Reformation aus katholischen Quellen (II)

Ehrenspergers Berichte zur Reformation aus katholischen Quellen offenbaren Kontinuitäten. So hatte der Predigtgottesdienst schon eine lange Tradition. «Im wirtschaftlich, kulturell und politisch besonders fortschrittlichen Südwesten Deutschlands und in der Schweiz hatte sich im späten Mittelalter neben der Pfarrmesse die volkstümliche Pfarrpredigt mit eigener katechetischer Kanzelliturgie entwickelt, wofür besondere städtische Prädikaturen eingerichtet waren.»1

Der messelose Wortgottesdienst geht im Kern auf die Zeit Karls des Grossen zurück.2 Nach Angenendt kann auch die «Abschaffung der Messe» im Sinn der Kontinuität verstanden werden. Die mittelalterliche Umdeutung der antiken Eucharistie widerspreche der ursprünglichen katholischen Tradition. Fragwürdig sei darum, wie Liturgik und Dogmatik heute auf diese mittelalterlichen Befunde reagierten: «An der Liturgie-Forschung ist die Neubewertung des Spätmittelalters nahezu vorübergegangen.»3 Es sei «ein Beispiel konsequenter Beharrlichkeit, welche die im Mittelalter herausgebildete und tridentinisch weitgehend bestätigte Messform als die eigentlich römisch-katholische Form aufgefasst wissen will, sogar mit dogmatischem Anspruch».4 Die Aussagen des Konzils von Trient seien «sowohl vom Opferbegriff als auch vom Priesterbild her nicht gelungen».5 Es habe in der Aufgabe versagt, «die Liturgie zu reformieren».6 Das wirke sich bis in die Ökumene unserer Tage aus. «Besonders anstössig wirkt ökumenisch die Formulierung des vierten Hochgebets, es werde Leib und Blut Jesu Christi geopfert.»7

«Die Messe ist krank …»

Der Berner Reformationstheologe Gottfried Wilhelm Locher (1911–1996) gibt zu bedenken, mit der katholischen Kirche gebrochen hätten dann nicht die Protestanten, sondern die Verfasser der Canones in Trient.8

Ehrensperger zeigt anschaulich, wie die vorreformatorische Theologie und Frömmigkeit auf die Abschaffung jener «Messe» hinauslief, die das Ergebnis einer Fehlentwicklung war. Makaber die fastnächtliche Satire «Von der Krankheit der Messe» des Berner Dichters und Malers, Reformators und Staatsmanns Niklaus Manuel (1484–1530) von 1528.9 Ein Kardinal bringt dem Papst die Nachricht, die Messe sei todkrank. Verschiedene Figuren setzen sich mit der Krankheit, mit einer möglichen Heilung oder sogar mit dem Tod der Messe auseinander. In einem anonymen Gespräch, das kurz darauf erscheint, berichtet ein Bauer, «er habe selbst mit angesehen, wie man die Messe in einem grossen Loch vor dem Berner Münster begraben habe»10.

Die Quelle der Fehlentwicklung

Die Fehlentwicklung hatte sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zugespitzt. Mit dem Einströmen humanistischer Fragestellungen und mit dem Aufschwung des städtischen Bürgertums wuchs das kommunale Bewusstsein. Die Kirchlichkeit nahm auffallend zu. Nie zuvor wurden so viele neue Kirchen gebaut, so viele Altäre mit Pfründen für «Altaristen» und «gedungene Liturgen» gestiftet und ausgestattet.11

Die Stiftungsbriefe enthüllen die Quelle der Fehlentwicklung: das Bild vom strafenden Gott und von der Abrechnung beim Jüngsten Gericht; die Lehre von der Möglichkeit, die Erlösung zu verdienen und damit das Verhältnis zum Göttlichen zu quantifizieren.12 Das Ablasswesen nährte die Vorstellung, eine finanzielle Gegenleistung könne die Verminderung von zeitlichen Sündenstrafen auf Erden und im Fegfeuer erwirken: für sich selbst, aber auch für Anverwandte. Danach zeitigt das «Messopfer» unfehlbar die stärksten Früchte. Es genügte, dass die Messpriester, des Lateins kaum mächtig, die Messe nach dem vorgegebenen Ritual «lesen» konnten.13 Mit heiserer Stimme, schrieb der St. Galler Theologe Johannes Kessler (1502–1574), trügen sie ihre Seelenmessen vor und jauchzten in ihren Herzen über die zu erwartende Belohnung.14 «Das fegfür war der Pfaffen kuchi.»15 Ehrensperger: «Üblich war die einmal jährliche Kommunion an Ostern. Wer öfters kommunizieren wollte, wurde von den Dorfbewohnern bald einmal der Ketzerei verdächtigt. (…) Man scherzte und schwatzte, während der Priester am Altar sein unverständliches, aber geheimnisvolles Amt ausübte. (…) Wichtig war einfach, dass die Zeremonien stimmten.»16

