Gemeindekirche am Ende?

Christiane Bundschuh-Schramm und Eckhard Raabe haben sich 2014 für einen Paradigmenwechsel von einer integrierenden zu einer impulsgebenden Pastoral eingesetzt.1 Dieser Ansatz wurde jüngst von der SKZ aufgegriffen.2 Markus Arnold sieht ihn als anregenden Impuls und befragt ihn kritisch in seiner Replik.

Pfarreien, die sich selbstgenügsam abschotten, haben keine Zukunft. Ein Anspruch an die Pfarreimitglieder nach absoluter Identifikation und totaler Beteiligung lässt sich schon lange nicht mehr aufrechterhalten. Pfarreien müssen grössere Bezüge über sich hinaus erkennen und gastfreundlich auch Passierende willkommen heissen. Um es mit den Worten von Jaques Gaillot zu sagen: «Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.» Wenn aber eine impulsgebende Pastoral als Gegensatz zu einer gemeindekirchlichen Pastoral verstanden wird, welche die Gemeindekirche ablösen soll, sind die Risiken und Nebenwirkungen vorgängig zu reflektieren. Der Kritik, dass die Gemeindekirche, welche «auf eine Beteiligungskirche mit echter Gemeinschaft und aktiver Teilnahme aller»3 zielte, ihre Vision nicht einlösen konnte, ist zuzustimmen. Das haben Visionen meist an sich. In der deutschen Schweiz haben aber verschiedene gemeindekirchliche Impulse (vor allem auch die basiskirchlichen Impulse aus Lateinamerika) zu lebendigen Pfarreien geführt, die versuchten, die Partizipation ihrer Mitglieder in unterschiedlichen Intensitätsgraden zu fördern und ernst zu nehmen. Das Verdikt «Wie die Milieuforschung zeigte, sind Gemeinden heute nur für einen überschaubaren Personenkreis ein Ort, an dem sie sich einbringen und wohlfühlen»4 trifft für unsere Deutschschweizer Verhältnisse so pauschal einfach nicht zu. Es fällt auf, dass Christoph Gellner vor allem Literatur zitiert, die sich auf die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland bezieht5.

Kirche in der Schweiz tickt anders

Was die Kirche in der Schweiz prägt, sind ihre föderalistischen Strukturen. Nicht nur politische Gemeinden pochen auf ihre (relative) Autonomie. Unsere Kirchgemeinden fanden seinerzeit in gemeindekirchlichen Konzepten Entsprechungen. Partizipation und das Recht, mitentscheiden zu können, was die Gemeinde vor Ort betrifft, sind bei uns traditionell verwurzelt. Unsere staatskirchenrechtlichen Strukturen führten dazu, dass sich in den Kirchgemeinden (und in den Pfarreien) Kerngemeinden bildeten. Es brauchte Kirchgemeinderäte und Rechnungsprüfungskommissionen sowie als Pendant dazu Pfarreiräte. Das hat in der Deutschschweiz das Selbstbewusstsein der engagierten Laien in einem Masse gestärkt, wie es andernorts kaum zu finden ist. Neben traditionellen Vereinen entstanden verschiedenste Basisgruppen. Dass dies nicht tempi passati sind, belegen die jährlichen Dankesanlässe, zu welchen in vielen Pfarreien alle Freiwilligen eingeladen werden. Auf diese Freiwilligen sind die betreffenden Pfarreien zu Recht stolz. Dies ist dann nicht nur Ausdruck von Selbsterhaltung, wenn die Pfarreien bereit sind, über sich hinaus zu dienen. Ausserdem werden hier auch Menschen integriert, die sonst vereinsamen würden.

Im Konzept der impulsgebenden Pastoral wird «Integration» negativ konnotiert; vermutlich ist stattdessen aber «Vereinnahmung» gemeint. Heute widerstehen die meisten Pfarreien dieser Versuchung. Die Kerngemeinde mit ihren verschiedensten Akteuren in unterschiedlichem Beteiligungsgrad ist einem steten Wechsel unterworfen. Der Beteiligungsgrad wird von den Mitgliedern selbst definiert und ist biographischen Schwankungen ausgesetzt. Dass die Bereitschaft dazu heute nicht mehr so gross ist und sein kann wie früher, ändert nichts daran, dass jede lebendige Gemeinschaft spezifische Verbindlichkeiten kennt und darauf angewiesen ist.

