Professionalisierung der Betreuung daheim

Die familiären Ressourcen zur Betreuung von Angehörigen nehmen ab. Wie soll die entstehende Lücke in der Betreuung zu Hause gefüllt werden? Gibt es ein Anrecht auf gute Betreuung im Alter?

Immer mehr Menschen werden in der Schweiz immer älter. Nicht nur das aktive, dritte Alter, auch das gebrechliche, vierte Alter* gewinnt an Bedeutung. In diesem Fragilisierungsprozess wird die Autonomie der älteren Menschen allmählich eingeschränkt, und ihre Hilfsbedürftigkeit nimmt zu. Ältere Menschen brauchen dann Unterstützung zur Alltagsbewältigung, aber oft noch keine Pflege. Dabei ist der Wunsch, so lange wie möglich daheim zu bleiben, ungebrochen gross. Zwei von drei über 90-jährigen Senioren leben noch in den eigenen vier Wänden!

Die benötigte Hilfe, Betreuung und Pflege ist noch immer Sache der Angehörigen: der Lebenspartner und der anderen Familienangehörigen. Dabei nehmen die Töchter und Schwiegertöchter eine tragende Rolle ein – was ihre Möglichkeiten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen und die eigene Altersvorsorge aufzubauen, einschränkt und ihre zeitliche und emotionale Mehrfachbelastung erhöht.

Unterstützung durch Dritte notwendig

Der gesellschaftliche Wandel wird allerdings in den nächsten Jahren dazu führen, dass diese familiäre Ressource deutlich abnehmen wird. Familien werden kleiner, die Familienmitglieder leben nicht mehr am gleichen Ort und die Frauen arbeiten in höheren Pensen. Eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen wird ebenfalls die zeitlichen Möglichkeiten zur Hilfe, Betreuung und Pflege der Familienangehörigen einschränken. Selbst wenn die Politik die Rahmenbedingungen verbessern und die Care-Arbeit anerkennen, entschädigen und versichern würde, ist eine ergänzende Unterstützung durch Dritte angesichts der demografischen Entwicklung unabdingbar. In den nächsten zwei Dekaden wird sich die Zahl der Hochbetagten nämlich verdoppeln, weil die Babyboomer dann ins vierte Alter kommen.

Der Verweis auf die Seniorenwirtschaft ist da schnell zur Hand. Wer das nötige Einkommen und Vermögen hat, kann die gewünschte Care-Arbeit als Dienstleistung einkaufen. Zahlreiche Unternehmen haben sich längst mit einem vielfältigen Angebot etabliert, vor allem in den Städten und dichtbesiedelten Agglomerationen in der Schweiz. So gibt es private Spitex-Organisationen ebenso wie auch private Seniorenresidenzen. Doch eine solche komfortable Unterstützung können sich längst nicht alle Rentnerhaushalte leisten.

Damit steht die Frage im Raum, ob es nicht ein Anrecht auf gute Betreuung im Alter braucht.1 Gute Betreuung würde dann Teil des Service public im Sozialwesen der Schweiz. Eine solche Regelung müsste nicht nur Antworten darauf geben, was unter guter Betreuung zu verstehen wäre und wie diese finanziert werden könnte, sondern auch festlegen, wer eine solche gute Betreuung leisten darf und welche Voraussetzungen dabei zu erfüllen sind.

Unabhängig davon, welchem Szenario – unentgeltliche Familienarbeit, bezahlte Seniorenwirtschaft, sozialstaatliches Anrecht – die gesellschaftliche Entwicklung in der Schweiz in den kommenden Jahren folgen wird, einen gemeinsamen Punkt haben alle drei Optionen: eine zunehmende Professionalisierung der Betreuung im Alter daheim wird notwendig werden.

Was umfasst eine gute Betreuung?

In der Trias von Hilfe, Betreuung und Pflege nimmt die Betreuung eine besondere Rolle ein. Betreuung besitzt dabei eine doppelte Bedeutung. Zum einen beschreibt Betreuung eine Grundhaltung, wie man Tätigkeiten ausführen sollte. Die Rede ist von einer impliziten Betreuung. Zum anderen besitzt Betreuung ähnlich wie die Pflege und Hilfe eigene Handlungsfelder. Hier handelt es sich um eine explizite Betreuung. Von jenen, die Hilfe leisten, genauso wie von jenen, die pflegen, darf erwartet werden, dass sie eine betreuende Grundhaltung einnehmen. Eine solche betreuende Grundhaltung kommt dann zum Ausdruck, wenn die Würde der älteren Person gewahrt, sie in ihrer Autonomie und Selbstbestimmung unterstützt, ihr mit Empathie und Achtsamkeit begegnet und sie mit ihren Anliegen, Wünschen und Erwartungen ernst genommen wird. Unter dem Titel der guten Betreuung kommen aber neue Handlungsfelder hinzu. Mindestens vier solche Handlungsfelder können unterschieden werden.2

