Ein Auslaufmodell oder zwingend notwendig?

Immer weniger Schülerinnen und Schüler gehören einer der drei Landeskirchen an. Ist unter diesen Umständen der konfessionelle Religionsunterricht an den Schulen noch gerechtfertigt?

Othmar Wyss (Jg. 1960, links) hat langjährige Pfarreierfahrung als Religionspädagoge. Er war vier Jahre Dekanatsverantwortlicher für Katechese und Religionsunterricht. Seit 2009 ist er Stellenleiter der Fachstelle Katechese und Religionsunterricht sowie Ausbildungsleiter der Ausbildung Katechet/in formodula. Ruedi Blumer (Jg. 1957) ist ehemaliger Schulleiter. Als Kantonsrat (SP) war er Mitunterzeichner der Motion zur Abschaffung von ERG Kirche in St. Gallen.

 

Pro: «Warum sollte in der religiösen Bildung anderes gelten als in jedem anderen Schulfach?»

Seit den Anfängen des Menschen finden sich Spuren des sich selbst übersteigenden Fragens und Suchens nach dem Sinn des Lebens. In diesem Sinne verstehe ich das Religiöse unabhängig von der konkreten Religion oder Weltanschauung als zum Menschen gehörend.

Das Religiöse ist eine gesellschaftswirksame Kraft – im positiven wie leider auch im negativen Sinne. Unsere Kultur und unsere Werte sind auf vielfältige Weise vom Religiösen geprägt. So sprechen wir von «unseren christlichen Werten», denen sich selbst Atheisten verpflichtet fühlen.

Viele Anliegen und Institutionen sind ursprünglich aus dem Engagement der Kirchen entstanden – Schulen, Spitäler, Alters- und Pflegeheime, Caritas … Damit diese Kraft konstruktiv in einer Gesellschaft wirkt, muss sie kultiviert, d. h. gebildet werden. Wo dies nicht mehr gesellschaftlich verantwortet und gestaltet wird, droht das Religiöse zu verwildern – siehe z. B. Belgien oder Frankreich. Aus keinem europäischen Land zogen so viele Dschihad-Reisende nach Syrien wie aus diesen beiden Ländern. Religion wird zur Subkultur. Es entsteht eine Parallelgesellschaft, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährlich werden kann. Deshalb bin ich überzeugt, dass die religiöse Bildung in die Volksschule gehört – nicht nur als religionskundliches Fach. Idealerweise wird diese religiöse Bildung getragen von Religionsgemeinschaften, die als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannt sind; von Lehrpersonen, die Religion und Glauben nicht nur von aussen als Beobachtende, sondern ebenso von innen als Glaubende kennen und erschliessen können. Da ich mir einen Weg lieber von jemandem beschreiben lasse, der ihn schon selbst gegangen ist, als von einer Person, die ihn nur aus Beschreibungen kennt.

Warum sollte in der religiösen Bildung anderes gelten als in jedem anderen Schulfach? Sind es nicht idealerweise Musikerinnen und Musiker, welche Musikunterricht erteilen und darin mit ihrer Freude begeisternd und motivierend wirken? Würden Sie eine unsportliche oder gar Sport verachtende Lehrperson mit dem Turn­unterricht betrauen? Natürlich ist die religiöse oder weltanschauliche Überzeugung etwas vom Intimsten und Persönlichsten, und trotzdem ist sie nicht einfach Privatsache. Es kann unserer Gesellschaft, den in Politik und Bildung Verantwortlichen nicht egal sein, wo und wie ein Imam ausgebildet wurde, wie die Kirchen ihren Religionsunterricht gestalten. Dabei geht es nicht darum, dass der Staat die Religionsgemeinschaften kontrolliert, sondern dass sich die Religionsgemeinschaften gegenüber Staat und Gesellschaft verantworten.

Unsere schweizerische Demokratie lebt davon, dass alle politischen Kräfte in die Verantwortung für das Gemeinwohl eingebunden werden. Warum soll das in der Politik Bewährte in der Bildung anders sein?

Von manchen wird den Kirchen unterstellt, zu missionieren. Dabei geht meist vergessen, dass der so Argumentierende gerade das tut, was er den Kirchen unterstellt: Er setzt seine persönliche Weltanschauung absolut und als für alle geltend. Alles andere darf im Rahmen der Schule nicht sein.

Wenn Kirchen sich in der Schule engagieren, geht es ihnen nicht um zukünftige Kirchenmitglieder oder Kirchenbindung; dieses Modell funktioniert schon seit Jahrzehnten nicht mehr – sollte es denn einmal funktioniert haben. Die Kirchen verstehen ihren Unterricht an der Schule als diakonischen Beitrag zu einer ganzheitlichen Bildung, die nicht nur der Wirtschaft Arbeitskräfte zuführt, sondern Menschen befähigt, verantwortliche Glieder der Gemeinschaft zu werden.

