Einblicke in Leben, Glauben und Gemeinden von Migrantinnen und Migranten

In ihren Publikatoinen legen Eva Baumann-Neuhaus und Simon Foppa je eine Studie im Bereich der subjektorientierten Migrationsforschung vor. Foppa fragt nach den sozialen Netzwerken in Migrationsgemeinden und Baumann-Neuhaus nach der religiösen Verarbeitung von Kontingenz- und Diskontinuitätserfahrungen von Migrantinnen und Migranten. Die Pastoraltheologin Stephanie Klein hat die Bücher rezensiert.

Das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut SPI hat zwei breit angelegte empirische Studien zu Leben, Glauben und Gemeinden von spanisch-sprachigen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz herausgegeben und damit einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis von christlichen Migrationsgemeinden überhaupt geleistet.

Das Doppelprojekt fragt nach der Bedeutung von Religion und Migrationsgemeinden im Leben von Zuwanderern aus Spanien und Lateinamerika in der Schweiz. Beide Studien arbeiten mit derselben empirischen Datengrundlage und qualitativ-empirischen Methodik, verfolgen aber unterschiedliche Fragestellungen. Die Datengrundlage bilden 23 biographisch-narrative Interviews, acht Experteninterviews sowie teilnehmende Beobachtungen in fünf spanisch-sprachigen Migrationsgemeinschaften unterschiedlicher konfessioneller Prägung.

Sensibel für die Bedürfnisse von Migrierten

Simon Foppa untersucht in seiner Teilstudie Kirche und Gemeinschaft in Migration. Soziale Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden, St. Gallen 2019 die Bedeutung der sozialen Netzwerke in spanischsprachigen katholischen und protestantischen Migrationsgemeinden in der Schweiz. Dazu legt er zunächst den Kontext der Zuwanderer dar: das Christentum in Spanien und Lateinamerika, die Entwicklung der Migration aus diesen Ländern in die Schweiz sowie die Geschichte, rechtliche Situation und aktuelle Herausforderung der Migrationsgemeinden in der Schweiz. Für die Auswertung der Daten dienen ihm das transnationale Stress-Coping-Modell der Larzarusgruppe und das Konzept der sozialen Unterstützung nach Schwarzer und Leppin als theoretischer Rahmen.

Die Auswertung der Erhebungen gibt fundierte Einblicke in Situation und Glauben der Zuwanderer. Zunächst werden die vielfältigen Herausforderungen aufgezeigt, die die Migrantinnen und Migranten zu bewältigen haben; angefangen bei möglichen Sprach- und Informationsschwierigkeiten reichen sie über die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, kulturelle Herausforderungen, den Verlust sozialer Beziehungsnetze und den Aufbau neuer Netzwerke, psychische Belastungen bis hin zu der Begegnung mit anderen Religiositätsstilen und Gemeindeformen im Gastland.

An den Fallbeispielen einer katholischen und einer pentekostalen Migrationsgemeinde gibt der Verfasser einen Überblick über Migrationsgemeindestrukturen in der Schweiz. Sein Forschungsinteresse gilt der biografischen Bedeutung der gemeindlichen Unterstützungssysteme. Die Gemeinden stellen komplexe soziale Netzwerke zur Verfügung, die helfen, die vielfältigen Herausforderungen der Migrantinnen und Migranten zu bewältigen. Dazu gehören zunächst lebenspraktische Hilfen, sie geben aber vor allem soziale und emotionale Unterstützung und helfen oft mit «Empowermentnarrativen», ein positives Selbstwertgefühl aufzubauen. Für die Prozesse der Integration in die kirchliche Gemeinschaft und die Gesellschaft im Aufnahmeland erweisen sich Personen in der Rolle der «Türöffner», die auf Neuankömmlinge zugehen und sie in Aktivitäten mit einbeziehen, als ebenso wichtig wie die «sozialen Rezeptoren», die stabile, vertrauensvolle Beziehungen aufbauen. Solche Personen, stellt Foppa fest, gibt es zwar in den Migrationsgemeinden, weil deren Mitglieder aufgrund eigener Migrationserfahrungen sensibel für die Bedürfnisse von Neuankömmlingen sind, deren Weltbilder und Handlungsmuster teilen oder aber gelernt haben, Andersartigkeiten zu tolerieren, sie fehlen aber weithin auf der Gesellschaftsebene. So leisten die Migrationsgemeinden mit ihren Unterstützungssystemen auch einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration. Doch es gibt auch negative Aspekte der Gemeinden. Sie können sozialen Konformitätsdruck ausüben und abweichendes Verhalten sanktionieren, und die vorherrschenden Glaubensvorstellungen der Gemeinschaft können bei den Migrantinnen und Migranten Schuldgefühle, religiösen Leistungsdruck, ethischen Rigorismus oder extremen Altruismus hervorrufen. Schliesslich können auch genau jene Gemeinsamkeiten, die die Aufnahme in die Migrationsgemeinde erleichtern, zu Spannungen mit der Aufnahmegesellschaft führen.