  • Ein erstes betrifft die Unterstützung einer selbständigen Lebensführung und Selbstsorge. Es geht um die Stärkung und Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung mit dem Ziel, die Selbstwirksamkeit zu fördern und zu stabilisieren. Thematisiert werden hier auch Fragen der Sinnfindung. Seelsorge und die Auseinandersetzung mit spirituellen und geistigen Themen werden wichtig. Ein interessegeleitetes Lernen soll weiterhin möglich sein.
  • Im zweiten Handlungsfeld geht es um eine sinngebende Alltagsgestaltung. Sie steht im Dienste der Lebensqualität und Lebensfreude und entzieht sich einer vorgegebenen Zeitstruktur. Sie knüpft an biografische Verläufe an und nutzt noch vorhandene Fertigkeiten. Sie kann in Gruppen geformt werden, muss sich aber auch an individuellen Bedürfnissen der älteren Menschen orientieren.
  • Das dritte fördert die gesellschaftliche Teilhabe der älteren Menschen, sodass sie trotz möglicher Mobilitätseinschränkungen am öffentlichen Leben partizipieren können. Es geht darum, die Teilnahme an sozialen, kulturellen, politischen und sportlichen Anlässen und Aktivitäten zu ermöglichen. So können Beziehungen gestärkt und gepflegt werden.
  • Und das vierte Handlungsfeld findet sich in der Gemeinwesenarbeit. Gute Betreuung älterer Menschen ist demzufolge nicht auf das Daheim beschränkt, sondern bezieht das sozialräumliche Umfeld mit ein. Es geht um eine altersgerechte Gestaltung und «Bespielung» der Umgebung, die es erst ermöglicht, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Mit Blick auf diese Handlungsfelder stellt sich unweigerlich die Frage, in welchen Strukturen diese stattfinden sollen und wie diese zu finanzieren sind. Die Betreuung ist bis heute in der Schweiz rechtlich weitgehend unbestimmt. Es gibt kein nationales Gesetz, das Hilfe und Betreuung rahmen würde. Wer Betreuung (ohne Pflege und Hilfe) benötigt, muss diese selber organisieren und gegebenenfalls auch selber bezahlen. Es hängt von den kommunalen Gegebenheiten ab, wie weit das Gemeinwesen Aktivitäten der Betreuung unterstützt und finanziert. Dazu kommen lokale, kantonale und wenige schweizweite Organisationen, die sozialarbeiterisch im Altenbereich tätig sind. So wertvoll deren Engagement ist, so sehr wird auch deutlich, dass gerade das Moment der psychosozialen Betreuung vielerorts zu kurz kommt.

Psychosoziale Aspekte berücksichtigen

Allmählich rückt die «gute Betreuung im Alter für alle» in den Fokus der Sozial- und Alterspolitik. So bahnt sich im Nachgang zur Revision des Gesetzes über die Ergänzungsleistungen eine erste sozialpolitische Auseinandersetzung über das Verständnis von Betreuung in der Schweiz an. Eine Motion der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom August 2018 verlangt, dass die Ergänzungsleistungen auf das betreute Wohnen ausgedehnt werden. Damit wäre gerade für vulnerable ältere Menschen ein wichtiger Schritt getan. Soll diese Motion erfolgreich umgesetzt werden, wird es aber notwendig sein, zu klären, was gemeint ist, wenn von betreutem Wohnen die Rede ist, und wer demzufolge ein Anrecht auf Unterstützung für diese Wohnform hat. Schaut man sich die angelaufene Debatte zu dieser Thematik an, fällt auf, dass die Kriterien, die erfüllt sein müssen, um Anspruch auf betreutes Wohnen geltend machen zu können, sich neben der wirtschaftlichen Situation einmal mehr auf körperliche Einschränkungen konzentrieren.3 Psychosoziale Aspekte, wie sie hier mit den vier Handlungsfeldern guter Betreuung beschrieben werden, finden kaum Beachtung. Es ist von grosser Dringlichkeit, dass diesen Aspekten in der aktuellen Diskussion mehr Geltung verschafft wird. Sonst wäre eine Chance, gute Betreuung im Alter für alle zu ermöglichen, vergeben.


Carlo Knöpfel

 

1 Knöpfel, Carlo/Pardini, Riccardo/Heinzmann, Claudia, Gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Eine Bestandsaufnahme, Zürich 2018.

2 Pardini, Riccardo, Betreuung im Alter. Die grosse Lücke, in: Gurny, Ruth/Ringger, Beat/Seifert, Kurt (Hg.), Gutes Alter. Eine Gesellschaft des guten langen Lebens für alle, Zürich 2018, 51–58.

3 Imhof, Lorenz/Imhof, Romy Mahrer, Betreutes Wohnen in der Schweiz. Grundlagen eines Modells. Curaviva Schweiz. Senesuisse. Pro Senectute Schweiz. Spitex Schweiz 2019.

* Drittes und viertes Alter: Heute wird die Altersphase in eine dritte Lebensphase des aktiven Alters und eine vierte Lebensphase des hilfsbedürftigen Alters unterteilt. Diese Unterteilung erfolgt in der Altersforschung weniger nach Kriterien des chronologischen Alters als vielmehr nach Gesichtspunkten der Gesundheit und Alltagsbewältigung. Das dritte Alter kennzeichnet sich durch die Befreiung von beruflichen und familiären Verpflichtungen, gute Gesundheit und selbständige Lebensführung. Auch bei guten gesundheitlichen Voraussetzungen steigt mit zunehmendem Alter die Verletzlichkeit und das Risiko für geistige und körperliche Einbussen. Hilfe, Betreuung und Pflege werden nach und nach notwendig. «Die Betreuung ist bis heute in der Schweiz rechtlich weitgehend unbestimmt.»

 


Carlo Knöpfel

Dr. rer. pol. Carlo Knöpfel (Jg. 1959) studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel. Während 19 Jahren arbeitete er bei Caritas Schweiz. Seit dem Juni 2012 nimmt er eine Professur für Sozialpolitik und Sozialarbeit am Institut für Sozialplanung, organisationalen Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit in Basel wahr. Seine Schwerpunkte sind der gesellschaftliche Wandel und die soziale Sicherheit, Fragen zu Armut, Arbeitslosigkeit und Alter sowie der Beitrag der Zivilgesellschaft zur beruflichen und sozialen Integration.