Physik und Theologie - gestern und heute (II)

3. Zufall und Notwendigkeit

Die Lage heute

Angeregt von Leibniz, Newton und Kant gehen wir heute auf die Suche nach der verlorenen Freiheit, verloren oder stark gefährdet durch die mechanische Physik. Diese Physik ändert sich plötzlich im Jahr 1900, von niemandem erwartet und von nur wenigen begrüsst, am wenigsten von ihrem Entdecker Max Planck, der das Quantum in die Physik eingeführt hat. Damit hat er gegen einen alten Grundsatz der Metaphysik und der Physik verstossen: «Natura non facit saltus» – die Natur macht keine Sprünge.

Doch leider ist dieser Grundsatz im Unrecht, und Planck, der sich lange gegen die Sprünge gewehrt hat, ist im Recht, wenn auch wider Willen: «Durch mehrere Jahre hindurch machte ich immer wieder Versuche, das Wirkungsquantum irgendwie in das System der klassischen Physik einzubauen. Aber es ist mir das nicht gelungen.»13

Auch der junge Einstein beteiligte sich zunächst an der Physik der Quanten, etwa als er im Alter von 26 Jahren den fotoelektrischen Effekt mit Hilfe des Wirkungsquantums erklärte. Damals merkte er noch nichts. Zwanzig Jahre später ist er über die neue Theorie entsetzt. Er schreibt 1927 in einem Brief: «Lebendiger Inhalt und Klarheit sind Antipoden, einer räumt das Feld vor dem andern. Das erleben wir gerade jetzt tragisch in der Physik.»14

Tragik in der Physik?

Ja, das ist möglich, wenn man sein Herz an ein Bild der Natur gehängt hat, dem die Natur widerspricht. Bis 1930 hatte sich Einstein zu helfen versucht, indem er die Quantentheorie als in sich widersprüchlich erklärte, insbesondere ging er immer wieder leidenschaftlich gegen die Unbestimmtheitsrelationen von Heisenberg vor. «Gott würfelt nicht!» war sein Kampfruf. Nachdem er jedoch den Titanenkampf gegen Bohr auf der Solvay-Konferenz von 1930 verloren hatte, änderte er seine Taktik.

Er meinte, die Quantentheorie habe keine inneren Widersprüche, doch in der vorliegenden Form sei sie noch nicht vollständig. Nebenbei schlug er Heisenberg für den Nobelpreis vor, den dieser auch 1932 erhielt. Einstein bleib hartnäckig: Die fehlenden verborgenen Parameter zur Wiederherstellung der vollen Kausalität müssten und könnten gefunden werden. In dem Versuch, diese Parameter zu finden, leitete Einstein allerdings selbst seine endgültige Niederlage ein.

Das EPR-Experiment, das Einstein 1935 zusammen mit Podolski und Rosen vorschlug, war zwar zunächst nur ein Gedankenexperiment, aber dem Physiker John Bell gelang es in den 1960er- Jahren, ein ausführbares Experiment daraus zu entwickeln, denn Bell war selbst an der Existenz der verborgenen Parameter zur Wiederherstellung der vollen Kausalität in der Natur interessiert.

Auch für ihn kam es anders. Ich beschränke mich auf das Ergebnis, wie es bei Paul Davies zu lesen ist: «Aus Einsteins Gedankenexperiment sind jedenfalls inzwischen eine Reihe wirklicher Experimente geworden, deren Ergebnisse bestätigt haben, dass Bohr eindeutig recht hatte und Einstein bedauerlicherweise unrecht.» «Es herrscht Unbestimmtheit, was bedeutet, dass einige Ereignisse ‹einfach geschehen›, spontan sozusagen, ohne vorherige Ursache im üblichen Wortsinn.»15 Oder wir können den grossen Physiker Feynman hören, der auf die lange Geschichte der Physik zurückblickt und seufzt: «Ja! Die Physik hat aufgegeben. Wir wissen nicht, wie man vorhersagen könnte, was unter vorgegebenen Umständen passieren würde, und wir glauben heute, dass es unmöglich ist – dass das einzige, was vorhergesagt werden kann, die Wahrscheinlichkeit verschiedener Ereignisse ist.»16

Ergebnis nach 400 Jahren

So lautet das Ergebnis von 400 Jahren extremer Anstrengung in der Physik: Es gibt in der Natur den Zufall und die Notwendigkeit, beides, das eine ist so echt wie das andere, und sie sind nicht unter ein gemeinsames Prinzip zu bringen. Und mit Zufall und Notwendigkeit, diesem widerspenstigen Paar, finden wir die Parallele und Differenz der Physik zur Theologie. Die Theologie, wie jede gesunde Philosophie, ist auf Freiheit angewiesen, deren Möglichkeit erst einmal nachgewiesen werden muss, bevor sie überhaupt loslegen kann, von Schöpfung und Offenbarung zu sprechen. Ich rede von einer Freiheit in der Natur, denn der Mensch ist ein leibhaftiges Wesen, er ist nicht Geist ausserhalb der Welt, wie das vielleicht Descartes mit seiner «res cogitans» gesagt hätte. Der Mensch ist Geist in Welt und in der Natur.

