Reformationsgedenken gemeinsam begehen

 Im Jahr 2017 begeht die Christenheit das Gedenken der Reformation vor fünfhundert Jahren. Dieses Gedenkjahr bezieht sich auf das Jahr 1517 zurück, das als Beginn der Reformation in Deutschland betrachtet wird und zeigt, dass unter den vielen Reformationsvorgängen im 16. Jahrhundert die Reformation Martin Luthers im Vordergrund steht. Demgegenüber ist der Beginn der Reformation in der Schweiz zu einem späteren Zeitpunkt angesetzt. Es handelt sich dabei um das erste Reformationsgedenken im ökumenischen Zeitalter. Es kann deshalb nicht mehr in derselben Weise begangen werden, wie sie bei früheren Jahrhundertfeiern üblich gewesen ist, sondern es muss und wird in ökumenischer Gemeinschaft vollzogen werden.

Gedenken der Reformation als ökumenische Chance

Darauf weist das Jahr 1517 selbst hin. Es wird als Beginn der Reformation gesehen, weil es an den so genannten Anschlag der Thesen über den Ablass an die Türe der Schlosskirche in Wittenberg durch den Augustinermönch Martin Luther erinnert. Noch am Beginn des vergangenen Jahrhunderts konnte der evangelische Theologe Adolf von Harnack diesen Akt mit den triumphalistischen Worten beschreiben: «Die Neuzeit hat mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet.»1 Heute gehen die meisten Historiker davon aus, dass der so genannte Thesenanschlag in der bisher überlieferten Weise gar nicht stattgefunden hat, dass Luther vielmehr seine Thesen über den Ablass an den zuständigen Ortsbischof gesandt und deren Veröffentlichung als Einladung zu einer gelehrten Disputation verstanden hat. Im Jahre 1517 ist es deshalb noch gar nicht zum Bruch zwischen Martin Luther und der Katholischen Kirche gekommen und ist die Einheit der Kirche noch nicht zerbrochen gewesen, Martin Luther vielmehr noch in der Gemeinschaft der Katholischen Kirche gelebt hat. Hinzu kommt, dass Luther keineswegs den Bruch mit der Katholischen Kirche und die Gründung einer neuen Kirche, sondern die Erneuerung der ganzen Christenheit im Geist des Evangeliums intendiert hat. Auch aus diesen Gründen kann das Reformationsgedenken im Jahre 2017 nicht anders als in ökumenischer Gemeinschaft begangen werden.

In diesem Sinn hat auch Papst Franziskus betont, dass evangelische und katholische Christen zum ersten Mal die Möglichkeit haben, «weltweit ein und dasselbe ökumenische Gedenken zu halten», in dessen Mittelpunkt «neben der Freude, miteinander einen ökumenischen Weg zu gehen, das gemeinsame Gebet und die innige Bitte an den Herrn Jesus Christus um Vergebung für die wechselseitige Schuld stehen» soll.2 Ein gemeinsames Reformationsgedenken wird dann eine ökumenische Chance sein, wenn jene drei Schwerpunkte verwirklicht werden, die im Mit telpunkt des Dialogdokumentes stehen, das im Blick auf das Reformationsgedenken vom Lutherischen Weltbund und vom Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen verantwortet ist und den Titel trägt: «From Conflict to Communion.»3 Auf der Basis dieses Dokumentes wird am 31. Oktober 2016 im schwedischen Lund ein gemeinsames Reformationsgedenken stattfinden, dem der Präsident und der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes und Papst Franziskus vorstehen werden.

Dank und Busse

Der erste Schwerpunkt heisst Dankbarkeit. Denn in den intensiven Dialogen in den vergangenen fünfzig Jahren haben wir wiederentdeckt, was uns Katholiken und Protestanten gemeinsam ist. Nach einer langen Geschichte der Trennung ist es möglich geworden, den früheren Konfessionalismus der Spaltungen im Glauben zu überwinden und wahrzunehmen, dass die auf die Reformation folgende Spaltung der abendländischen Christenheit nicht die Wurzel des christlichen Glaubens zerstören konnte. In diesem neuen Licht kann auch in katholischer Sicht die Reformation im 16. Jahrhundert im Blick auf ihre Anliegen gewürdigt werden als Vorgang der Reform der Kirche durch die Betonung der Zentralität des Wort Gottes in der christlichen Existenz und im Leben der Kirche und durch die Konzentration auf die Person Jesus Christus als das lebendige Wort Gottes. Zu einem gemeinsamen Reformationsgedenken gehören deshalb Dankbarkeit und Freude über all das, was uns eint.

