«Die Kirche hat eine prophetische Funktion»

Gesundheit, Bildung und der freie Zugang zu den Gerichten gehören zu jenen Grundrechten, die jedem Menschen unabhängig seines Status zustehen, auch den Sans-Papiers. Dafür machen sich die von den Kirchen mitgetragenen Sans-Papiers-Stellen stark.

Nicola Neider Ammann (Jg. 1961) studierte Theologie und Pädagogik in Münster/Westfalen. Seit 2008 ist sie Leiterin des Bereichs Migration und Integration der katholischen Kirche Stadt Luzern und in dieser Funktion Präsidentin des Vereins Kontakt- und Beratungsstelle für Sans-Papiers Luzern.

 

Vor zehn Jahren wurde der Verein Kontakt- und Beratungsstelle für Sans-Papiers Luzern nach dem Vorbild anderer Sans-Papiers-Stellen in Bern, Basel und Zürich gegründet. Nicola Neider Ammann ist seit Beginn dessen Präsidentin. Mit ihr sprach die SKZ.

SKZ: In welchen Bereichen sind die Sans-Papiers vor allem auf Unterstützung und Beratung angewiesen?
Nicola Neider: Wir beraten die Sans-Papiers im Blick auf die Wahrung ihrer Grundrechte, die jedem Menschen in der Schweiz zustehen, egal welchen Status er oder sie hat. Zu diesen Grundrechten gehören Gesundheit, Bildung und der freie Zugang zu den Gerichten. Viele Sans-Papiers, die zu uns kommen, wünschen sich vor allem einen regulären Aufenthaltsstatus. Wir können mit ihnen prüfen, welche Kriterien sie erfüllen müssen, um einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen. Wir schreiben aber auch Beschwerden, reichen Wiedererwägungsgesuche ein oder vermitteln eine Anwältin oder einen Anwalt bei weitergehenden juristischen Fragen. Neben diesen rechtlichen Fragen beraten wir die Betreffenden im Blick auf ihre Gesundheit. Wir helfen darüber hinaus, Kinder einzuschulen, oder unterstützen jugendliche Sans-Papiers bei der Lehrstellensuche. Vor allem aber hören wir den Sans-Papiers zu und nehmen sie je individuell als Menschen ernst und vermitteln ihnen dadurch, dass sie eine Würde haben. Unser Prinzip in der Beratung ist, ihnen Wege aufzuzeigen und sie dazu zu ermutigen, selber einen dieser Wege zu gehen. Auch wenn wir oft im Blick auf die Legalisierung des Status nicht erfolgreich sind, vermitteln wir ihnen das Gefühl, als Menschen gesehen und gehört zu werden. Viele realisieren dann auch, dass die Legalisierung des Status sehr komplex ist.

Welchen Herausforderungen sieht sich die Beratung insbesondere gegenübergestellt?
Eine der grössten Herausforderungen ist es, mit der mittlerweile sehr restriktiven Gesetzgebung und Rechtsprechung in der Schweiz konfrontiert zu sein, bei der es immer schwieriger wird, für Sans-Papiers eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Die sogenannten primären Sans-Papiers halten sich in der Schweiz ohne gültige Aufenthaltsbewilligung auf, leben und arbeiten hier, ohne je eine Bewilligung beantragt zu haben. Sie reisen zum grössten Teil legal mit einem Visum ein, bleiben dann nach Ablauf des Visums hier, da sie eine Arbeit gefunden haben. Sie leben sehr unauffällig ihren Alltag: Sie haben eine Wohnung, ihre Kinder gehen in die Schule. Viele aus dem Umfeld wissen gar nicht, dass sie keine Aufenthaltsbewilligung haben. Für diese Gruppe von Sans-Papiers ist die grösste Herausforderung in der Beratung, dass dieses sehr vulnerable System spätestens dann nicht mehr funktioniert, wenn sie entweder die Arbeit verlieren, krank werden oder vom Arbeitgeber ausgebeutet oder missbraucht werden. Hier geht es oft ums blanke Überleben und um die Frage, ob die betreffende Person eine andere Stelle findet – wobei wir hierbei nicht helfen dürfen – oder ob sie sich gegen den Arbeitgeber wehren kann, dabei können wir sie unterstützen. Besonders herausfordernd erlebe ich unsere Arbeit, wenn es um Minderjährige und Kinder geht. In einem konkreten Fall sind sie sechs und acht Jahre alt. Die Mutter brachte sie aus Lateinamerika in die Schweiz, kehrte anschliessend nach Lateinamerika zurück und liess ihre Kinder einfach hier. Die Kinder haben keine Aufenthaltsbewilligung, gehen über ein Jahr nicht in die Schule und leben bei einer Tante, die zwar eine Bewilligung und das Sorgerecht hat, aber mit der Situation überfordert ist. Oder Jugendliche, die schon sehr früh die Verantwortung für die ganze Familie übernehmen müssen, da die Eltern überfordert sind. Da übersetzt dann das 12- oder 13-jährige Kind alle Gespräche, sucht sich nach Schulabschluss eine Lehrstelle und ermöglicht damit der ganzen Familie einen legalen Aufenthalt. Der Druck, der auf den Schultern solcher Kinder und Jugendlicher lastet, ist unermesslich. Die Herausforderung besteht darin, diese grosse Spannung auszuhalten zwischen der Lebensrealität von Sans-Papiers, die durch das jahrelange Warten auf eine Bewilligung mürbe werden, und der Unnachgiebigkeit der Gesetze und der Rechtsprechung.  