Wie also können wir von der Freiheit sprechen? Jetzt kann ich keine Zitate mehr bringen, das Folgende muss ich selbst verantworten. Doch beginnen wir mit einem weiteren Zitat, das zeigt, wie man mit Zufall und Notwendigkeit nicht umgehen sollte. Der Amerikaner Edward O. Wilson sagt: «If humankind evolved by Darwinian natural selection, genetic chance and environmental necessity, not God, made the species. – Wenn der Mensch durch die Darwinische natürliche Selektion entstanden ist, dann haben genetischer Zufall und die Umgebungsnotwendigkeit, nicht Gott, die Arten geschaffen.»17

Wilson begeht einen Denkfehler, indem er Zufall und Notwendigkeit wie ein einziges Prinzip behandelt. Es sind aber zwei, deren Einheit unseren Begriffen nicht zugänglich ist, d. h. dem Begreifen schlechthin unzugänglich bleibt. Notwendigkeit ist ein Wissensprinzip, das Ursache und Wirkung verbindet, und Zufall ist ein Nichtwissensprinzip, das die Verbindung von Ursache und Wirkung auflöst. Und Hü und Hott sind nicht in ein einziges Wort zu bringen. Wir müssen uns vor diesem Denkfehler hüten und stattdessen transzendental vorgehen.

Nach den Bedingungen fragen

Was muss in der Natur realisiert sein, damit Freiheit in ihr denkbar ist? Zum einen muss Notwendigkeit da sein, viele kausale und verlässliche Gesetze muss es geben, mit denen Gott und der Mensch ihre Freiheit betätigen. Es müssen die Gesetze der Schwerkraft, der Optik, der Wärmelehre erfüllt sein, damit ich auch nur einen Schritt nach vorne gehen kann.

Der alte Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit ist oberflächlich. Er hat nur insofern recht, als die kausale Notwendigkeit nicht ganz meinen Willen, einen Schritt nach vorne zu tun, bestimmen darf. Denn sonst wäre mein Wunsch nur das Ergebnis feuernder Neuronen und anderer Vorgänge in mir. Die physikalische Notwendigkeit muss in der Natur ihre Grenze finden, aber das tut sie auch. Wie jetzt im 21. Jahrhundert wohl endgültig feststeht, ist der Zufall in der Natur echt und nicht nur ein subjektives, vorläufiges Unwissen. Diese transzendentale Überlegung ist zwar kein Beweis für die Existenz der Freiheit, jedoch ein plausibler Aufweis für die Spuren der Freiheit in der Naturforschung selbst, insofern diese am Ende auf Zufall und Notwendigkeit hinausläuft.

Was wir in der Physik gesehen haben, wiederholt sich in der Evolutionslehre mit Mutation und Selektion, worauf ja schon Wilson mit «genetic chance and environmental necessity» hingewiesen hat, wenn auch in unzulänglicher Form. Die gleichen Bruchstücke von Freiheit finden sich in der Neurobiologie, denn auch dort lassen sich Bereitschaftspotenzial und Bewusstseinspotenzial als Spiel zwischen Zufall und Notwendigkeit deuten. Das Gleiche wird wohl auch in der Kosmologie gelten.

Wenn gewisse Leute den Kosmos eine Quantenfluktuation des Nichts nennen und von einer Schöpfung ohne Schöpfer sprechen, so ist auch da die Quantentheorie im Spiel, damit auch Zufall und Notwendigkeit, und wiederum stossen wir auf die Bruchstücke der Freiheit.

Und dann kann man selbst im Urknall den Finger eines personalen Schöpfers erkennen, der in Freiheit tätig ist; man kann das sehr gut tun, ganz zwingend ist es nicht. Aber das ganz Zwingende wäre ja wiederum mit der Freiheit nicht vereinbar, und wir haben es mit dem echten Zufall aus der Naturwissenschaft ausschliessen können.

Zwei Hauptsätze

So komme ich abschliessend zu meinen beiden Hauptsätzen: «Natur ist diejenige Wirklichkeit, die ich ergreifen kann, Gott diejenige Wirklichkeit, die mich ergreift.»

Diesem Satz hätten natürlich auch Descartes, Laplace und Einstein zugestimmt, nur hätten sie gerne die Wirklichkeit, die mich ergreift, zu einer leeren Menge erklärt.

Der zweite Satz lautet: «Freiheit ist das Schattenspiel von Zufall und Notwendigkeit.» Wer diesem Satz zustimmt, weiss ich nicht genau, jedenfalls zähle ich diese Personen dann zu meinen engsten Freunden. 

13 Max Planck: Vorträge und Erinnerungen. Darmstadt 1970, 27.

14 Max Born / Albert Einstein. Briefwechsel 1916–1955. Hamburg 1972, 102.

15 Paul Davies: Die Unsterblichkeit der Zeit. Bern 1995, 208 und 219.

16 Richard P. Feynman: Vorlesungen über Physik, Bd. III (1965). München 1992, 30.

17 Edward Osborne Wilson: On Human Nature. Cambridge 1978, 1.

Publikationen von Dieter Hattrup zur Thematik

– Einstein und der würfelnde Gott. An den Grenzen des Wissens in Naturwissenschaft und Theologie. Freiburg i. Br. 2001/42008.

– Die Wirklichkeitsfalle. Vom Drama der Wahrheitssuche in Naturwissenschaft und Philosophie. Freiburg i. Br. 2003.

– Carl Friedrich von Weizsäcker – Physiker und Philosoph. Darmstadt 2004.

Frankenberger, Gottbekenntnisse grosser Naturforscher. Erweitert und kommentiert von D. Hattrup. Trier 2005.

– Der Traum von der Weltformel oder Warum das Universum schweigt. Freiburg i. Br. 2006.

– Darwins Zufall oder Wie Gott die Welt erschuf. Freiburg i. Br. 2008.

– Freiheit als Schattenspiel von Zufall und Notwendigkeit – Vier Dialoge. Freiburg i. Br. 2009.

Dieter Hattrup | © Uni Fribourg

Dieter Hattrup

Dieter Hattrup ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte ad personam an der Theologischen Fakultät Paderborn.