in Form von Bildern, Statuen und Altarzeremonien nehmen ein beschämendes Ausmass an. Da gibt es wahrhaft nichts zu feiern!

Reformation als Dauerprozess

Echte Reformation hat keinen Anfang und kein Ende; sie ist ein Dauerprozess der Kirchen, der nicht gefeiert, sondern stets kritisch bedacht sein muss. Dies soll und wird in der universitären Aus- und Weiterbildung der Amtsträgerschaft, in der permanenten Forschung, z. B. im Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, in der Didaktik der praktischen Seelsorge, in der Sorgfalt der Vorbereitung von Predigt- und Abendmahlsgottesdiensten und im Bildungswesen geschehen.

Es gibt Bereiche in der Führung und im praktischen Wirken der Kirchen, welche in zunehmender Verantwortung angesichts unserer politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation zu aktivieren sind. Man kann dies mit dem Sammelbegriff des Wächteramtes bezeichnen: Hier haben unsere Kirchen noch mutigere Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Es gehörte von Anfang an, schon in der Prophetie des Alten Testamentes, bei Jesus und in den kritischen Zeitepochen der Kirchengeschichte zum Wesen der Kirche, dass sie politisch, d. h. für die Belange der «polis», der Öffentlichkeit, Verantwortung trägt und Zivilcourage lebt.

Eine Kirche, die sich nur noch um ihre eigene Existenz dreht und in Bürokratie und ständigen Strukturreformen versinkt, hat keine Zukunft. Ich frage mich, wie die nicht evangelisch-reformierten Kirchen das geplante, meines Erachtens unnötige Reformationsjubiläum aufnehmen? Wie reagiert unsere eigene Mutterkirche, die römisch-katholische, auf solche Massnahmen? Wird sie irgendwie positiv eingebunden? Wie soll man Reformationsjubiläum feiern, ohne die katholische Kirche und andere sich auf Jesus Christus beziehende Gemeinden ausklammern? Was als Reformationsjubiläum «gefeiert» wird, kostet in den einzelnen Kantonalkirchen zusammengerechnet einige Millionen Franken. Angesichts der vielseitigen Nöte auf unserem Planeten und der tapferen, unentwegten Arbeit unserer evangelisch-reformierten Hilfswerke wären diese Summen eine sinnvolle, aufbauende Gelegenheit, Reformation im biblisch-evangelischen Geist würdig und im Sinne einstiger Reformatoren zu verwenden.

 

1 Die evangelisch-reformierten Landeskirchen der deutschsprachigen Schweiz haben in den letzten Jahrzehnten verschiedene politische Vorstösse in Richtung einer Trennung von Kirche und Staat überstanden und einen Prozess von Entflechtungsmassnahmen erlebt. Finanzielle Engpässe und eine zunehmende Zahl von Kirchenaustritten führen zu Fusionen von einzelnen, bisher selbständigen Kirchgemeinden: Ein Vorgang, den wir mitsamt seinen jeweiligen Folgen von weltlich-wirtschaftlichen Betrieben, Unternehmungen und Institutionen her kennen. Dass die Kirchen sich diesem Trend anschliessen und was für Auswirkungen dies haben wird, steht hier nicht zur Diskussion.

2 In seiner Schrift: De canone missae epichiresis.

Alfred Ehrensperger

Dr. Alfred Ehrensperger ist Liturgie-und Musikwissenschaftler, Dozent im Ruhestand.