In der Schweiz leben schätzungsweise 90'000 bis 110'000 Sans-Papiers. Was bedeutet diese hohe Zahl für die Gesellschaft und den Staat?
Für die Gesellschaft und den Staat bedeutet dies, sich einzugestehen, dass der Umgang mit der Thematik nicht mit Wegschauen gelöst werden kann. Es braucht einen ehrlicheren Umgang mit der Frage, wie es möglich sein kann, dass die Arbeitskraft dieser Menschen ganz offensichtlich gebraucht wird, sie aber dennoch keine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Der Staat und die Gesellschaft sollten anerkennen, dass es die Arbeitskraft von Sans-Papiers braucht, und ihnen eine faire Chance geben, einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen. Ganz aktuell sind wir mit der sehr schwierigen Situation der Sans-Papiers konfrontiert, die aufgrund der Corona-Krise ihre Arbeit verloren haben. Sie fallen durch alle sozialen Netze, haben keine Krankenversicherung und stehen vor dem absoluten Nichts.

Das 2017 lancierte Pilotprojekt «Opération Papyrus»1 wurde in diesem Frühjahr von den Verantwortlichen in Genf positiv bilanziert. Wie ich gehört habe, wird der Bundesrat dieses Pilotprojekt auch auswerten. Was erhoffen Sie sich diesbezüglich vom Bundesrat?
Vom Bundesrat erhoffe ich mir, dass er nun auch bei den anderen Kantonen ansetzt und das Modell Papyrus nicht nur für Genf, sondern für alle Kantone in Kraft setzt. Das würde für viele primäre Sans-Papiers eine rasche Verbesserung ihrer Situation bedeuten und für unsere Arbeit auf den Sans-Papiers-Stellen hätten wir endlich verbindliche Regeln, die in der ganzen Schweiz gelten. Leider höre ich hier im Kanton Luzern bislang von unseren Behörden auf meine Frage, ob dieses Modell auch hier möglich ist: «Wir sind hier nicht in der Westschweiz». Das ist aus meiner Sicht sehr bedauerlich und diesbezüglich wünsche ich mir eine Harmonisierung der Praxis im Sinne des Modells Papyrus in Genf.

Im vergangenen November wurde in Luzern ein einjähriges Kirchenasyl von der Polizei aufgehoben. Welche Erfahrungen und Erkenntnisse nehmen Sie mit für Ihre weitere Arbeit mit Sans-Papiers und Asylsuchenden?
Wir wurden durch die Erfahrung des Kirchenasyls insgesamt bestärkt in unserem Engagement für die Menschen, die in der Schweiz Schutz suchen und aufgrund der verschärften Gesetze im Blick auf eine legale Zuwanderung keine Anerkennung mehr erhalten. Natürlich ist das Kirchenasyl für uns immer ultima ratio und wir werden es auch in Zukunft nur in Ausnahmefällen und nach sorgfältiger Abwägung aller Faktoren einsetzen. Aktuell bemühen wir uns im Netzwerk www.migrationscharta.ch darum, eine nationale Vernetzung mit Juristinnen und Juristen sowie Politikerinnen und Politikern zu diesem Thema zu bilden. Denn es geht einerseits um das je lokale und konkrete Kirchenasyl, andererseits geht es aber auch national darum, die bislang geltende Rechtsprechung im Blick auf das Kirchenasyl zu thematisieren und zu diskutieren. So existiert zum Beispiel ein Entscheid des Europäischen Gerichtshofes zum Thema Kirchenasyl, der lautet, dass eine Person, die sich in einem Pfarrhaus bzw. kirchlichen Gebäude aufhält und von den Verantwortlichen der Pfarrei Schutz erhält, nicht als untergetaucht gilt, wenn den Behörden der Aufenthaltsort immer bekannt ist. Leider ist dieses Urteil für die Schweiz nicht bindend. Das Bundesverwaltungsgericht hat in unserem Fall anders geurteilt und die Familie, die sich bei uns im Kirchenasyl aufhielt, als untergetaucht eingestuft, obwohl wir den Behörden gegenüber immer den Aufenthaltsort der Familie bekannt gaben. Deswegen ist das Thema Kirchenasyl sowohl konkret als auch politisch für mich sehr wichtig, da es auch hier nicht nur um die Humanität der Schweiz geht, sondern auch um unsere Rolle als Kirche in der Gesellschaft. Die Kirche hat eine diakonische und prophetische Funktion ganz im Sinne von Dietrich Bonhoeffer, der sagte: «Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.» Selbstverständlich akzeptieren wir die Gesetze und anerkennen den Staat in allen seinen Funktionen. Wir erwarten keine Sonderrechte für die Kirche. Aber als Kirche haben wir in der prophetischen Tradition der biblischen Botschaft die Aufgabe, uns einzusetzen für jene, denen nach gründlicher Überprüfung aller Umstände ein Unrecht droht. Das Kirchenasyl ist diesbezüglich für mich ein wichtiges Instrument, welches aber nur nach grosser Sorgfalt eingesetzt werden sollte. Es bedeutet, wie Dorothee Wilhelm im Anschluss an Johann Baptist Metz einmal sagte, «eine Unterbrechung der Ausschaffungslogik und -politik in der Festung Europa».

Interview: Maria Hässig

 

1 Mehr Informationen Projekt: www.ge.ch/dossier/operation-papyrus

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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