Jung und fit bis ins hohe Alter?

Wie können Menschen angesichts der starken und omnipräsenten Anti-Aging-Bewegung gut und beherzt Ja sagen zum Prozess des Älterwerdens? Plädoyer für eine Lebenskunst des Alters.

Eine der herausforderndsten gesellschaftlichen Entwicklungen ist die demografische Alterung. Individuell werden wir immer älter. Und der prozentuale Anteil der Alten an der Bevölkerung wächst. Das löst ambivalente Gefühle aus: Zwar werden die jungen Alten als attraktive Konsumentengruppe entdeckt und bewirtschaftet. Aber eigentlich will niemand alt werden. Die Schriftstellerin Monika Maron dürfte vielen aus dem Herzen reden, wenn sie bekennt: «Natürlich will ich, was alle wollen: Ich will lange leben; und natürlich will ich nicht, was alle nicht wollen: Ich will nicht alt werden. Ich würde auf das Alter lieber verzichten. Einmal bis fünfundvierzig und ab dann pendeln zwischen Mitte Dreissig und Mitte Vierzig, bis die Jahre abgelaufen sind; so hätte ich die mir zustehende Zeit gerne in Anspruch genommen.»1 Alter wird weithin eher als etwas zu Verhinderndes wahrgenommen. Eine bewusste Lebenskunst des Alters zu entwickeln, liegt den meisten fern.

Anti-Aging versus Pro-Aging

Eine verbreitete Perspektive, mit der das Alter heute angegangen wird, ist die des sogenannten Anti-Agings. Eine riesige, bunt zusammengesetzte Anti-Aging-Bewegung schwappt seit einiger Zeit über die westliche Welt und offeriert unzählige Produkte und Dienstleistungen, um einem Juvenilitätsideal nacheifern zu können, das unter dem Motto «forever young» auftritt – nur ewig jung bleiben und ja nicht altern! Auch in der westlichen Schulmedizin hat Anti-Aging längst Einzug gehalten. Das Geschäft läuft, die Leute lassen sich die erhoffte Verhinderung des Alters etwas kosten. Nur: Altern lässt sich nicht verhindern. Leben heisst nun einmal altern. Und dank zivilisatorischem Fortschritt können die Menschen heute länger und gesünder altern als früher. War früher das Alter meist eine relativ kurze Phase des Ruhestands, eröffnet heute der Übergang ins Alter die Tür zu einer nachberuflichen Lebensphase, die einen Drittel der ganzen Lebenszeit ausmachen kann.
Die gerontologische Forschung machte deutlich: Alter ist ein unabgeschlossener Entwicklungsprozess mit Verlusten und Gewinnen; und Alter ist plastisch, es kann ein gutes Stück weit selbstbestimmt gestaltet werden. Aus der Sicht einer Ethik des guten Lebens empfiehlt es sich, das verantwortlich zu nutzen. Hermann Hesse schrieb einmal: «Das Altwerden ist nicht bloss ein Abbauen und Hinwelken, es hat, wie jede Lebensstufe, seine eigenen Werte, seinen eigenen Zauber, seine eigene Weisheit, seine eigene Trauer. Wir wollen uns doch nicht aufschwätzen lassen, das Alter sei nichts wert. Das Greisenalter ist eine Stufe unseres Lebens und hat wie alle anderen Lebensstufen ein eigenes Gesicht, eine eigene Atmosphäre und Temperatur, eigene Freuden und Nöte».2 Oder etwas moderner gesagt: Das Alter hat seine eigenen Potenziale, seine spezifischen Ressourcen, aber auch seine Grenzen und Herausforderungen. Diese können sich innerhalb des Alters nochmals markant verändern, etwa im Übergang vom jungen Alter (ab 65) in die Phase der Hochaltrigkeit (ab 85). Entscheidend ist, das Alter so zu leben – und zwar bejahend zu leben –, dass dessen spezifisches Potenzial entfaltet werden kann und es nicht damit vertan wird, möglichst lange so zu tun, als wäre man immer noch derselbe wie in jüngeren Jahren. Dem Alter ein eigenes Gepräge geben, so etwas wie eine Lebenskunst des Alters entwickeln, das ist die lebensfreundliche Alternative zu Anti-Aging. Die Gerontologie bezeichnet eine solche Haltung als Pro-Aging.3

Aspekte einer Lebenskunst des Alters

Zu einer Lebenskunst des Alters können verschiedene Aspekte gehören, zu denen Menschen im Alter wohl eher einen Zugang finden als in jüngeren Jahren, die aber im Sinne einer Lebenskunst auch bewusst einzuüben sind. Ein paar exemplarische Hinweise:

  • Selbstbestimmung und Abhängigkeit: Im Alter steigt das Risiko, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Das ist keine Tragik. Es gehört zum Menschsein, dass wir der Unterstützung durch andere bedürfen. Der Medizinethiker Daniel Callahan gibt zu bedenken: «Früher oder später, für längere oder kürzere Zeit, werden wir von anderen abhängig sein. Ein Selbst lebt in der ständigen Spannung zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Beide sind ein Teil von uns. Die Unabhängigkeit mag uns ein besseres Gefühl geben. Trotzdem bleibt sie nur die halbe Wahrheit unseres Lebens.»4 Wie wir auch bei wachsender Abhängigkeit unser Leben im Alter gestalten wollen, bleibt aber in hohem Mass unserem selbstbestimmten Planen und Entscheiden überlassen. Die Kunst, eine gute Balance zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit zu finden, dürfte im Alter zu einer besonderen Herausforderung werden.
  • Freiheit: Im Alter können Menschen nicht nur äusserlich durch Entlastung von beruflichen und familiären Verpflichtungen, sondern auch innerlich grössere Freiheit gewinnen: Man muss niemandem mehr etwas beweisen, muss nicht mehr überall mitwirken und am Ball bleiben. Sein wird wichtiger. Hesse spricht diesbezüglich von einer bei manchen Alten ausgeprägteren vita contemplativa, die die bisherige vita activa ablöst oder ergänzt.
  • Generativität: Alte Menschen wollen bis zuletzt durch innerfamiliäre Unterstützung der jüngeren Generation, Freiwilligenarbeit, beratende oder einfach wohlwollend-interessierte Begleitung von Mitmenschen generativ sein. Bedeutsam sind alte Menschen insbesondere, wenn es ihnen gelingt, durch die Art, wie sie mit dem Alter, seinen Chancen und Schwierigkeiten umgehen, ermutigende Vorbilder für Jüngere zu werden. Das werden sie allerdings nur, wenn sie nicht «auf jung machen», sondern zum Alter mit allem, was es beinhaltet, Ja sagen.
  • Umgang mit den passiven Seiten des Lebens: Alte können in der Regel besser als Junge mit den passiven Seiten des Lebens umgehen, mit dem, was einem schicksalhaft widerfährt. Passivität ist eine Grunddimension des Lebens, die aber in unserer westlichen Gesellschaft mit ihrem einseitigen Akzent auf dem Machen und Leisten eher geringgeschätzt wird. Eine rezeptive, Aspekte des Empfangens und Mit-sich-geschehen-Lassens betonende Lebenshaltung ist uns fremd geworden. Es gehört zu den Erfahrungen im Alter, besonders im hohen Alter, solche Aspekte stärker gewichten und sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Damit einher gehen kann eine stärkere Haltung der Gelassenheit und des Loslassen-Könnens von Dingen, von Positionen, von Ideen oder von Menschen.
  • Bewältigung von Grenzen und Verlusten: Zum Sich-Einlassen auf die passiven Seiten des Lebens gehört auch das Entwickeln von Fähigkeiten im Umgang mit Erfahrungen von Grenzen und Verlusten. Mehr als in jüngeren Jahren fordert das Alter heraus, eine Kunst des «zärtlichen Umgangs mit eigener und fremder Verletzlichkeit» einzuüben, wie Judith Giovannelli-Blocher einmal sagte: nicht in einer sich beklagenden Opferhaltung, sondern in der Haltung «aufrechten Leidens», in der nach Viktor E. Frankl, dem Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, höchste Sinnwerte verwirklicht werden können.
  • Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit: Schliesslich liegt es auf der Hand, dass die Entwicklung einer ars moriendi, also einer Haltung, die sich mit dem eigenen Sterben anzufreunden vermag, unverzichtbarer Teil einer Lebenskunst des Alters ist. Denn was im Leben grundsätzlich gilt, dürfte sich im Alter ganz besonders bewahrheiten: «Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben».5 Wer das Leben aber im Licht seines kommenden Todes lebt, wird es intensiver auskosten, ohne sich daran festklammern zu müssen.

Eine gesellschaftliche Herausforderung

Alte Menschen können eine wichtige Aufgabe in einer Gesellschaft wahrnehmen, wenn sie ihr Alter in einer Haltung des Pro-Agings bejahen und bewusst leben. So können sie Erfahrungen machen, Einsichten gewinnen und Fähigkeiten entwickeln, die nicht nur ihr eigenes Leben fruchtbar vertiefen und erweitern, sondern auch für andere hilfreich werden, weil sie Aspekte des Lebens zum Tragen bringen, die in unserer heutigen Gesellschaft eher an den Rand zu geraten drohen.
Die demografische Alterung der Gesellschaft erfordert ein Umdenken hin zu einer neuen Wahrnehmung des Alters als einer gesellschaftlichen Chance und Herausforderung.6 Dazu gehört allerdings, dass wir als Gesellschaft Rahmenbedingungen schaffen, die ältere Menschen mit ihren spezifischen Ressourcen und Qualitäten ernst nehmen und ihnen Möglichkeiten bieten, diese zum Wohle der Gesellschaft einzubringen.

Heinz Rüegger

 

1 Maron, Monika, Ich will, was alle wollen. Gedankengänge eines alten Kindes, in: Steinfeld, Th. (Hg.): «Einmal und nicht mehr». Schriftsteller über das Alter, Stuttgart 2002, 22–27, hier 22.26.

2 Hesse, Hermann, Mit der Reife wird man immer jünger. Betrachtungen und Gedichte über das Alter, hg. v. V. Michels, Frankfurt a. M. 1990, hier 54.68.

3 Vgl. Kruse, Andreas, Plädoyer für ein Pro-Aging, Informationsdienst Altersfragen, 40/5 (2006), 4–7.

4 Callahan, Daniel, Nachdenken über den Tod. Die moderne Medizin und unser Wunsch, friedlich zu sterben, München 1998, hier 174.176.

5 Lütz, Manfred, Vom Gesundheitswahn zur Lebenslust, in: Lederhilger, S. J. (Hg.), Gott, Glück und Gesundheit. Erwartungen an ein gelungenes Leben, Bern 2005, 32–54, hier 52.

6 Vgl. Gross, Peter, Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu? Vier Annäherungen, Freiburg i.Br. 2013.

 

 


Heinz Rüegger

Dr. Heinz Rüegger (Jg. 1953) ist freischaffender Theologe, Ethiker und Gerontologe sowie Autor zahlreicher Publikationen, v.a. zu ethischen Fragen im Bereich des Alter(n)s und des Sterbens. Er ist assoziiertes Mitglied des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich.
(Bild: Monika Stock)

 

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