Eine zentrale Herausforderung für die Migrationsgemeinden besteht in der grossen Diversität ihrer Mitglieder. Foppa unterscheidet zwei Modelle von Migrationsgemeinden, die aufgrund ihres Kirchenverständnisses unterschiedliche Lösungen institutionalisiert haben. Das «katholische Modell» versucht Einheit in der Vielfalt dadurch zu gewährleisten, dass es soziokulturelle Untergruppen bildet und die Toleranz- und Pluralismusfähigkeit durch Bildungsangebote fördert. Im «freikirchlichen Modell» besteht die Möglichkeit, dass sich die verschiedenen Flügel einer Gemeinschaft in unabhängige, in sich homogene kirchliche Gemeinschaften aufspalten. Die neue Homogenität ermöglicht den neuen Gemeinschaften eine hohe soziale Kontrolle und eine klare Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Lehre.

Vier Typen religiöser Kontingenzverarbeitung

Die zweite religionswissenschaftliche Teilstudie hat Eva Baumann-Neuhaus unter dem Titel: Glaube in Migration. Religion als Ressource in Biografien christlicher Migrantinnen und Migranten, St. Gallen 2019 vorgelegt. Ausgehend von einem funktionalistischen Zugang zu Religion als Kontingenzbewältigung fragt sie nach Kontingenz- und Diskontinuitätserfahrungen in Biografien der Migrantinnen und Migranten und nach ihren religiösen Deutungs- und Verarbeitungsmustern. Zunächst wird die vorliegende Forschung zu Biografie, Migration und Religion gesichtet und ein Blick auf die Herkunftsländer und das Aufenthaltsland Schweiz geworfen. Die Auswertung der empirischen Daten zeigt die Hoffnungen, Erwartungen und biografischen Wege im Herkunftsland auf, die zur Migration führten. Vor diesem Hintergrund werden die erfahrenen Diskontinuitäten in Kultur, Familie, Beruf, und Gesundheit im Zielland herausgearbeitet. Im Blick auf die religiöse Verarbeitung der Diskontinuitäten unterscheidet die Verfasserin vier Typen der religiösen Kontingenzverarbeitung. Eine zentrale Stellung nimmt der «transformative Typ» mit dem Narrativ der Bekehrung ein, das zwar konfessionsübergreifend vorkommt, aber doch eine stark pentekostale Ausprägung hat. Die Brüche des Lebens werden als Teil eines göttlichen Plans verstanden und in ein ganzheitliches Sinnmuster integriert. Der Plan beauftragt zugleich zu neuem Handeln und führt in eine neue Gemeinschaft. Der «restitutive Typ» verarbeitet die Probleme der Migration durch die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Gemeinschaft, die Beheimatung bietet und soziale und religiöse Kontinuität sichert. Dieser Typus wurde vor allem bei traditionell katholisch orientierten Migrantinnen und Migranten gefunden. Die zwei weiteren, aber in der Studie weniger vertretenen Typen erfahren die Migration nicht so sehr als Diskontinuität, als vielmehr als eine Chance oder Normalität. Der «adaptive Typ» versteht die Migration als eine Möglichkeit und Lernerfahrung. Das Leben und die Religion werden als gestaltbar begriffen. Der «akzeptierende Typ» ist tendenziell pragmatisch ausgerichtet und arrangiert sich mit herausfordernden Situationen. Die Religion spielt dabei eine marginale Rolle, wird aber nicht zurückgewiesen. Abschliessend wird Religion im theoretischen Kontext von Sozialisation, Gesellschaft, Subjekt und interaktivem Sozialraum verortet.

Die beiden Studien schliessen Forschungslücken im Bereich der subjektorientierten Migrationsforschung. Sie präsentieren sich methodisch fundiert und nachvollziehbar sowie sehr klar strukturiert. Die Erkenntnisse sind mit Zitaten aus den Interviews unterlegt, die auch im Druckbild übersichtlich mit Namen, Konfession und Herkunftsbereich gekennzeichnet sind. Der Text liest sich ausgesprochen spannend und lebendig und vermittelt Einblicke in die Herausforderungen, den Glauben und die Hilfsnetzwerke von Migrantinnen und Migranten. Die klare Gliederung, die flüssige Sprache, eine Vielzahl von Grafiken und regelmässige Schlussfolgerungen machen die umfangreichen Texte mit Freude lesbar. Die Studien vermitteln lebendige Einblicke in Glauben, Leben und christliche Gemeinschaften von Zuwanderern in der Schweiz. Sie sind eine lohnende Lektüre für alle, die in Gemeinden und in der Seelsorge mit Migration zu tun haben, oder die sich ganz einfach für die zugewanderten Mitbürgerinnen und Mitbürger interessieren.

Stephanie Klein

 

«Glaube in Migration. Religion als Ressource in Biographien in christlicher Migrantinnen und Migranten». Von Eva Baummann-Neuhaus. St. Gallen 2019. ISBN 978-3-906018-16-4, CHF 33.90. https://shop.spi-sg.ch/

«Kirche und Gemeinschaft in Migration. Soziale Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden». Von Simon Foppa. St. Gallen 2019. ISBN 978-3-906018-17-1, CHF 38.90. https://shop.spi-sg.ch/