Vor allem durch seine Mundartgedichte nimmt Kurt Marti in der Literaturgeschichte eine unbestrittene Stellung ein. «Rosa Loui. Vierzg Gedicht ir Bärner Umgangssprach» (1967) dürfte der bestverkaufte Schweizer Gedichtband des Jahrhunderts gewesen sein. Einer der Texte dieser Sammlung – «wo chiemte mer hi» – war so erfolgreich, dass er sich von seinem Autor emanzipiert hat und als prägnanter lyrischer Appell auch anonym anzutreffen ist: «wo chiemte mer hi / wenn alli seite / wo chiemte mer hi / und niemer giengti / für einisch z’luege / wohi dass me chiem / we me gieng.» Mit den «Leichenreden» (1969) gelang dem Autor ein weiterer Klassiker. Zu Recht werden die Gedichte im Klappentext der aktuellen Ausgabe als «Nekrologe jenseits aller Abdankungsrhetorik» bezeichnet: «Selten wurde so offen über den Tod und die Trauer geschrieben.» Aber auch im hohen Alter, 2010, zog Marti mit einem Buch grosse Aufmerksamkeit auf sich: «Notizen und Details», die Sammlung seiner gleichnamigen, über vierzig Jahre lang verfassten Kolumnen für die Zeitschrift Reformatio, wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Der mehr als 1400 Seiten starke Band gilt vielen als Martis essayistisches Hauptwerk. Tatsächlich gibt es wohl kein anderes Buch, das über einen so langen Zeitraum aus der Schweiz die jeweils aktuellen lokalen wie globalen kulturellen, kirchlichen und politischen Ereignisse so scharfsinnig begleitet hat. Umso erfreulicher, dass dieses Marti-Brevier aus Anlass des 100. Geburtstags im Wallstein Verlag neu aufgelegt wird.
Selbst verfasster Nachruf
Das folgende Porträt möchte sich dem Dichter und Denker Marti nun aber anhand eines gänzlich unbekannten, aber zugleich ganz charakteristischen Textes annähern. Was für die «Rosa Loui»-Gedichte gilt, die wegweisend waren für die Entwicklung der «modern mundart» (Walter Vogt), gilt ganz generell: Marti war bereit zu Experimenten und hat in seinem literarischen wie theologischen Werk mutig und erfolgreich nach neuen, der Gegenwart gemässen Ausdrucksweisen gesucht. So verwundert es denn auch nicht, dass er 1970 bereit war, sich an einem aparten Buchprojekt zu beteiligen, nämlich der Sammlung «Vorletzte Worte». Der Autor und Journalist Karl Heinz Kramberg hatte ausgewählte Autorinnen und Autoren eingeladen, unter ihnen etwa auch Gabriele Wohmann und Uwe Johnson, zu Lebzeiten ihren eigenen Nachruf zu verfassen. Marti hat auf die Einladung seinerseits apart reagiert mit dem Beitrag «Nach Penndels Rezept»1. Der Beitrag ist zweispaltig gesetzt und erweckt durch die zahlreichen kurzen Texteinheiten und durch verschiedenste technische Daten auf den ersten Blick kaum den Eindruck dessen, was er effektiv ist: ein scharfsinniges Selbstporträt. Der Titel wie die Machart des Textes erklären sich durch eines der beiden Zitate, das ihn eröffnet: «Kein Geflunker, Dokumente! Alfred Penndel.» Diesem Appell gehorcht der Text – auch wenn der heranzitierte Alfred Penndel seinerseits ein Geflunker zu sein scheint (Google kennt ihn jedenfalls nicht).
Martis dreiteilige Nachruf-Collage beginnt denn auch mit einer Sammlung von Dokumenten in einem strengen Sinn: Der Autor zitiert aus seinem Dienstbüchlein («Krankheiten oder Gebrechen: Brillenträger»), seinem Abgangszeugnis an der Universität («Derselbe hat … zu keinen Beschwerden über sein sittliches Verhalten Anlassung gegeben»), aus der Rechnung des Zivilstandsamts Langenthal für die Eheschliessung mit Hanni Morgenthaler («Trauung ausserhalb des Wohnsitzes des Bräutigams: 10 Fr.») und weiteren amtlichen Unterlagen. Der sachliche Hinweis auf eine Heirat muss allerdings um den Hinweis ergänzt werden, dass es sich hier um eine grosse Liebe gehandelt hat. Davon zeugen «Ein Topf von Zeit» (2008) – Kurt Martis autobiografische Aufzeichnungen zu den Jahren 1928 bis 1948 – ebenso wie die nachgelassenen Gedichte, die unter dem Titel «Hannis Äpfel» in Kürze gleichfalls im Wallstein Verlag erscheinen. Die zehn Jahre nach Hannis Tod waren für den «schlechten Witwer» («Spätsätze», 2010) eine lange Zeit.
