Eine Umarmung, ein Gebet, ein Sterbesegen

Terminale Patienten und ihre Bezugspersonen zu begleiten, bedeutet, sich mit ihnen der letzten und grössten Zumutung des Lebens zu stellen.

So unterschiedlich Menschen ihr Leben gestalten, so individuell gehen Menschen auch wieder von dieser Welt. Dieser Tatsache gilt es auch in der seelsorgerlichen Begleitung am Lebensende Rechnung zu tragen.

Fragen vor der Begegnung

Kenne ich den Patienten bereits, zu dem ich gerufen oder auf Bitte der Pflege ins Zimmer gebeten werde? Bin ich in dieser schwierigen Situation des Abschiednehmen-Müssens überhaupt erwünscht oder war es eher der Eindruck der Pflege, dass Seelsorge hier hilfreich sein könnte? Wenn diese Fragen geklärt sind, stellen sich weitere: Konnte ich ihn oder sie auf dem Krankheitsweg bereits vorher begleiten oder kommt es erst in der terminalen Phase zu einem Kontakt mit mir als Spitalseelsorger? Gibt es Bezugspersonen des Patienten, die ich schon kenne, oder werde ich in ein Spitalzimmer gerufen, wo ein emsiges Kommen und Gehen herrscht, so wie ich es bei südländischen Familien schon erfahren habe? Wer gehört zum engeren Familienkreis, wer ist vor allem freundschaftlich mit der Familie verbunden? Hier wird mein systemisches Auge sehr gefordert, um diese Zusammenhänge möglichst bald zu erfassen … Aus all diesen Fragestellungen wird gut ersichtlich, dass es für mich als Spitalseelsorger nicht die Sterbebegleitung gibt, die ich quasi auf Lager und dementsprechend anzubieten habe.

Bedingt durch die Tatsache, dass terminale Patienten meist nicht mehr in der Lage sind, längere Sätze zu sprechen oder viel von sich zu erzählen, ist es für mich sehr hilfreich, wenn Bezugspersonen da sind, die schildern können, was diesen Menschen im Leben erfüllt und getragen hat, aber auch, was für ihn alles andere als einfach war.

Beten und Segnen

Via E-Mail eines Priesterkollegen erhalte ich die Nachricht, dass er letzte Nacht im Pikettdienst einen Einsatz auf der Neurochirurgie hatte: Bei einer Patientin, die vor Tagen eine schwere Hirnblutung erlitt und deshalb auf der Intensivstation lebenserhaltend behandelt worden war, weisen alle Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass ihr Hirn irreversibel geschädigt ist. Aus diesem Grund wird sie von der Herz-Lungen-Maschine genommen und auf die neurochirurgische Bettenstation verlegt. Eine ihrer Schwestern, die die Patientin oft besucht, wünscht sich für sie die Krankensalbung. Am darauf folgenden Morgen treffe ich die beiden Schwestern im Patientenzimmer an. Frau B. hat immer wieder Aussetzer in der Atmung. Liebevoll fährt Frau S. ihrer sterbenden Schwester übers Haar und erzählt aus ihrem Leben. Während sie sie so würdigt, macht Frau B. ihren letzten Atemzug. Stille, eine Art heilige Ruhe kommt über uns …

Auf Wunsch von Frau S. spreche ich einen Sterbesegen, und beim gemeinsamen Vaterunser reichen wir einander die Hand. Ich lade Frau S. ein, dabei auch ihre eben verstorbene Schwester bewusst einzubeziehen. In dem Augenblick, wie sie ihr mit Weihwasser das Kreuzzeichen auf die Stirn zeichnet, laufen ihr die Tränen über die Backen. Ich spüre eine grosse Verbundenheit der beiden auch über den Tod hinaus.

Zwei Tage später bittet mich Frau S., die Abdankung für ihre Schwester zu übernehmen. Obwohl ich bei solchen Anfragen in der Regel sehr zurückhaltend bin, da sie nicht zu meinem eigentlichen Tätigkeitsfeld als Spitalseelsorger gehören, spüre ich, dass ich in diesem Moment nicht Nein sagen kann. Hier ist eine innere Verbundenheit beim Heimgang der Schwester entstanden, die ihren stimmigen Abschluss in der Abdankung zusammen mit Menschen, die ihr viel bedeuten, findet.

Eine Umarmung und ein Holzherzchen

Auf der dermatologischen Abteilung betreue ich vor allem Patienten, die ein Krebsleiden haben. Einige sehe ich nicht nur stationär, sondern auf Wunsch auch ambulant. Das ist auch bei Frau N. der Fall. Vor drei Jahren wurde bei ihr ein Melanom (schwarzer Hautkrebs) entdeckt, das inzwischen trotz einiger Therapien in verschiedenen Organen Metastasen gebildet hat. Am Vorabend ihres plötzlichen Versterbens führte ich mit ihr ein langes Gespräch. Sie hatte grosse Hoffnung, noch eine Zeit lang leben zu dürfen und so weiterhin für ihre Familie (Ehemann und zwei Söhne anfangs 20) da sein zu können. Über Nacht verschlechterte sich ihr Zustand massiv. In ihrer Patientenverfügung hatte sie festgelegt, dass sie in so einem Fall keine Reanimation und keine Intensivbehandlung mit Anschluss an die Herz-Lungen-Maschine wünscht, sondern pal- liativ betreut werden möchte. Wie ich am Morgen zu ihr ins Patientenzimmer komme, ist sie bereits verstorben. Der Ehemann und die beiden Söhne stehen verloren im Zimmer herum und sind stark mit ihren Handys beschäftigt. Wie ich ihnen vom gestrigen Gespräch mit Frau N. erzähle, hören sie interessiert zu. Angebote, miteinander ein Gebet zu sprechen oder das Weihwasser zu reichen, kommen zumindest in dem Moment nicht bei ihnen an. Der Schock über den plötzlichen Tod von Frau N. steht jetzt im Vordergrund. «Vielleicht möchte jemand noch allein eine gewisse Zeit mit der Verstorbenen im Zimmer verbringen?» Dieser Vorschlag passt! Bevor ich mich verabschiede, gebe ich Herrn N. eines unserer Herzchen aus Olivenholz in die Hand – als Sinnbild der Liebe, die sie einander geben konnten und die nach meiner Überzeugung auch im Tod nicht stirbt … Herr N. nickt nur kurz und umarmt mich stumm, ebenso seine beiden Söhne.

