Präsenz in der letzten Stunde?

Leitlinien für die seelsorgerliche Begleitung von Menschen, die durch einen assistierten Suizid aus dem Leben scheiden wollen, sind dringend gefragt.

Selbst in einer Landpfarrei mit 1600 Katholiken bin ich in der seelsorgerlichen Begleitung kranker Personen mit der Situation konfrontiert, dass Einzelne einen Exit-Ausweis besitzen. Und sogleich steht die Frage im Raum: Wie soll ich als Seelsorger auf Patientenbitten, die mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid zusammenhängen, reagieren?

Meines Erachtens sind für die ganze Kirche geltende Leitlinien für die seelsorgliche Begleitung von Personen, die den assistierten Suizid wünschen, längst überfällig. Schliesslich sind nicht nur Seelsorger in der Schweiz mit dem Problem konfrontiert, sondern auch in Belgien, den Niederlanden, in Kanada und Australien, um nur einige Länder zu nennen. Die Bioethikkommis- sion der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) befasst sich seit einiger Zeit mit der Frage nach der seelsorgerlichen Begleitung von Personen, die mit einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden wollen.

Zwei Beispiele aus der Praxis

Das erste Mal wurde ich in der Seelsorge mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid konfrontiert, als ich zu einer kranken Person nach Hause gerufen wurde, welche die heilige Krankensalbung wünschte. Erst im Seelsorgegespräch stellte sich heraus, dass die Person beabsichtigte, mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben zu scheiden. Ich war etwas überrumpelt und sondierte zunächst, ob die Person einen konkreten Plan oder gar schon einen Termin für das Vorhaben hatte. Das war nicht der Fall. Ich erklärte, dass ich die heilige Krankensalbung nur im Hinblick auf ihren natürlichen Tod spenden könne, nicht aber als Vorbereitung auf einen assistierten Suizid. Aufgrund des Gesprächs hatte ich begründete Zweifel, ob die Person den Schritt tatsächlich durchführen würde. Daher spendete ich das Sakrament und schloss die Ängste der Person besonders in die Fürbitten ein. Etwa zwei Wochen später besuchte ich die Person im Spital. Der Wunsch, in Zukunft assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen, war nach wie vor da. Ihr Gesundheitszustand besserte sich wieder, sodass die Person nach Hause entlassen werden konnte. Etwa zwei Monate später klingelte es an der Pfarrhaustüre und die Person bedankte sich bei mir für die Betreuung. Einige Jahre später starb sie eines natürlichen Todes.

Eine andere Person, die ich in ihrer Krankheit mit der heiligen Krankensalbung und der heiligen Kommunion über einen längeren Zeitraum begleitet hatte, rief mich an. Sie erklärte mir, dass sie einen Termin mit einem Sterbehelfer von Exit habe, und wünschte ausdrücklich mein Beisein,  wenn sie das tödliche Mittel einnehmen würde. Ich erklärte ihr, dass ich stets bereit sei, sie in ihrer schwierigen Lage seelsorglich zu begleiten. Doch bei diesem einen Schritt könne ich als Pfarrer nicht dabei sein, denn das würde als Zustimmung meinerseits aufgefasst. In einem längeren Gespräch begründete ich meine Haltung und riet der Person davon ab, den assistierten Suizid zu vollziehen. Auch sie machte schliesslich keinen Gebrauch vom assistierten Suizid und lebt heute noch.

Begleitung während des Sterbens möglich?

Aus verschiedenen Diskussionen heraus ist mir bewusst, dass nicht alle katholischen Seelsorger beim zweiten geschilderten Fall so reagieren würden. Manche sind der Auffassung, dass es den Seelsorgern selbst überlassen sein sollte, ob sie Menschen bei ihrem assistierten Suizid begleiten. Sie gehen davon aus, dass die Person den seelsorglichen Beistand auch nach der Einnahme des tödlichen Mittels benötigt. Da in der Regel eine tödliche Dosis des Schlafmittels Na- triumpentobarbital eingenommen wird, dürfte die Person relativ schnell nach der Einnahme nicht mehr ansprechbar sein. Im Durchschnitt tritt der Tod nach 30 Minuten ein. Es gibt aber auch Komplikationen, wonach gemäss einer Studie aus den Niederlanden der Zeitraum von der Einnahme bis zur Todesfeststellung in einigen Fällen bis zu sieben, ja sogar bis zu 14 Tagen dauerte.1 Aufgrund der Komplikationen wurde bei 18 Prozent der Fälle mit beabsichtigtem assistiertem Suizid schliesslich die Tötung auf Verlangen durchgeführt. Wird das tödliche Mittel via Infusion mit einem Drehhahn, den die Person selber bedient, in die Vene eingeleitet, tritt der Tod schneller ein.

