Reformation aus katholischen Quellen (I)

Im Kontext des Reformationsgedenkens eröffnet das Forschungswerk des Liturgiehistorikers Alfred Ehrensperger in herausragender Weise zahlreiche Zugänge zu den Ursprüngen und unterschiedlichen Bewegungen, die zur Reformationszeit führten und diese prägten. Alois Odermatt widmet Ehrenspergers Werk eingehende Reflexionen in zwei Teilen.

Theologische Kritik führte im 20. Jahrhundert zur liturgischen Bewegung und vor fünfzig Jahren zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Theologische Kritik war es auch, die vor 500 Jahren manche Christenmenschen dazu bewegte, ihre Anliegen in liturgischen Reformen zum Ausdruck zu bringen. Ab 2017 jähren sich solche Ereignisse zum fünfhundertsten Mal. Da stellen sich Fragen zu ihrer Deutung. Waren es Brüche? Gab es Kontinuitäten?

Dazu breitet Alfred Ehrensperger1 üppiges Anschauungsmaterial aus: die mehrbändige Geschichte des Gottesdienstes in den reformierten deutschsprachigen Orten der Eidgenossenschaft vom 13. Jahrhundert bis etwa 1700. Sein Fazit: Das Reformatorische ist aus spätmittelalterlichen Wurzeln herausgewachsen, gleichsam aus einer «Vorreformation»; es hätte nicht zur Aufspaltung in Konfessionen führen müssen. Dieser Blickwinkel widerspricht dem eingefleischten Verständnis. «Die Forschung, welche sich mit dem von der Reformation bis zur Aufklärung reichenden Abschnitt befasst, stand bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vorwiegend im Zeichen des konfessionellen Gegensatzes.»2 So sprach Bernhard Fleischlin 1907 von Ulrich Zwinglis «Zerstörung des katholischen Kultus»3 und Theodor Schwegler schilderte ihn 1943 als jenen Mann, «der in der Schweiz erstmals die der Kirche entfremdeten Kräfte zusammenballte zum Kampf gegen Rom»4. «Auf Gründonnerstag 1525 wurde im ganzen Gebiet von Zürich die hl. Messe abgeschafft.»5 In der Schrift über «die wahre und falsche Religion», veröffentlicht im gleichen Jahr, habe er seinen Glauben entwickelt. Ausgangspunkt sei ein Gottesbegriff gewesen, «der ganz an Pantheismus und Fatalismus grenzt»; Gott sei «das Sein aller Dinge»6. Schwegler sah also Zwinglis Denkansatz in einer verqueren Weise, die Gottesfrage zu stellen.

Neubewertung des Spätmittelalters

Demgegenüber betont der katholische Kirchenhistoriker Albert Gasser, die Reformation sei «ebenso sehr als Weiterführung von Ansätzen» zu sehen. Er erwähnt die Bibel- und Laienspiritualität. «Die Reformation profitierte von der religiösen Hochkonjunktur des Spätmittelalters.»7 Diese Sicht stellt Ehrenspergers Berichte in einen anderen Zusammenhang. Er sei vorweg angedeutet.

Der katholische Kirchenhistoriker Arnold Angenendt zeichnet in seinen Studien zur mittelalterlichen Religiosität8 und speziell zur mittelalterlichen Messfeier9 nach, wie das «geistig-geistliche Opfer» der altchristlichen Eucharistie im Mittelalter zum «Messopfer» mit «materieller Komponente» umgedeutet wurde, im 15. Jahrhundert in die Spannung «zwischen Anzahl und Andacht»10 geriet und in Aberglauben ausartete: «Die Messfeier betrachtete man als wahrhafte Opferung von Fleisch und Blut Jesu Christi und glaubte deswegen, die Erhörung der dabei gestellten Bitten für sicher nehmen zu dürfen. Tatsächlich entstanden Messopfer-Formulare, die man zur Erfüllung aller nur denkbaren Bitten benutzen konnte.»11 Um die Messopferfrüchte zu gewinnen, genügte es, nach der «Wandlung» die erhobene Hostie «zu sehen» (Elevationsfrömmigkeit). Die Reformatoren konnten hierzu «nur Protest und Abscheu äussern»12. Das zeigt sich allenthalben bei Ehrensperger.

