Professionell und zielgerichtet

Soziale Arbeit ist heute ein fester Bestandteil des kirchlichen Angebots. Gelingt es einer kirchlich getragenen Sozialen Arbeit aber auch, eine nachhaltige und gesamtgesellschaftlich relevante Wirkung zu erzielen?

Diakonie ist ein Grundvollzug kirchlicher Praxis. Diesbezüglich spricht vor allem der biblische Befund eine klare Sprache. Ein eindringliches Beispiel hierfür liefert das Matthäusevangelium. In der Perikope über das Weltgericht wird klargestellt, dass die Begegnung mit Christus ohne die Begegnung mit den Armen nicht möglich ist (vgl. Mt 25,35–40). Dieser theologische Grundgedanke wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgenommen und fand Eingang in die dogmatische Konstitution über die Kirche. Referenzpunkt für die Ekklesiologie von Lumen Gentium sind letztlich die Armen und Leidenden, in denen die Kirche «das Bild dessen erkennt, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war […].» In ihnen sucht sie «Christus zu dienen» (LG 8). Mit dieser Aussage hat das Konzil Diakonie unmissverständlich als zum kirchlichen Kerngeschäft gehörig bestimmt.

Gesellschaftlich relevant

Diakonie ist allerdings kein rein binnenkirchliches Geschehen. Als Soziale Arbeit konkretisiert sie sich lokal im Kontext einer politischen Gemeinde, urbanen oder ländlichen Gesellschaft mit variierenden sozialen Problemlagen und Herausforderungen. Die Zeiten, in denen die Kirche alleinige Anbieterin sozialer Dienstleistungen war, gehören der Vergangenheit an. Kam der Kirche in der Schweiz noch bis in die 1980-Jahre hinein ein zentraler Stellenwert innerhalb des Hilfesystems zu, so wurde die Verantwortung für die dazugehörigen Aufgaben in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt von staatlichen Behörden übernommen, welche gleichzeitig die gesetzlichen Grundlagen für ein Netz der sozialen Sicherheit schufen. Zeitgleich drangen auch private Anbieter in den Sozialbereich vor. So finden sich heute im Spital-, Heim- oder Asylwesen, in der Suchtarbeit oder in der Krankenpflege spezialisierte und professionell arbeitende Organisationen als Anbieter sozialer Dienstleistungen. Diese Ausdifferenzierung innerhalb des sog. dritten Sektors hatte zudem einen enormen Professionalisierungsschub zur Folge.

Angesichts der geschilderten Ausgangslage stellen sich eine Reihe zentraler Fragen. Welche Bedeutung kommt der kirchlichen Sozialen Arbeit, in einem Land, das nach sozialstaatlichen Prinzipien organisiert ist und in welchem durch Sozialversicherungen und Sozialhilfe die Existenzsicherung garantiert ist, überhaupt noch zu? Ermöglichen die Strukturen der kirchlichen Sozialen Arbeit die Ausrichtung eines tatsächlichen und effektiven Beitrags zur Lösung so- zialer Probleme? Wie nachhaltig sind ihre Unterstützungsleistungen für die Adressatinnen und Adressaten? Oder anders gefragt: Ist die kirchliche Soziale Arbeit bloss ein Terminus pastoraler Entwicklungspläne und wohlgemeinter Pfarreikonzepte ohne nennenswerte Konkretion ausserhalb kirchlicher Strukturen?

Unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen leistet die kirchliche Soziale Arbeit zweifelsohne einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Armutslinderung in der Schweiz. Denn trotz einer ausreichenden materiellen Existenzsicherung durch das Rentenwesen, die Sozialhilfe und die Ergänzungsleistungen existieren Lücken im Netz der sozialen Sicherheit. So wird beispielsweise in der einseitig auf monetäre Leistungen ausgerichteten Existenzsicherung die persönliche Sozialhilfe stark vernachlässigt. Auch sind die Integrationshilfen ungenügend und der Zugang zur Sozialhilfe ist nach wie vor äusserst hochschwellig ausgestaltet. Nicht selten wenden sich deshalb Menschen in schwierigen Lebenslagen an die kirchlichen Sozialdienste.

Zunahme des Informationsbedarfs

In der Bevölkerung wird die kirchliche Soziale Arbeit nach wie vor als wichtig erachtet, wie die 2015 vom SPI durchgeführte Studie zur Reputation der Kirchen in der Schweiz aufzeigte.1 Diese gesellschaftliche Wertschätzung fand auch ihren Niederschlag im neuen Landeskirchengesetz des Kantons Bern, das seit dem 1. Januar 2020 in Kraft ist. In Art. 31 werden zwölf Positionen aufgelistet, die als gesamtgesellschaftlich relevant erachtet werden. Über die Hälfte des Leistungskatalogs lässt sich dem Bereich der kirchlichen Sozialen Arbeit zuordnen. Für die aktuelle Beitragsperiode haben die Landeskirchen erstmalig dem Kanton ein Reporting mit entsprechenden Kennzahlen zu den gesamtgesellschaftlichen Leistungen zu liefern. Es ist davon auszugehen, dass die Rechenschaftslegung seitens der Kirchen hinsichtlich ihrer Leistungen für die Gesamtgesellschaft in Zukunft umfassender zu erfolgen hat.