Grenzen der Selbstbestimmung

Die ablehnende Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem assistierten Suizid ist bekannt. Die freiwillige Selbsttötung steht zum Leben selbst im Gegensatz (Zweites Vatikanisches Konzil, «Gaudium et spes» 27). In der Enzyklika «Evangelium vitae» (66) heisst es: «Die Selbstmordabsicht eines anderen zu teilen und ihm bei der Ausführung durch die sog. ‹Beihilfe zum Selbstmord› behilflich zu sein, heisst, Mithelfer und manchmal höchstpersönlich Täter eines Unrechts zu werden, das niemals, auch nicht, wenn darum gebeten worden sein sollte, gerechtfertigt werden kann.»
Der Anspruch auf Selbstbestimmung überschreitet hier eine Grenze. Der Respekt vor der Selbstbestimmung eines Suizidwilligen kann nicht so weit gehen, dass sich eine Drittperson verpflichtet fühlt, bei der Ausübung seines ethisch nicht zu verantwortenden Vorhabens helfen zu müssen. Das betrifft die sogenannten Sterbehelfer. Über die Rolle der Seelsorger ist damit nichts gesagt.

Seelsorgerliche Präsenz und ihre Wirkung

Wie im zweiten Fall geschildert, wünschte sich die suizidwillige Person die Präsenz des Seelsorgers. Welche Signalwirkung hätte diese Präsenz? Sie würde von der betroffenen Person und ihrem Umfeld als implizite Zustimmung des begleitenden Seelsorgers aufgefasst. Manche Seelsorger vertreten den Standpunkt, dass sie beim freiwilligen Scheiden aus dem Leben gegenwärtig sein können. Vorausgesetzt, dass die Gespräche mit der suizidwilligen Person erfolglos verlaufen, die Möglichkeiten der Palliative Care ausgeschöpft sind und die persönliche Ablehnung des assistierten Suizids gegenüber der Person und ihrem Umfeld klar deklariert ist. Aus meiner Sicht hingegen ist für den Seelsorger der Zeitpunkt gekommen, das Zimmer zu verlassen, sobald ein sogenannter Sterbehelfer mit der tödlichen Dosis das Zimmer einer suizidwilligen Person betritt.

Wenn ich jeweils ans Bett eines natürlich sterbenden Menschen gerufen werde, bete ich zusammen mit ihm und den Angehörigen. Das vermag ich bei Personen, die gerade mit Natrium- pentobarbital oder einem ähnlichen Mittel aus dem Leben scheiden, aus innerer Überzeugung nicht. Ihre Handlung steht gänzlich im Widerspruch zum Vaterunser: «dein Wille geschehe …» – die Person setzt bei vollem Bewusstsein und freiwillig einen Akt, der letztlich eine Zurückweisung der absoluten Souveränität Gottes über Leben und Tod darstellt.2

Umgang mit Sterbefasten

Eine ähnliche Herausforderung stellt die Seelsorge bei jenen Personen dar, die mit dem sogenannten «Sterbefasten» aus dem Leben zu scheiden beabsichtigen. Mit Sterbefasten ist der bewusste Verzicht auf Essen und Trinken gemeint, obwohl dies noch möglich wäre. Bei einer Tagung der Paulus-Akademie3 im März diesen Jahres präsentierte eine für Palliative Care spezialisierte Krankenschwester einen Fall: Ein rüstiger, 86-jähriger Mann hatte sich durch Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit das Leben genommen. Ein Palliative-Care-Team betreute ihn, der zu Hause sterben wollte, zeitweise rund um die Uhr. In seiner Patientenverfügung, die er zu Beginn des Sterbefastens erstellt hatte, hinterliess er die Anweisung, dass ihm das Care- Team weder Flüssigkeit noch Nahrung geben dürfe, wenn er in einem allfälligen Zustand der Urteilsunfähigkeit (Delirium durch Wassermangel) danach verlangen sollte. Eine solche Patientenverfügung führt zu rechtlichen Konflikten. Denn mit ihr ist einerseits das Umfeld angehalten, die Intention der sterbefastenden Person auszuführen. Aber andererseits stellt sich die Frage, ob die Nichtzuführung von Flüssigkeit oder Nahrung eine strafbare Tötung auf Verlangen durch Unterlassung einer Hilfeleistung ist.

Es ist durchaus möglich, dass wir Seelsorger zu einer sterbefastenden Person gerufen werden. Auch in diesem Fall ist das Beten des Vaterun- sers aus meiner Sicht nicht kompatibel mit der Haltung der Person: «... dein Wille geschehe ... unser tägliches Brot gib uns heute ...». Vielleicht ist es gerade das Vaterunser, das uns hilft, einfühlsam als Seelsorger aufzuzeigen, dass der Entscheid für das Sterbefasten, auch wenn er selbstbestimmt und urteilsfähig zustande gekommen ist, mit unserer christlichen Haltung gegenüber Gott nicht in Einklang zu bringen ist.

Roland Graf

 

1 Groenewoud, J. H. u. a., Clinical Problems with the Performance of Euthanasia and Physician-assisted Suicide in the Netherlands, in:
  N Engl J Med 342 (2000) 551–556.

2 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika «Veritatis splendor», Nr. 80.

3 «Sterbefasten: Zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende», Paulus-Akademie vom 8. März 2018.

 


Roland Graf

Dr. Roland Graf (Jg. 1961) studierte nach mehrjähriger Berufstätigkeit als Chemiker HTL in Chur Theologie und promovierte 2003 an der Katholisch-Theologischen Fakultät Augsburg in Moraltheologie. Er ist Pfarrer von Unteriberg und Studen SZ, Mitglied der Bioethikkommission der SBK und der Redaktionskommission der SKZ.