Gerechtigkeit in der Endlichkeit?

Gerechtigkeit in der Endlichkeit? Zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt (5. Januar 1921 bis 14. Dezember 1990) macht sich Heinz Angehrn Gedanken zu einem unserer Grössten.

«In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weissen Rasse, gibt es keine Schuldigen und keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld …»1

Geradezu verfolgt von der jüdisch-christlichen Tradition sind sie, die grossen Söhne evangelischer Pfarrer, entwurzelt dem sicheren Nährboden, hinausgeworfen in die Anforderungen der Moderne: Christoph Blocher, Moritz Leuenberger, Friedrich Dürrenmatt. Der Letztgenannte steht, aufgewachsen im Pfarrhaus Konolfingen, Bern, in der noch längeren Tradition des grossen Moralisten aus dem Emmental, Albert Bitzius.

Groteske, Zynismus und Komödie

«Ein dicker, mächtiger Mann mit wirrem Haar, gefrässig. Wenn Fridu, der mit meinem Vater einst dieselbe Klasse am Freien Gymnasium in Bern besucht hatte, bei uns zum Nachtessen erschien, musste meine Mutter Berge von Fleisch braten. Die verschlang er zu meinem Ärger und dem meines Bruders zu grossen Teilen ganz allein», so erinnert sich die Regisseurin Sabine Gisinger.2 Dürrenmatt erlebte seine Kindheit als unangenehm, sah sich als Pfarrerssohn gemobbt und zum Aussenseiter gestempelt. So verfolgten ihn ein ganzes Leben lang die Erinnyen Zorn, Rache und Lust zur Vergeltung; es dieser Religion und ihrem langen Schatten, die sie in der Schweizer Welt und Gesellschaft warf, heimzuzahlen. Doch die Ausdrucksmittel, die er dafür fand, waren bei Weitem die besseren, zumal kultivierteren als etwa die von Niklaus Meienberg, es waren Groteske, Zynismus und Komödie: «Uns kommt nur noch die Komödie bei.»3

Schon in seinem Frühwerk «Romulus der Grosse» (1951) fällt er mit vernichtendem Humor über die scheinbar Mächtigen der Welt her: Der letzte römische Kaiser als frustrierter Hühnerzüchter. Und diesem Kaiser folgen die Zynikerinnen und Zyniker zuhauf, die sich in einem absolut sicher sind, dass es nämlich keine Gerechtigkeit im christlichen Sinn gibt, dass wir alle in eine verwirrende Welt hinausgeworfen sind: Claire Zachanassian («Der Besuch der alten Dame»), Mathilde von Zahnd («Die Physiker»), Hans Bärlach («Der Richter und sein Henker»).

Ich denke, dass wir Nachgeborenen, die eine humanistische Bildung genossen haben, zutiefst geprägt sind von Dürrenmatts Figuren und damit auch von seinen Zweifeln am Sinn des Weltgefüges. Nichts verdeutlicht dies etwa so stark wie seine Kurzgeschichte «Der Tunnel» (1952): Eine harmlose Durchfahrt durch einen SBB-Tunnel zwischen Bern und Olten wird zum Absturz ins Bodenlose und endet mit der Aussage: «Was sollen wir tun» – «Nichts […], Gott liess uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.»4

Und schliesslich steht da dann der Kommissär Bärlach, eine absolut ungemütliche Schulpflichtlektüre von Generationen («Der Richter und sein Henker»). Da es keine Gerechtigkeit gibt, weder juristische noch religiöse, muss der Mensch sein Schicksal selber in die Hand nehmen und Rache üben, so sogar die Rache durch Drittpersonen ausführen lassen. Bärlach, vom Magenkrebs schon innerlich zerfressen, feiert zusammen mit seinem ausgewählten Rächer Tschanz ein opulentes Fressgelage, stürzt ihn in den Tod und begibt sich zu der das Leben um ein Jahr verlängernden OP.

Und wenn wir dann einmal auf einen Menschen stossen, der der Gerechtigkeit anheimfallen und von der Bühne des Lebens abtreten will, auf den Nobelpreisträger Wolfgang Schwitter nämlich, dann stirbt nicht er, sondern alle Menschen, die ihm begegnen, die Jungen zumal, selbst die abgehärtetste Toilettenfrau. Nie vergesse ich das Spiel dieser beiden, sich belauernd, fragend, wer denn nun hier abtreten darf. Doch Schwitter lebt und lebt und schreit zum Schluss: «Wann krepiere ich denn endlich?»5

Da fanden sich zwei lange Traditionen zu einem fulminanten Finale: Die Linie der gestrengen evangelischen Pfarrer und ihrer Familien, um das Seelenheil ihrer Anvertrauten besorgt, und die Linie der sie kritisch Beobachtenden und Zweifelnden. Der dicke, gefrässige Mann mit wirrem Haar, ein Unikum in der Literaturgeschichte.

Heinz Angehrn

 

1 «Theaterprobleme» (1954), zitiert aus «Gesammelte Werke», Band 7, Zürich 1996, 59.

2 Zitiert von Katharina Dockhorn. Artikel in «neues-deutschland» vom 6. November 2015.

3 «Gesammelte Werke», Band 7, am selben Ort.

4 Werkausgabe in 30 Bänden, Band 20, Zürich 1985, 34.

5 «Der Meteor», Uraufführung Zürich 1966.

 


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.