Nachhaltigkeit durch Wirkungsmessung

Die kontinuierliche Wirkungsmessung und eine damit verbundene Überprüfung der eigenen Tätigkeit sollte aber nicht nur eine Pflichtübung für Stakeholder, sondern auch ein zentrales Anliegen der kirchlichen Sozialen Arbeit selbst sein. Letztlich geht es dabei um nichts weniger als um die Frage, ob sie in ihrem Tun auch die gewünschten Wirkungen erzielt. Denn kirchliche Soziale Arbeit läuft immer wieder Gefahr, der Barmherzigkeitsfalle zu erliegen, indem sie sich auf ein reines Lückenschliessen im Netz der sozialen Sicherheit beschränkt. Wenn aber kirchliche Soziale Arbeit lediglich Not lindert, ohne auch deren Ursachen zu bekämpfen, degradiert sie sich selbst zu einem «Pannendienst der Gesellschaft.»2 Im schlechtesten Fall trägt sie auf diese Weise gar zur Stabilisierung sozialer Probleme bei. Lücken im Netz der sozialen Sicherheit gründen in politischen Prozessen und sind daher auch politisch zu verantworten.

Kirchliche Soziale Arbeit muss den Hebel in zwei Bereichen ansetzen: Einerseits ist sie dem Wohl und der Realität ihrer Adressatinnen und Adres- saten verpflichtet, was bedeutet, dass ihre Interventionen darauf abzielen müssen, deren Autonomie und Handlungsfähigkeit zu fördern und sie so unabhängig werden zu lassen – «auch von der Sozialen Arbeit.»3 Andererseits muss es der kirchlichen Sozialen Arbeit immer auch um eine gerechtere Regelung auf normativer Ebene gehen, die eine gesellschaftliche Teilhabe garantiert und ermöglicht. Dieses anspruchsvolle Doppelmandat erfordert zwingend eine regelmässige Überprüfung und Auswertung des eigenen Handelns – dies immer vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen. Denn letztlich ist nur eine professionell ausgestaltete kirchliche Soziale Arbeit, die ihr eigenes Handeln permanent reflektiert, in der Lage, zielgerichtet vorzugehen, soziale Notlagen zu erkennen und dafür passgenaue Hilfestel- lungen zu entwickeln – und auf diese Weise gesamtgesellschaftlich relevant zu handeln.

Beispiele gelingender Praxis

Bereits verschiedentlich hat die kirchliche Soziale Arbeit gezeigt, dass sie es nicht bei reinen Werken der Barmherzigkeit belässt, sondern tatsächlich auch einen gewichtigen Beitrag zur Wiedererreichung der Selbständigkeit ihrer Adressatinnen und Adressaten leistet und dass sie auch zu gerechteren Strukturen beitragen kann. So werden etwa bei der kirchlichen Gassenarbeit in Luzern suchtbetroffene Menschen durch Einkommensverwaltungen im freiwilligen Setting dazu befähigt, die Verantwortung für ihre Finanzen wieder eigenständig wahrnehmen zu können. Im Kanton Bern konnte im vergangenen Jahr, nicht zuletzt dank dem grossen Engagement der interkonfessionellen Arbeitsgruppe Sozialhilfe (IKAS), an der Abstimmung vom 19. Mai 2019 eine Kürzung des Lebensbedarfs im Sozialhilfegesetz abgewendet werden. Die beiden Beispiele zeigen, dass die kirchliche Soziale Arbeit durchaus eine hohe Bedeutung in der Gesamtgesellschaft erreichen kann. Dies nicht zuletzt dank ihrer relativen Unabhängigkeit. Da kein staatliches Mandat vorliegt, hat sie die Möglichkeit, rasch auf neue Problemfelder zu reagieren und entsprechende Lösungsansätze zu entwickeln – wie z. B. die grossangelegte Hilfsaktion der katholischen Kirche Region Bern zur Bekämpfung der Folgen der Covid-19-Krise. Derartige Unterstützungsmassnahmen können aber nur dann eine nachhaltige Breitenwirkung erzielen, wenn sie mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext entwickelt werden. Denn Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit bilden eine Trias – bei der man «das eine tun [muss] ohne das andere zu lassen» (Mt 23,23).

Mathias Arbogast

 

1 Vgl. Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut (SPI), Kirchenreputation. Forschungsergebnisse zum Ansehen der Kirchen in der Schweiz und Impulse zum Reputationsmanagement, St. Gallen 2017.

2 Selke, Stefan, Das Leiden der Anderen. Die Rolle der Tafeln zwischen Armutskonstruktion und Armutsbekämpfung, in: ders., Tafeln in Deutschland. Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention, Wiesbaden 2009, 281.

3 Beck, Susanne et al., Berufskodex der Sozialen Arbeit, Bern 2010, 6.


Mathias Arbogast

Theologie und Religionswissenschaft und verfügt über einen Master-Abschluss der Fachhochschule Luzern – Soziale Arbeit sowie über ein Diplom in Non-Profit-Management der Universität Freiburg i.Ü.. Seit 2019 ist er Leiter der Fachstelle Soziale Arbeit der katholischen Kirche Region Bern.

 

BONUS

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