«Plötzlich sprang der Funke über»

Scharenweise strömen kunstinteressierte Touristen in die Jesuitenkirche in Luzern. Living Stones* erschliesst ihnen die Schätze der Architektur, der Kunst sowie der christlichen Spiritualität.

Unzählige Touristen besuchen die Stadt Luzern, überqueren auf der Kapellbrücke die Reuss, schlendern über den Markt und treten in die Jesuitenkirche ein. Hier fanden am Pfingstsamstag kostenlose Kirchenführungen von Living Stones statt. Ich beteiligte mich an solch einer Führung und entdeckte Details wie das Fruchtgehänge über dem Weihwasserbecken, das mir noch nie aufgefallen war. Mitini- tiator von Living Stones in Luzern, P. Andreas Schalbetter SJ, erklärt, wie die innovative Idee der «lebendigen Steine» zustande kam.

SKZ: Wo liegen die Ursprünge von Living Stones?
P. Andreas Schalbetter: Die Idee zu Living Stones reicht in den Anfang der 1990er-Jahre zurück, als sich eine Gruppe von Studierenden in der Kirche St. Michael in Freiburg i. Ue. versammelte, um am Grab von Petrus Canisius zu beten. Sie dachten: «Warum nicht Touristen auf das Leben dieses heiligen Jesuiten ansprechen, die ohnehin in die Kirche eintreten und öfters unser Gebet stören? Warum diesen Touristen nicht von der Kunst und den Symbolen erzählen, die diese Kirche verschönern und die Spiritualität von Canisius stark zum Ausdruck bringen?» Die Idee blieb lange Zeit verborgen, bevor sie 2004 in Frankfurt in einer Gruppe engagierter Laien und Jesuiten erneut auftauchte. Zwei Sommer lang bot die Gruppe kostenlose Führungen im Frankfurter Dom an. Mein Mitbruder Jean-Paul Hernandez SJ brachte die Idee von Living Stones/Pietre Vive nach Bologna, wo sie 2008 konkret Gestalt annahm. Einige junge Erwachsene waren bereit, nach einer entsprechenden Schulung gratis Kirchenführungen anzubieten. Inzwischen gibt es in vielen Städten Europas solche Gruppen, etwa in Barcelona, Budapest, Florenz, Ljubljana, Madrid, München, Rom und Warschau. Sie haben sich sozusagen explosionsartig verbreitet.

Was fasziniert Sie an diesem Projekt?
Dass es hauptsächlich von jungen Erwachsenen verantwortet wird und die Verbindung von spirituellem Tiefgang, intellektueller Kompetenz und einem frohen Miteinander sucht. Persönlich erachte ich es als grosse Chance, die Ästhetik kirchlicher Räume durch Living Stones ins Bewusstsein der Gesellschaft zu bringen, wo doch gerade die Ästhetik eine bedeutende Rolle einnimmt. Aber die sakrale Bilderwelt ist vielen Menschen kaum mehr zugänglich. Living Stones könnte als diskrete Katechese eine Antwort auf diese Situation sein. Indem die jungen Kirchenführer die Bilder beschreiben und Symbole deuten, eröffnen sie den Menschen einen Zugang zu den vergessenen Schätzen unserer Kultur sowie des christlichen Glaubensgutes und ermöglichen ihnen eine differenzierte Betrachtung. Der Koordinator von Living Stones Luzern, der Student Matteo Frey**, bezeichnete letzthin diese Arbeit gar als «Wiederaufklärung».

Was motivierte Sie, Living Stones in der Jesuitenkirche ins Leben zu rufen?
Living Stones in Luzern zu initiieren, lag auf der Hand. Die Jesuitenkirche ist eines der meistbesuchten Kunstobjekte der Schweiz. Warum nicht den Touristen und Passanten, die in grosser Zahl in die Jesuitenkirche strömen, eine kostenlose Kirchenführung durch junge Erwachsene anbieten? Bei vielen neuen pastoralen Projekten liegt die grösste Herausforderung darin, «Kunden» zu erreichen. In der Jesuitenkirche sind sie schon da und die meisten sind an ihr als Kunstobjekt interessiert. Der Kairos war, dass nicht nur ich den Gedanken an Living Stones in mir trug, sondern Marco Schmid von der Citypastoral Luzern mit derselben Idee auf mich zukam.

Welche Schritte unternahmen Sie?
Zusammen mit einigen Studierenden war ich im Mai 2017 zu einem Weiterbildungswochenende von Living Stones in Rom, auch Marco Schmid besuchte solche Treffen. Er war inzwischen schon in Kontakt mit P. Jean-Paul Hernandez SJ. Ebenso war Schwester Barbara Haefele von der Gemeinschaft der Helferinnen sehr offen für dieses Projekt. Zu dritt haben wir die Idee weiterentwickelt und umgesetzt. Da Living Stones in verschiedenen Städten bereits existierte und erprobt wurde, konnten wir von ihren Erfahrungen profitieren. Das war sehr hilfreich. Zugleich waren in der Startphase viele Einzelgespräche mit jungen Erwachsenen und Studierenden nötig – das ist eine schöne, zeitintensive und anspruchsvolle Aufgabe. Einzelne liessen sich für die Idee begeistern. So besteht seit Mai 2017 eine Living-Stone-Gruppe in Luzern, die an mindestens drei Halbtagen pro Semester in der Jesuitenkirche die Besucher willkommen heisst und ihnen eine Führung anbietet.