Arnold Angenendt schildert zugleich «das allgemeine Verlangen nach Reform in der Kirche»13. Es äusserte sich in Volksfrömmigkeit und Frömmigkeitstheologie, in Ordensreformen, im überraschenden Erfolg der Devotio moderna.14 Die Erneuerungsbemühungen prallten an der «Reformunfähigkeit der kirchlichen Amtsträger» ab, glückten hingegen «seitens der Landesherren und der Städte».15 So auch in eidgenössischen Orten. Hier waren die Bischöfe faktisch abwesend; die städtischen Räte übernahmen bischöfliche Aufgaben im Kirchenwesen.

Eine entscheidende «katholische Quelle» der Reformation zeigt der evangelische Kirchenhistoriker Volker Leppin in seiner Schrift über «Luthers mystische Wurzeln» auf16: Die Lehre über die Rechtfertigung allein aus Gnade und Glauben und über das Priestertum aller Gläubigen sprudelte bereits aus den Schriften des Mystikers Johannes Tauler (1300–1361), der zu den populärsten geistlichen Autoren des späten Mittelalters zählte und auch Gedanken des verfemten Meisters Eckhart (1260–1328) vermittelte17. Und: «Seit 1466 waren achtzehn Vollbibeln mit unterschiedlicher dialektaler Gestaltung im Druck erschienen. Die Bibel war gewiss kein unbekanntes Buch.»18

Reformationsgeschichte aus liturgiehistorischer Sicht

Auch der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann betont in seiner Darstellung der Reformationsgeschichte und ihrer europäischen Zusammenhänge, dass die Situation um 1500 offen war und «keineswegs mit Notwendigkeit» auf eine Reformation zulief.19 Er beschreibt die «Vielgestaltigkeit der Religionskultur um 1500» und das «offene System Kirche».20 Zu dieser Offenheit «gehörte eben hinzu, dass die Kritik an einzelnen Personen oder Erscheinungen des Kirchenwesens keineswegs eine Infragestellung des Ganzen bedeutete».21 Das spätmittelalterliche Spektrum an Positionen und Protesten umfasste selbstverständlich landesherrliches Kirchenregiment und Papstkritik; eine Kirche ohne Papst war denkbar. Die Berichte von Alfred Ehrensperger veranschaulichen diesen Wandel der Religionskultur (vgl. Kasten).

Über die ersten drei Bände hat der katholische Liturgiewissenschaftler Thomas Fries eine auslotende Rezension veröffentlicht.22 Ehrensperger untersuche, so betont er, «in grosser Ausführlichkeit, sorgsam und gründlich unter Berücksichtigung der umfangreichen und in ihrer Fülle kaum wiederzugebenden Sekundärliteratur die Reformationsbewegungen und die damit verbundenen Vorgänge aus der Perspektive des gottesdienstlichen Lebens unterschiedlicher Orte und Gebiete der Eidgenossenschaft anhand von Quellenmaterial unterschiedlichster Art und Urheberschaft, um möglichst umfassend die zeitgeschichtlichen Umstände einzufangen». Diese Reihe trage dazu bei, Reformationsgeschichte auf Grundlage der Quellen «konfessionsübergreifend und aus liturgiehistorischer Sicht darzustellen».

Reichhaltiges Quellenmaterial

Den Kontinuitäten zwischen Vorreformation und Reformation kann deshalb nachgespürt werden, weil der Verfasser jeden Band mit Hinweisen zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ab etwa 1250/1300 eröffnet. Hilfreich sind Auskünfte über Stifte, Klöster und Gemeinschaften. Ein Beispiel: «Gegen Ende des 14. Jahrhunderts zählte man in Basel etwa 350 bis 400 Beginen gegenüber nur etwa 100 Nonnen. Etwa jede zehnte Frau in Basel war Nonne oder Begine.»23 In einem zweiten Schritt kommen jeweils erste reformerische Impulse zur Sprache. Wir erfahren Näheres über Wegbereiter und ihre Vorstösse, über Kontroversen und Streitereien, über die Hoffnungen des «gemeinen Mannes».