Umstrittenes politisches Engagement
Auf die erwähnten Dokumente folgt als zweiter Teil – «Kommentare» – eine Sammlung von 15 durchgängig kritischen Stellungnahmen zu Martis Werk und seinem politischen Engagement. Der sechste Beitrag zitiert aus einem anonymen Schreiben, die er offensichtlich regelmässig erhielt: «Merken Sie denn wirklich nicht, dass Sie (hoffentlich gutgläubig) nichts anderes als Moskaus dreckige Arbeit verrichten …? Möchten Sie gerne in einem sibirischen oder chinesischen Arbeitslager verrecken? M. St. in L., 18.4.1967.» Marti zitiert aber auch Kritiker, die seine Lyrik in lyrischer Form angreifen, um – wenig überzeugend – deren Verfahrensweisen vorzuführen: «Blöd isch de Marti / Und er isch Pfarrer / Blöd isch de Pfarrer / S’isch halt de Marti, Anonymus in B., 7.7.1969.» Wie sehr der Pfarrer der Berner Nydeggkirche als erfolgreicher Autor und öffentliche Person polarisierte, zeigte sich allerdings erst 1972: Die von der Theologischen Fakultät beschlossene Berufung Martis auf den Lehrstuhl für Homiletik wurde vom Berner Regierungsrat verhindert. Seine linkschristliche Agenda führte in der Hochzeit des Kalten Krieges gar zu einem Prozess. Marti hatte den selbst ernannten Staatsschützer Ernst Cincera in seinem «politischen Tagebuch» «Zum Beispiel: Bern 1972» eine «Eiterbeule» genannt. Cincera klagte erfolgreich wegen Ehrverletzung; die Bezeichnung musste in späteren Auflagen gestrichen werden. Typischer als die Rede von einer «Eiterbeule» ist für Marti freilich der Umgang mit den Angriffen in Leserbriefen oder anonymen Beschuldigungen: Sie werden nicht argumentativ entkräftet, sondern spielerisch in das eigene Schreiben integriert. Wer Ironie, subtilen Witz, aber auch entschiedene Bekenntnissätze oder eingestandene Ratlosigkeit schätzt, wird bei Marti nicht zu kurz kommen.
Schöpfungs- und Friedenstheologe
Der dritte Teil von «Nach Penndels Rezept» bietet schliesslich elf «Nachträge des nachgerufenen Selbst». Der erste Nachtrag reagiert unmittelbar auf die zitierten Angriffe: «Leute, die auf mich böse sind, sind deshalb nicht böse Leute. […] Leute, die auf uns böse sind, sind deshalb nicht böse Leute. Sondern Leute, die auf uns böse sind.» Das bringt Martis generellen Willen, Konflikte konstruktiv auszutragen, auf den Punkt. Als Schöpfungs- und Friedenstheologe (vgl. u. a. «Schöpfungsglaube», 1985) lag ihm daran, die demokratische Kultur hochzuhalten. Die Trinität, die «gesellige Gottheit», galt ihm auch als Modell der Demokratie. Der zweite der «Nachträge» schärft aber unmissverständlich ein: «‹… sitzend zur Rechten Gottes›: dieses dogmatische Bild besagt keineswegs, dass Christus auf Erden bei den Rechten sitzt, wie diese gerne annimmt.» Dieser Satz kann auch stellvertretend für die Sprachsensibilität Martis stehen, der immer wieder Texte formuliert hat, die als willkommene Angebote angesichts einer kirchlichen Sprachnot aufgenommen wurden. Sein «nachapostolisches bekenntnis» («Abendland», 1980) wurde etwa zum Grundtext des Bekenntnis-Projekts der reformierten – also bekenntnisfreien – Kirche der Schweiz (2010).
Charakteristisch ist schliesslich auch, wie Marti sein Selbstporträt im Kleid eines dokumentarischen Nachrufs beendet: Er wählt als letztes Wort ein fremdes, das durch Fragen die Lesenden in die Pflicht nimmt: «‹Zu viel ausstreichen, ist Scylla; zu wenig, Charybdis. Sieh mir ins Gesicht, Jüngling! Kannst Du steuren? Hast du Muth? (F. G. Klopstock).›»
Andreas Mauz