Stellten sich auch Fragen?
Ja, beispielsweise, ob diese Art von Kirchenführung nicht zu missionarisch sei. Können solche Führungen, die Kunst mit christlicher Spiritualität vermitteln, in einer pluralistischen Gesellschaft angeboten werden? Interessanterweise kamen vonseiten der Teilnehmer diesbezüglich noch nie Rückmeldungen. Natürlich ist es eine Frage der Haltung, in der die Führungen gemacht werden. Living Stones hat nicht die Absicht, Menschen zu überzeugen, sondern ihr Ziel ist, ihnen über die kunstgeschichtlichen Fakten hinaus den spirituellen Gehalt der Bilder und Symbole aufzuzeigen. Oft ergeben sich daraus ganz spannende Gespräche. So erzählten letzthin Inder, welche Bedeutung bei ihnen der Baldachin (Deckenbild) hat. Oder heute Morgen stiess eine Tibeterin zu meiner Gruppe, deren Fragen ein interreligiöses Gespräch zwischen den Teilnehmern auslösten.

Erhalten die jungen Erwachsenen eine «Ausbildung» für ihr Engagement als Kirchenführer?
Die jungen Erwachsenen von Living Stones werden theologisch und kunsthistorisch geschult. Sie setzen sich mit Kunst, Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte und Architektur auseinander. Neben dem Selbststudium luden wir beispielsweise folgende Personen zu Referaten ein: den Denkmalpfleger und Architekturhistoriker Ueli Habegger, den Präfekten der Jesuitenkirche Hansruedi Kleiber SJ, die Kunstpädagogin Sr. Beatrice Kohler, die Dozentin für Altes Testament am Religionspädagogischen Institut Luzern Veronika Bachmann oder den Professor für Kirchengeschichte an der Gregoriana in Rom Paul Oberholzer SJ. Darüber hinaus übten wir Kirchenführungen. Wir reflektierten Architektur, Bilder und Symbole besinnlich, führten uns anschliessend gegenseitig durch die Kirche und holten Feedbacks ein. Plötzlich sprang der Funke über – gegen alle Ängste und Unsicherheiten. Jährlich gibt es Anfang Mai ein mehrtägiges internationales Treffen, an dem auch Mitglieder aus Luzern teilnehmen. Dieses Jahr war es in Venedig. An solchen Treffen gibt es Vorträge, Workshops, Austausch, Gebetszeiten und gemeinsame Eucharistie. Dabei geht es v. a. auch darum, Erfahrungen zu teilen, nach Ideen der Umsetzung vor Ort zu suchen und Netzwerke zu knüpfen.

Wie erwähnt, sind die Touristen und Passanten schon in der Kirche und nutzen Living Stones spontan. Wollen Sie den Nutzerkreis für diese inspirierenden Kirchenführungen nicht weiter öffnen?
Im Grundsatz bietet Living Stones keine organisierten Führungen an. Aber in diesem Semester führten wir bereits zwei Gruppen von Studierenden und Schulklassen auf Verabredung hin durch die Jesuitenkirche. Auch schrieb ich einzelne Rektoren verschiedener Schulen in und rund um Luzern an und hoffe, dass im kommenden Semester seitens der Gymnasien das Interesse geweckt werden kann.

Welchen Gewinn haben die Nutzer von solchen Kirchenführungen?
Die Passanten und Touristen erleben, dass die Kirche lebendig ist und ein jugendliches Gesicht trägt. Sie erfahren Kirche im doppelten Sinn: die Kirche als Gebäude und die Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen. Darüber hinaus pflegen wir bewusst eine Willkommenskultur. Jemand von uns empfängt wie ein Gastgeber die Besucher beim Eingang. Und Living Stones antwortet auf die ästhetischen und spirituellen Bedürfnisse der Menschen von heute.

Wie wird das Projekt finanziert?
Sowohl die Citypastoral als auch die Landeskirche Luzern tragen das Projekt mit. Daneben gibt es Spenden von anderen Institutionen wie der Inländischen Mission. Für die Führungen nehmen wir kein Geld entgegen. Ein grösserer Ausgabeposten sind die Reisespesen zu den internationalen Treffen.

Haben Sie Träume, von denen Sie sich erhoffen, dass sie Wirklichkeit werden?
Ich hoffe, dass sich auch in Freiburg i. Ue., Zürich, St. Gallen und anderen Städten der Schweiz Living-Stones-Gruppen bilden und ein Netzwerk entsteht. Marco Schmid ist diesbezüglich mit verschiedenen Personen in Kontakt. Vor allem könnte ich mir Living Stones in ökumenischer Offenheit in Zürich vorstellen. Da gibt es einige schöne und kunstgeschichtlich wie architektonisch interessante Kirchen. Und dass wir auch weiterhin mit Living Stones Menschen erreichen, die der Kirche fern stehen oder aus Ländern kommen, in denen Christen eine Minderheit sind. Vielleicht springt auch bei ihnen der Funke über, wie anfangs bei uns. Das erhoffe ich mir sehr.

Interview: Maria Hässig

 

 

 

Interview: Maria Hässig

 

* Living Stones besteht aus Gruppen von jungen Erwachsenen, die in verschiedenen Städten Europas Passanten und Touristen kostenlose Kirchenführungen anbieten und ihnen die Kunst, Symbole und deren spirituellen Gehalt erschliessen. Informationen unter www.pietre-vive.org Derzeit übersetzen junge Erwachsene aus Luzern die Webseite ins Deutsche.

 


Andreas Schalbetter

P. Andreas Schalbetter SJ (Jg. 1965) war Primarschullehrer und studierte anschliessend Theologie. 1998 wurde er Mitglied der Gesellschaft Jesu und ist seit 2000 Studierendenseelsorger: zuerst in Zürich, anschliessend in Bern, später in Basel und seit 2015 in Luzern. Er absolvierte den Universitätslehrgang für zwischenmenschliche Kommunikation im Berufsleben in Innsbruck.

 

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