Chancen und Grenzen impulsgebender Pastoral

Drei Momente gilt es zu bedenken: Nicht die Praktizierenden stehen im Blickfeld, sondern Sinnsuchende, Interessierte, Unentschiedene. Dann braucht es die Wertschätzung punktuell-gelegentlicher Kirchlichkeit. Nicht integrieren, sondern Impulse zu geben ist das Ziel. Schliesslich ist «Lebensbegleitung» als wichtige kirchliche Funktion dargestellt und dauerhaft. Müsste sie nicht eher als Lebensabschnittbegleitung gesehen werden? Das müsste so deklariert werden. Dann wäre das Konzept aber auch in Bezug auf die Sakramente theologisch zu reflektieren. Kann man in einer impulsgebenden Pastoral noch taufen? Das impliziert Verbindlichkeit!

Die genannten Aufgaben bestehen auch im Rahmen eines gemeindekirchlichen Verständnisses. Es ist ihnen grundsätzlich zuzustimmen. Wenn nun aber die Gemeindekirche durch eine impulsgebende Pastoral abgelöst würde, wer wären dann die Akteurinnen und Akteure? Wer begleitet, unterstützt Suchende und ist für die vielen da, die nur punktuell im Umfeld einer Pfarrei Kontakt suchen? In einer impulsgebenden Pastoral ohne Gemeindekirche bleiben nur noch die festangestellten Mitarbeitenden der Pastoral übrig. Bestens integrierte, freiwillig und verbindlich in den Gemeinden Engagierte gibt es dann nicht mehr. Doch wer bezahlt die Professionellen?

Wenn Kirchgemeinden und Pfarreien nicht mehr über genügend engagierte Freiwillige verfügen, ist es eine Frage der Zeit, bis die Finanzen nicht mehr zur Verfügung stehen, um die Professionellen zu finanzieren. Es würde sträflich vernachlässigt, für den nötigen Selbsterhalt zu sorgen, der die Basis für eine dienende und diakonische Kirche ist.

Keine vorschnelle Verabschiedung der Gemeindekirche!

Hier liegt meines Erachtens das Risiko: Solche Konzepte können nur in Ländern entworfen werden, in denen die Kirchen finanziell saturiert sind und Steuergelder problemlos zur Verfügung stehen. Das ist bei uns nicht der Fall. Die rigorose Trennung von Kirche und Staat beispielsweise im Kanton Zürich wurde 1995 vor allem wegen des überzeugenden Leistungsausweises der Kirchen im diakonischen Bereich abgelehnt. Dieser Leistungsausweis wäre aber ohne die enorme Freiwilligenarbeit in den Pfarreien nicht denkbar. Im Unterschied zur staatlichen Sozialarbeit ist kirchliche Diakonie geprägt durch das Zusammenspiel von Professionellen und Freiwilligen. Die Gemeindekirche wird so auch zur Basis jener staatskirchlichen Konzepte, die es ermöglichen, dass motivierte, gut ausgebildete Professionelle in unseren Pfarreien arbeiten. Noch mehr: Das Engagement der Kerngemeinde macht den Professionellen den Rücken frei für eine aufsuchende, nicht vereinnahmende, impulsgebende Pastoral. Es lässt sich darum nicht verantworten, basierend auf religionssoziologischen Untersuchungen der Normativität des Faktischen folgend vorschnell das Ende der Gemeindekirche einzuläuten. Dass diese regional gefährdet ist (z. B. in grösseren Städten), will ich nicht leugnen. Umso mehr müssen wir uns für sie engagieren. Dazu einige Thesen:

  • Gemeinschaftsfreies Christsein gibt es nicht. Der christliche Glaube wird grundsätzlich in Gemeinschaft gelebt. Es gibt verschiedenste Gemeinschaftsformen, in welchen Christsein gelebt werden kann. Die Tradition der katholischen Kirche bewertet die Orientierung am Subjekt (Personprinzip) und die Orientierung an der Gemeinschaft (Gemeinwohlprinzip) als gleichwertig. Ergänzen, nicht ausschliessen, heisst der Grundsatz.
  • Zum Ethos christlicher Gemeinschaft gehört die Kultivierung von «Koinonia». Paul Zulehner nennt u. a. folgende Kriterien der Koinonia-Kultur: Würde, Partizipation und Verbindlichkeit.6 Es gehört zur Würde der Getauften, dass sie in Freiheit bestimmen, in welcher christlichen Gemeinschaft sie leben wollen und dass sie Nähe und Distanz zu dieser Gemeinschaft immer wieder neu selbst bestimmen. Sie haben ein Recht, sich mitbestimmend in der Gemeinde zu engagieren. Dies bedingt Verbindlichkeit, denn Partizipation impliziert auch Pflichten.
  • Christliche Gemeinschaft hat ein sakramentales Grundverständnis. Es gehört zum katholischen Selbstverständnis, dass sakramental geschlossene Lebensentscheide verbindlichen Charakter haben. Dies steht quer zum aktuellen postmodernen Lebensgefühl und beschert uns alle möglichen Probleme. Es gehört zu einem barmherzigen Umgang innerhalb der Koinonia, dass Lebensentscheide nicht zu Mühlsteinen werden, die Menschen verkümmern lassen. Dies ändert aber nichts daran, dass christliches Gemeinschaftsleben immer eine sakramentale Struktur hat.
  • Verschiedene Orte gelebter Koinonia. Neben der flächendeckenden Pfarreistruktur gibt es Parallelgemeinschaften: Orden, Bewegungen, Basisgemeinden und anderes mehr. Dies ist heute vor allem in städtischen Regionen zu kultivieren. Trotzdem aber muss es lebendige Pfarreien geben. In der Schweiz legt die Gemeindekatechese davon Zeugnis ab, z. B. mit Firmung 17+, neuen Formen der Busse (Versöhnungswege) und weiteren Projekten.
  • Pfarrei und Kirchgemeinde. Die enge Verbindung von Kirchgemeinde und Pfarrei hat in der Schweiz solide Grundlagen geschaffen, damit eine differenzierte Seelsorge und vor allem auch Diakonie finanziert werden kann. Von diesem Erfolgsmodell sollte nicht vorschnell Abschied genommen werden. Die Alternative einer impulsgebenden Pastoral hätte aufgrund mangelnder Finanzen bestenfalls vorübergehenden Erfolg. Das Erbe der Gemeindekirche aber würden jene Pfarreien antreten, welche eine uniforme, ausgrenzende Katholizität vertreten, sobald Kirche und Staat rigoros getrennt wären.
  • Ermächtigung von Laien. Nicht hauptamtliche Angestellte in der Seelsorge stehen im Zentrum der Gemeinde. Es sind jene Laien vor Ort, die vielfältige Aufgaben übernehmen. Diese sind von den Hauptamtlichen zu fördern und zu unterstützen. Gleichzeitig ermöglichen es die Freiwilligen, dass Seelsorgende die Grenzen eines kollektiv-egoistischen Pfarreiverständnisses sprengen. Nur so bleibt die Gemeinschaft offen. Hier ist auch die Verankerung einer impulsgebenden Pastoral zu sehen.
  • Pastoralräume und Seelsorgeeinheiten. Bei der Errichtung und Zusammenführung von Pfarreien in grössere Einheiten, heute ein Gebot der Stunde, soll das Gemeindeleben vor Ort berücksichtigt werden. Diese dürfen nicht einfach «top down» errichtet werden.

Grundsätzlich ist das Subsidiaritätsprinzip als Ausdruck der Würde der Getauften zu respektieren. Nur so kann verhindert werden, dass bezahlte Seelsorgende einer Masse von zu betreuenden «Kunden» gegenübersteht und sich einst engagierte Laien guten Willens von der Kirche verabschieden.

 

1 Bundschuh-Schramm Christiane / Raabe Eckhard: Lokale Entwicklung und Sinnsucher – Feinde oder Partner? Von einer integrierenden zu einer impulsgebenden Pastoral, in: Anzeiger für die Seelsorge, Nr. 7/8, 2014, 29–32.

2 Gellner Christoph, Eine impulsgebende Pastoral, in: SKZ 39, 184 (2016), 498.503.

3 Ebd. 498.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Zulehner Paul: Pastoraltheologie, Bd. 2. Gemeindepastoral, Düsseldorf 1989, 92–115.

Markus Arnold (Bild: reformiert.info)

Markus Arnold

Dr. Markus Arnold ist Studienleiter und Ethikdozent am Religionspädagogisches Institut (RPI) der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.