Liturgische Reformen

Basel regte sich früh. Der humanistisch gebildete Priester Johann Ulrich Surgant (1450–1503) veröffentlichte dort 1503 das «Manuale Curatorum», ein Höhepunkt mittelalterlicher Predigttheorie.17 Darin betonte er das sola fide und die Gleichstellung von Wort und Sakrament. Hintergrund war die bereits eingebürgerte «Liturgie der Predigt».

Der Basler Spitalprediger Wolfgang Wissenburg las schon 1522 die Messe auf Deutsch. Dabei betonte er, sie sei kein Opfer; Christus habe sich ein für alle Mal geopfert.18 Ein Fegefeuer nach der irdischen Lebenszeit gebe es nicht, und das Abendmahl «nach dem Wort Gottes» solle allen Gläubigen in Gestalt von Brot und Wein zugänglich sein.

Diese Argumente tauchen in Ehrenspergers Berichten stets dort auf, wo über Reformen diskutiert und gestritten wurde. Klassisch im Tischgespräch vom 26. Juli 1522, dem Fest der heiligen Anna, im Frauenkloster Fraubrunn im Berner Hoheitsgebiet. Auch der Festprediger Sebastian Meyer nahm daran teil, damals Barfüsser Lesemeister von Bern.19 Es meldete sich der Schulmeister: Das Abendmahl sei kein Opfer, dargebracht für Lebendige und Tote, wie die Messpriester sagten, sondern eine Verheissung für alle Menschen. Ein anderer Gesprächspartner warf ein, dann wären ja alle Christen Priester. Wer solches sage, sei ein Ketzer. Der Schulmeister verwies auf das allgemeine Priestertum der Gläubigen nach 1 Petr. 2,9. Als der Dekan die Sache ins Lächerliche zog und dabei durch andere unterstützt wurde, drohte eine Schlägerei auszubrechen … Meyer «wurde dann zum eifrigen Vorkämpfer der Berner Reformation»20.

Zwingli – Vater im Glauben

Alfred Ehrensperger widmet den nächsten Band dem «Gottesdienst in Zürich Stadt und Landschaft vom Mittelalter bis zu Zwinglis Tod 1531». Da werde sich Erstaunliches zeigen, betont er. «Zwingli wollte nie die Messe ‹abthuon›. Er wollte sie beibehalten als Eucharistie-Gottesdienst neben dem Predigtgottesdienst. Von seiner Christologie her lehnte er die Opfer-Theologie ab. Die wahren ‹Abschaffer› der Messe waren einerseits die Radikalen (zum Beispiel Täufer), anderseits der Grosse Rat, der aus Unsicherheit und Unkenntnis mehrheitlich lieber eine Neufassung des Abendmahls befürwortete als eine Messreform, die zu weiteren Auseinandersetzungen und Missverständnissen führen würde. Der Nachtmahl-Entwurf Zwinglis vom März 1525 besteht aus lauter Elementen der Messe!»21

Das liegt auf der Linie des Zürcher Jesuiten Albert Ziegler (*1927), der im Zwingli-Jahr 1984 Aufsehen mit der Aussage erregte, Zwingli sei «zu einer auch katholischen Aufgabe geworden»22. Er könne «für uns ein wahrer ‹Vater im Glauben› sein. Denn er hat als gläubiger Christ zu seiner Zeit versucht, was uns Christen heute insgesamt aufgetragen ist: Die biblische Botschaft in der Vollmacht des Geistes kirchlichen Glauben werden zu lassen.»23