Der Schwerpunkt liegt auf den reformerischen Ereignissen und ihrer Spiegelung in der Liturgie. Dabei stechen die Auseinandersetzungen zur «Abschaffung der Messe» und zur Neuordnung des Gottesdienstes hervor. Ausführlich werden die Quellen zur weiteren Entwicklung der Liturgie vorgestellt, im Basler Band auf über 70 Seiten. Packend die Ausführungen über die Neugestaltung einzelner Elemente, etwa Taufe und Abendmahl, Unterweisung und Predigt, Gebet und Kirchengesang. Der St. Galler Band stellt eine bisher unbekannte Kirchenordnung vor.24 Für den Berner Band hat der Hymnologe Andreas Marti einen Anhang über die Geschichte der Berner Gesangbücher beigesteuert.25 Der Band über das Appenzeller- und Sarganserland überrascht mit Informationen zur Volksfrömmigkeit26 und mit einem Patrozinienregister für das Sarganserland.27 «In diesem Gebiet konnte sich die Reformation nirgends durchsetzen, so dass sich im Volksbewusstsein nach dem Tod Zwinglis (1531) die hohe Bedeutung der Patrozinien erst recht entfalten konnte.»28

Der Verfasser eröffnet die Reihe mit Basel und spart Zürich mit Ulrich Zwingli (1484–1431) und Heinrich Bullinger (1504–1575) für den 5. und 6. Band auf. Damit setzt er einen interessanten Akzent. In Basel, das 1501 dem Bund der Eidgenossen beitrat, gab es zwar keinen «markanten, von Anfang an führenden Reformator, der kirchenpolitisch und theologisch prägend und führend war»29. Aber hier wirkten die Erinnerungen an die Bestrebungen des Basler Konzils (1431–1449) nach. Hier entstand 1460 eine Universität, gleichsam im Nachhall des Konzils. Hier etablierte sich früh der Buchdruck. Basel wurde zum Eingangstor des Humanismus, der die reformerischen Bewegungen entscheidend prägte. Hier wirkte Erasmus von Rotterdam (1466– 1536), «der grösste Gelehrte seiner Zeit, (…) durch die Umstände seiner Epoche in eine tragische Zwiespältigkeit gerissen»30. Eines seiner folgenreichsten Projekte war die griechisch-lateinische Ausgabe des Neuen Testaments im Jahr 1516. Hier wirkte Johannes Oekolampad, «eine der Schlüsselfiguren der oberdeutschen humanistischen Sodalitäten; später (…) der Reformator Basels und, neben Zwingli, der führende Theologe der deutsch-schweizerischen Reformation»31.

 

1 Alfred Ehrensperger, Dr. theol., *1933, Liturgie-und Musikwissenschaftler. 41 Jahre reformierter Gemeindepfarrer, zuletzt 21 Jahre an der Stadtkirche Winterthur. Wohnhaft in Niederuzwil SG.

2 Lukas Vischer, Lukas Schenker, Rudolf Dellsperger (Hg.): Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz. Freiburg und Basel. 21998, 329.

3 Bernhard Fleischlin: Schweizerische Reformationsgeschichte. Stans 1907. Zitat Inhaltsverzeichnis 915–932.

4 Theodor Schwegler: Geschichte der katholischen Kirche der Schweiz von den Anfängen bis auf die Gegenwart. Stans 21943, 172.

5 Ebd. 175.

6 Ebd. 176.

7 Albert Gasser: Spaziergang durch die Kirchengeschichte. Zürich 2000, 77.

8 Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 42009.

9 Arnold Angenendt: Offertorium. Das mittelalterliche Messopfer. Münster 22013 (= Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 101). Vgl. die Besprechung von Iso Baumer in der SKZ, Luzern 182 (2014), 593–594.

10 Angenendt, Offertorium 1, 4 und 401 (hier als Titel des vierten Teils).

11 Angenendt, Religiosität 494.

12 Ebd. 499.

13 Ebd. 83.

14 Ebd. 71–79.

15 Ebd. 83.

16 Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016.

17 Ebd. 22ff.

18 Ebd. 13.

19 Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt am Main und Leipzig 2009, 62.

20 Ebd. 62ff.

21 Ebd. 69.

22 Schweizerische Zeitschrift für Religions-und Kulturgeschichte. Freiburg i. Ü. 107 (2013), 464–468.

23 Bd. 1,45.

24 Bd. 3, 326–359.

25 Bd. 2, 349–351.

26 Bd. 4, 65–68 (Kuhreihen und Alpsegen) sowie 265–282.

27 Bd. 4, 343–340.

28 Ebd. 9–10. Vgl. dazu die Schilderung der «Reformationsversuche» 282–293.

29 Bd. 1, 16.

30 Kaufmann, Reformation 125.

31 Ebd. 244.

Alois Odermatt

Alois Odermatt

Dr. Alois Odermatt ist Theologe und Historiker und lebt in Steinhausen (ZG )