Barmherzigkeit: Prägender Wert auch im Koran

Der medial-verzerrte Blick verdrängt, dass auch der muslimische Glaube sich von der Barmherzigkeit Gottes umfangen weiss. Eine textkritische Lektüre des Korans geschieht dabei schon zur klassischen Zeit über die Zeit arabischer Mystik bis in die Gegenwart. Sie verfolgt das Ziel, hermeneutisch «das Alte neu (zu) entdecken» und das islamische Denken permanent zu reformieren.1 Dafür steht auch Mouhanad Khorchide. Er zeigte sich nicht erfreut über den «repressiven Kriegsgott» der Salafisten, der «sich lediglich für Oberflächlichkeiten wie die Kleiderordnung interessiere». Zwar unterscheiden sich Christen und Muslime in ihren Ritualen und dem christlichen Verständnis der Dreieinigkeit Gottes. Überraschend ist Korchides Aussage: «… Wenn es um die Suche nach der Vollkommenheit des Menschen geht, nach Nächstenliebe, der Liebe Gottes, dann sehe ich mich in diesem Sinne genauso als Christ.» Denn: «Mohammed hat nie gesagt, er sei Stifter eines neuen Weges. Er hat immer betont, dass die Botschaft dieselbe ist.»2

Auch der Friedenspreisträger Kermani sieht in seinen Büchern «Ungläubiges Staunen» und «Der Schrecken Gottes» überraschende Parallelen von Christentum und Islam. Die bei uns bekannte Verklärung des Leidens findet er auch bei den Schiiten und verdeutlicht zum Wert der Barmherzigkeit: «Mit dem Christentum verbindet man zu Recht den Begriff der Nächstenliebe, aber man macht sich im Westen und nicht einmal unter Wissenschaftlern, die mit Texten arbeiten, klar, wie tief der Begriff der Barmherzigkeit das alltägliche Handeln vieler Muslime prägt. Es ist das religiöse Moment der Barmherzigkeit, durch das die Dinge des Lebens wie des Glaubens weicher, flexibler, durchlässiger werden, als sie allein dem Wort nach sein dürften. Dabei geht die Barmherzigkeit ebenfalls auf das Wort zurück, ist sie das häufigste Motiv im Koran, wie die Mystiker stets betonten, und den Dogmen und Gesetzen als Widerpart mitgegeben.»3

 

 

1 Katajun Amirpur: Die Hermeneutik als traditionelle islamische Wissenschaft. Das Alte neu entdecken. In: Praktische Theologie 49 (2014), S. 143–150, und Ulrike Bechmann: Die Barmherzigkeit Gottes im Islam. Beitrag aufgenommen auf www.al-sakina.de/inhalt/artikel/amg/bechm/ bechm.html (Zugriff 21. 10. 2016).

2 Kipa 6. Januar 2013 und Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg i. B. u. a. 2013.

3 Navid Kermani: Ungläubiges Staunen, München, 10. Aufl. 2016. Folgendes Zitat aus ders.: Der Schrecken Gottes, Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2005/2008, S. 16.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)