Alpsegen für unsere Besinnung

Der katholische Kirchenhistoriker Joseph Lortz (1887–1975) betonte, die Reformation sei zu erfassen «als religiöses Anliegen heute»24. Im gleichen Sinn sein Schüler Erwin Iserloh (1915–1996): «Wenn von einer Epoche der Geschichte, dann gilt von der Reformation, dass sie nicht schlechthin vergangen ist, sondern in die Gegenwart hineinreicht. Die Reformation geht uns alle nicht nur an, weil sie Anlass wurde zur Glaubensspaltung, die wir alle beklagen, sondern vor allem, weil sie Auftrag an uns ist.»25

Ehrensperger schenkt uns ein ergreifendes Beispiel für dieses «Hineinreichen» der Reformation in die Gegenwart: den Alpsegen, den reformierte Älpler mitsamt der Anrufung Mariens und der Heiligen bis heute im Appenzellerland singen. «Was hier seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben wurde, fragt nicht nach der Konfession. Sie alle bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Einer der reformierten Älpler sagte mir: Di Hälige sind tänk öseri Vobätter! Ond d’Maria ischt d’Muete vo ösem Erlöser, em Chrischtus!»26 Kontinuität über 500 Jahre hinweg – und Segen für die Besinnung, die im Rückblick auf die Reformation ansteht!

 

1 Hans Bernhard Meyer in: Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft. Teil 4. Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Regensburg 1989, 416. Vgl. dazu Alfred Ehrensperger: Lebendiger Gottesdienst. Beiträge zur Liturgie. Zürich 2003, 17. Siehe Teil I SKZ 184 (2016) 532, 537 f.

2 Vgl. Ralph Kunz: Gottesdienst evangelisch reformiert. Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis. Zürich 22006, 39–40.

3 Angenendt, Offertorium 404.

4 Ebd. 478. Als Beispiel dieser Sicht wird Josef Ratzingers Schrift «Der Geist der Liturgie» genannt, (Freiburg i. Br., 42000).

5 Angenendt, Offertorium 483.

6 Ebd. 486.

7 Ebd. 487. Die Rückbesinnung auf die alten Hochgebete sei «damit auch von ökumenischem Belang».

8 Darauf verweist Ralph Kunz, Gottesdienst, 36 (mit Belegstellen in Fussnote 26).

9 Bd. 2,120.

10 Ebd. 122.

11 In zwei Breslauer Kirchen wirkten im 15. Jahrhundert 236 Messpriester, und im Strassburger Münster waren es 120 im Jahr 1521, berichtet Adolf Adam: Grundriss Liturgie. Freiburg 82005, 36.

12 Dazu anschaulich Bd. 3,41.

13 Kaufmann, Reformation, 66–67: In Köln, das es «um 1500 auf etwa 40 000 Einwohner brachte, existierten elf Stifte, 22 Klöster, 19 Pfarrkirchen und rund 100 Kapellen, in denen täglich über 1000 Messen gelesen wurden. Die Zahl der geistlichen Personen beiderlei Geschlechts ging in den grösseren Städten in die Tausende.»

14 Bd. 3,42.

15 Ebd. 42.

16 Bd. 3,30–31.

17 Vgl. dazu Bd. 1,23–24.

18 Bd. 1,49.

19 Bd. 2,40–41.

20 Bd. 2,60.

21 Freundliche Mitteilung an den Rezensenten (7. 2. 2016).

22 Albert Ziegler: Zwingli. Katholisch gesehen, ökumenisch befragt. Zürich 1984, 11.

23 Ebd. 47.

24 Vgl. Joseph Lortz: Die Reformation als religiöses Anliegen heute. Vier Vorträge im Dienste der Una Sancta. Trier 1948. Zitat 11.

25 Erwin Iserloh: Luther in katholischer Sicht gestern und heute. In: Concilium 1 (1966), 231–235; Zitat 233.

26 Bd. 4,67. Übersetzung aus dem Appenzeller Dialekt: «Die Heiligen sind ja unsere Vorbeter! Und Maria ist die Mutter unseres Erlösers, des Christus!»

 

Alois Odermatt

Alois Odermatt

Dr. Alois Odermatt ist Theologe und Historiker und lebt in Steinhausen (ZG )