Othmar Wyss


Kontra: «Es ist unvernünftig, die Klassen ausgerechnet im Fach ERG auseinanderzureissen.»

Seit dreieinhalb Jahren ist der neue Lehrplan schweizweit eingeführt. Die Entwicklung des Lehrplanes 21 hat in verschiedenen Bereichen heftige Diskussionen ausgelöst. Insbesondere bei Fremdsprachen und Religionsunterricht, wo dann die Vereinheitlichung auch nur ungenügend gelungen ist.

Am 22. Dezember 2013 erschien die «Schweiz am Sonntag» mit der Frontschlagzeile «Weihnachten kippt aus dem Lehrplan». Im Text hiess es: An Schweizer Schulen sollen künftig Mohammed und Buddha auf die gleiche Stufe wie Jesus gestellt werden. Die Schweizer Bischofskonferenz enerviert sich, die evangelische Landeskirche bangt um ihre Werte, CVP und EVP sind zur Stelle. Es geht um Werte und Traditionen, noch mehr aber um Macht und Deutungshoheit der Geschichte. Man fühlt sich an den Kulturkampf erinnert.

Das Muskelspiel der landeskirchlichen Machtzentralen war von Erfolg gekrönt, vor allem im Kanton St. Gallen. Im fünftgrössten Schweizer Kanton ist Religion im neuen Lehrplan auf der Primarstufe weiterhin mit sieben Jahreslektionen integriert. Und im neuen Fach ERG (Ethik, Religionen, Gemeinschaft) besteht für alle Schülerinnen und Schüler eine Pflichtwahl zwischen ERG Kirche und ERG Schule. Dieses Fach umfasst ebenfalls sieben Jahreslektionen, je eine von der dritten bis zur neunten Klasse. In St. Gallen ist somit der Einfluss der Landeskirchen auf die Volksschule weiterhin gross.

Den Sonderfall St. Gallen mit der Pflichtwahl im Fach ERG habe ich von Anfang an aus pädagogischen Gründen bekämpft. Es ist unvernünftig, die Klassen ausgerechnet im Fach ERG auseinanderzureissen. Bei diesen Themen ist es besonders wichtig, dass man sie im Klassenverband bearbeiten kann. Das stärkt Verständnis, Vertrauen und Hilfsbereitschaft in den heute überwiegend heterogen zusammengesetzten Schulklassen und damit auch in unserer Gesellschaft. Ich freue mich deshalb sehr, dass die St. Galler Regierung Ende November 2020 entschied, dass ab Sommer 2021 ERG nur noch von der Schule und im Klassenverband unterrichtet wird.

Die sieben Lektionen konfessioneller Religionsunterricht bleiben jedoch bestehen und dürfen von den Landeskirchen sogar ausgebaut werden. Dies im Gegensatz zu anderen Kantonen, in denen Religionsunterricht nicht mehr Teil der Lektionentafel ist. Mich stört nicht das Angebot an sich, jedoch dessen Ausgestaltung. So halte ich sieben Jahreslektionen für reichlich viel, um den Kindern den bekenntnisbezogenen Religionsstoff zu vermitteln. Nebst konfessionellen Lektionen könnten auch ökumenische und religionsübergreifende Lektionen in allenfalls unterschiedlich zusammengesetzten Teilnehmergruppen Platz haben.

Meine Schule zählt zu einer ständig wachsenden Gruppe von Schulen, in denen die Christinnen und Christen nur noch eine Minderheit der Kinder ausmachen. In dieser Situation macht ein konfessioneller Religionsunterricht nur Sinn, wenn ein entsprechendes Angebot auch für alle Nichtchristinnen und Nichtchristen besteht, insbesondere für die wachsenden Gruppen von Muslimen und Musliminnen sowie Konfessionslosen. Hier schliesst sich der Kreis von Macht und Geld. Darüber verfügen eben nur die Landeskirchen, die auch Steuern einziehen dürfen. So müssten die Landeskirchen aus Nächstenliebe bereit sein, in ihrem Religionsunterricht alle Kinder zu begrüssen – und Kinder bzw. Eltern Andersgläubiger auch bereit sein, diese Einladung anzunehmen. Da hier wohl auch bei aufgeschlossenen Menschen verschiedenen Glaubens Zweifel aufkommen, spricht die konsequente Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen auch im Kanton St. Gallen mittelfristig für die Ausgliederung des Religionsunterrichtes und somit die Trennung von Kirche und Staat.

Ruedi Blumer