Die Reformation hat allerdings nicht zur Erneuerung der ganzen Kirche geführt. Mit der Reformation ist es vielmehr zur Kirchenspaltung und anschliessend im 16. und 17. Jahrhundert zu blutigen Konfessionskriegen gekommen, vor allem zum Dreissigjährigen Krieg, der das damalige Europa in ein rotes Meer von Blut verwandelt hat. Und in der damaligen Eidgenossenschaft ist an die beiden Kappeler und die zwei Villmerger Kriege und den Sonderbundskrieg zu erinnern. Als Fernwirkung dieser schwerwiegenden Konflikte muss man die Ausbildung von säkularen Nationalstaaten mit starken konfessionellen Abgrenzungen als eine grosse Bürde beurteilen, die aus der Reformationszeit geblieben ist.

Das zweite Stichwort beim gemeinsamen Reformationsgedenken muss deshalb Busse heissen. Katholiken und Protestanten haben allen Grund, Klage zu erheben und Busse zu tun für alle Missverständnisse, Bösartigkeiten und Verletzungen, die sie einander in den vergangenen fünfhundert Jahren angetan haben. Wie bereits Papst Hadrian IV. in seiner Botschaft an den Reichstag in Nürnberg im Jahre 1522 die Fehler und Sünden der Autoritäten der Katholischen Kirche beklagt hat und wie die Päpste nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil immer wieder um Vergebung gebeten haben für das, was Katholiken Mitgliedern anderer Kirchen angetan haben, so muss auch heute ein gemeinsamer Bussakt ein wichtiger Teil des Reformationsgedenkens sein.

Auf dem Weg zur Einheit

Das dritte Stichwort heisst Hoffnung. Aus Busse angesichts der geschichtlichen Sünden und aus dankbarer Freude über die bisher erreichte Gemeinschaft folgt Zuversicht für die ökumenische Zukunft. Ein ökumenisches Reformationsgedenken wird zwar noch nicht die ersehnte Einheit bringen. Doch es wäre sehr viel, wenn es uns geschenkt würde, dass ein gemeinsames Reformationsgedenken weitere Schritte auf eine verbindliche Kirchengemeinschaft hin ermöglichen könnte. Sie muss auf jeden Fall das Ziel allen ökumenischen Bemühens sein und deshalb auch und gerade vom Reformationsgedenken anvisiert werden. Es zu begehen und einfach beim bisher Erreichten zu bleiben oder gar das Ziel der Einheit aufzugeben und sich mit der vorhandenen Pluralität von Kirchen zufrieden zu geben, würde weder den Intentionen der Reformatoren entsprechen noch dem Anspruch des Reformationsgedenkens gerecht werden. Nach fünfhundert Jahren der Trennung und eines langen Gegeneinanders und Nebeneinanders müssen wir auf ein verbindliches Miteinander zugehen und es bereits heute verwirklichen, und zwar auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens an Christus.

Es ist deshalb vorgeschlagen worden, das Reformationsgedenken als Christusfest zu begehen. Dies scheint mir in der Tat der überzeugendste ökumenische Vorschlag zu sein. Denn es ist die Christozentrik des Glaubens, die uns Katholiken und Protestanten am tiefsten verbindet und uns zur Einheit hinführt. Wenn wir uns gemeinsam an ihm neu orientieren, werden wir uns auch sein Herzensanliegen zu eigen machen, dass alle eins seien, «damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast» (Joh 17,23). Das Reformationsgedenken ruft uns auch zum gemeinsamen Zeugnis des Glaubens in einer Welt, die sich immer mehr vom Christentum zu entfernen scheint und sich doch nach seiner tiefen Wahrheit sehnt.

 

1 A. von Harnack, Die Reformation und ihre Vorstellung, in: Ders. Erforschtes und Erlebtes (Giessen 1923), 71–140, zit. 110.

2 Franziskus, Ansprache an die Delegation der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands am 18. Dezember 2014.

3 Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit (Leipzig – Paderborn 2013).

Kurt Kardinal Koch |© zVg

Kurt Kardinal Koch

Dr. Kurt Kardinal Koch ist seit 2010 vatikanischer Ökumene-Minister und damit zuständig für den Dialog um die Einheit unter den verschiedenen christlichen Konfessionen. Zuvor war er Bischof der Diözese Basel und Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.