Ein paar Wochen später sehe ich die drei im Trauercafé wieder, das von der dermatologischen Klinik interdisziplinär von der Pflege und der Seelsorge angeboten und geleitet wird. Zusammen mit anderen Angehörigen, die einen lieben Mitmenschen durch den Tod verloren haben, steht hier ein Gefäss zur Verfügung, wo ein Austausch über das Erlebte, aber auch über das, was jetzt besonders schwierig ist, in einem geschützten Rahmen ermöglicht wird.

Und wenn ich nicht mehr leben mag?

Tatsache ist, dass jährlich mehr Menschen einer Sterbehilfeorganisation angehören und durch einen assistierten Suizid aus dem Leben scheiden wollen. Gemäss meinem Wissensstand haben Sterbehilfeorganisationen wie Exit oder Dignitas keinen Zutritt in Zürcher Spitäler. Wollen Patienten mit assistiertem Suizid aus dem Leben scheiden, muss dies ausserhalb des Spitals geschehen, sei es zu Hause, in einem Pflegeheim oder in einem speziell dafür eingerichteten Zimmer anderswo. Dennoch bin ich in meiner seelsorgerlichen Tätigkeit am Universitätsspital Zürich mit dieser Thematik konfrontiert und Patienten stellen mir Fragen wie: «Wenn mir mein Leben nicht mehr lebenswert vorkommt, möchte ich ihm vorzeitig ein Ende setzen. Ich möchte nicht zuschauen müssen, wie mein Körper mehr und mehr zerfällt. Ist das nicht würdelos?», «Tieren gibt man in hoffnungslosen Fällen eine Spritze zum Einschlafen für immer, und ich soll das nicht bekommen? Warum soll ich mir nicht das Recht herausnehmen, meinen Tod selber zu bestimmen, wenn ich nicht mehr leben mag?» Daraus ergeben sich Gespräche für und wider das Angebot von Palliative Care und jenes einer Sterbehilfeorganisation. Selbstverständlich äussere ich auch meine eigene Meinung, wenn ich danach gefragt werde, und die ist nicht für den assistierten Suizid, sondern für eine möglichst umfassende Betreuung im Sinn von Palliative Care zu Hause oder auch im stationären Bereich.

Persönlich wurde ich bislang noch nie angefragt, jemanden, der mit einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden will, seelsorgerlich bis zum Lebensende zu begleiten. Wenn mich nun ein Patient bitten würde, würde ich ihn bestimmt nicht im Stich lassen, und dies nicht, weil ich sein Handeln gutheisse. Ich bin jedoch zutiefst davon überzeugt, dass Gott einen Menschen, der nicht mehr weiterleben mag, nie aufgibt. Warum sollte ich dann als Seelsorger einen sterbewilligen Patienten im Stich lassen, wenn er nach mir fragt?

Der Zumutung des Lebens begegnen

Zusammengefasst geht es in meiner Seelsorgepraxis – nicht nur am Lebensende! – darum, herauszufinden, was diesen Menschen in ihrer Notsituation gut tut, was sie im Moment brauchen können. Erspüre ich es nicht oder nicht sofort, so frage ich konkret nach. Gerade die Tatsache, dass Themen wie Sterben und Tod mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen, aber auch aus dem persönlichen Umfeld und Erfahrungsbereich verschwinden und an «Spezialisten» abdelegiert werden, macht die Begleitung nicht einfacher.

Und doch: Oft helfen in der Erfahrung von Ohnmacht und vom endgültigen Abschiednehmen-Müssen nicht nur Worte, sondern auch Gesten, Zeichen und Symbole oder die «rites de passage», wie es im Französischen heisst. Dazu gehören nach wie vor auch die Kranken- und Sterbesakramente sowie Segnungen, wenn sie eine Bedeutung im Leben des betroffenen Menschen und seiner Bezugspersonen haben, vielleicht auch ein passendes Wort dazu aus der Bibel. Mit Angehörigen oder allein mit einem sterbenden Patienten gerade auch in Stille das auszuhalten, was uns hier im wahrsten Sinn des Wortes zugemutet wird, sind für mich tiefe Erfahrungen, die mich nach fast 20 Jahren Tätigkeit in der Spitalseelsorge enorm geprägt haben.

Alberto Dietrich


Alberto Dietrich

Alberto Dietrich (Jg. 1961) studierte katholische Theologie in Freiburg (Schweiz) und Innsbruck (lic. theol.), besuchte Seelsorgekurse in CPT und machte die Ausbildung in Krankenpflege AKP. Er arbeitete in der Pfarreiseelsorge (1992–1999 in Hergiswil LU) und ist seit 1999 in der katholischen Spitalseelsorge im Kanton Zürich tätig: 1999–2013 am Kantonsspital Winterthur, seit 2013 am Universitätsspital Zürich, seit 2015 auch im Careteam dieses Spitals.