Permanente Arbeit an Friedenswegen

Ohne Dialog geht nichts! – ohne sich persönlich berühren zu lassen, noch viel weniger. So könnte man die neueste Enzyklika von Papst Franziskus «Fratelli Tutti» zusammenfassen.

Papst Franziskus spricht auch in seiner jüngsten Enzyklika eher wie ein guter Freund, weniger als Oberhaupt einer Kirche und gewiss nicht wie ein Akademiker. Er ist sichtlich bemüht, zu jenen Menschen zu sprechen, die nicht katholisch sind, die in einer gewissen Distanz zum christlichen Glauben leben, aber offen sind für die Gedankengänge eines engagierten Christen.

Der Traum von einer gerechteren Welt

Das sozialethische Engagement von Franziskus gründet auch in dieser Enzyklika in der persönlichen Betroffenheit und Begegnung mit Menschen. Stellvertretend nennt er den heiligen Franziskus und den Grossimam Ahmad al-Tayyeb, den er in Abu Dhabi (VAE) traf und mit dem er ein spürbar freundschaftliches Verhältnis pflegt. Franziskus macht sichtbar, dass die grundlegenden Anliegen der Katholischen Soziallehre nicht an eine Konfession oder Religion gebunden sind, sondern mit vielen andern geteilt werden können. Die Menschen guten Willens bekommen in Ahmad al-Tayyeb nicht nur ein Gesicht, sondern sie bleiben im ganzen Text als Adressatinnen und Adressaten spürbar.

Hauptanliegen des Papstes ist die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft. Franziskus macht schnell deutlich, wie seine Gedankengänge zu verstehen sind: Sie sind nicht nur eine Zusammenfassung dessen, was er bereits in Enzykliken, Ansprachen oder Predigten gesagt hatte – sie sind zuerst einmal ein Traum einer gerechteren Welt, den er mit möglichst vielen teilen will. Denn ohne einen solchen Traum bleiben die biblischen Geschichten, die Tradition der kirchlichen Soziallehre wie auch das einzelne und politische Handeln leer (8).

Eine «andere Logik»

Im ersten Kapitel wirft der Papst einen Blick auf die Welt, wie sie ist. Er fokussiert auf Entwicklungen, die für ihn Zeichen von Abschottung und geplatzten Träumen sind. In seinen gewohnt markigen Worten verbindet er diese Schattenseiten mit einem einseitig auf Individualismus und Gewinn ausgerichteten Wirtschaften. Er beklagt den Ausschluss von Menschen (18) und die falsche Logik, dass sich auf Angst und Misstrauen Sicherheit bauen liesse (26).

Das zweite Kapitel erzählt die Geschichte des Barmherzigen Samariters (Lk 10,25–37). Sie ist für Franziskus der Beweis, dass es möglich ist, «eine andere Kultur zu schaffen, die uns dahin ausrichtet, die Feindschaften zu überwinden und füreinander zu sorgen» (57). In diesem Sinne bildet die Geschichte den Orientierungspunkt für die weiteren Gedanken: Alle (!) Menschen sind einzubeziehen, wenn es um die ganzheitliche Entwicklung der Menschheit wie des Planeten geht.

Im dritten Kapitel beginnt Papst Franziskus den Gedanken der Geschwisterlichkeit darzulegen. Er betont, dass diese Haltung ohne entsprechende Pflege (108) und Übung ihre Wirkung nicht entfalten kann. Aus der Solidität (115), der Überzeugung, sich für die Schwächen anderer verantwortlich zu fühlen, wächst Solidarität, die wiederum stabile, sichere Ordnungen ermöglicht. All dies dient dazu, das Gemeinwohl zu realisieren – Ziel aller sozialen Einrichtungen und Bestrebungen auf individueller wie struktureller Ebene in der Tradition der Katholischen Soziallehre. Ausgeführt wird dies etwa am Beispiel des Eigentums und seinen sozialen Funktionen (118). Dazu gehören nicht nur gleiche Rechte für alle, besonders für die Frauen, wie Franziskus hervorhebt (121), sondern auch das Engagement des Unternehmertums, das hier ausdrücklich als «edle Berufung» gelobt wird. Papst Franziskus versteht seine Orientierung am Gemeinwohl und der Geschwisterlichkeit ausdrücklich als «andere Logik» (127). Dies ist der Inhalt des Traums.

An Beispielen im Umgang mit der Migration skizziert er im vierten Kapitel die Entwicklungen des Miteinanders als Bereicherung und Herausforderung und scheut sich nicht, ganz konkrete Massnahmen zu nennen (130). Das Bild des Polyeders dient ihm zur Versinnbildlichung, dass es nicht darum gehen kann, einen Einheitsbrei zu formen, sondern eine Weite des Denkens (147) zu entwickeln.

Die beste Politik – so das fünfte Kapitel – steht im Dienst des Gemeinwohls (154). Kritisch setzt sich Franziskus mit Liberalismus und Populismus auseinander. Gerade bei diesen Gedanken wird spürbar, dass der von ihm gewählte pastorale Zugang auch seine Schwächen hat. So möchte man gerade in der Auseinandersetzung mit Liberalismus und Populismus gerne eine doch etwas präzisere und vertiefte Analyse erhalten. Es wird sichtbar, was in der Geschichte der Soziallehre immer wieder angemahnt wurde: Die kritisierten Positionen bleiben häufig etwas diffus, die direkte Auseinandersetzung mit ihnen bleibt im Allgemeinen und damit werden auch die entsprechenden Vertreterinnen und Vertreter dieser Theorien nicht benannt. Dies ist insofern zu bedauern, da Papst Franziskus zum Kernstück seiner Gedanken kommt.

Architektur des Friedens

Franziskus sieht im sechsten Kapitel im gesellschaftlichen Dialog den Königsweg zu einer gerechteren Welt. Er betont, wie wichtig eine eigene Position ist, wenn er sich gegen den Relativismus und vorschnelle Toleranz wendet (206). Dieser Dialog muss in einer Kultur der Begegnung stattfinden (205), in der sich die Unterschiede ergänzen, bereichern und erhellen und so miteinander leben können. Dies ist harte Handarbeit, ermahnt der Papst (217).

Dieses Handwerk bezeichnet er im siebten Kapitel als «Friedenswege». Er skizziert Versöhnungs- und Friedensprozesse, die nicht in Gang kommen können, wenn der Wahrheit, den Tatsachen nicht in die Augen geschaut wird (226–235). Nebst dem Handwerk des Friedens, das jeder Mensch ausüben kann und auch muss, gibt es die Architektur des Friedens. Dort geht es um Strukturen und die Rolle von Institutionen (231). All diese Arbeiten verlangen einen Einsatz ohne Pause und müssen sich immer an den Ärmsten orientieren (233). Vor diesem Hintergrund spricht Papst Franziskus über die Bedeutung der Vergebung (236–245) und der Erinnerung (246) als Zeichen des Respekts vor den Opfern.

Das abschliessende achte Kapitel rückt den Dialog zwischen den Religionen ins Zentrum. Für Franziskus ist klar: Der Beitrag der Religionen für eine ganzheitliche Entwicklung wie auch für die Lösung von Konflikten in der Welt ist grundlegend – denn die Religionen weisen auf das Transzendentale des Menschen hin. Hier schliesst sich der Kreis zur Begegnung mit Grossimam Ahmad al- Tayyeb. In dieser Begegnung spiegelt sich nicht nur die persönliche Freundschaft, sondern auch das dialogische Miteinander zweier Religionen.

Fazit

Bei aller Freude über das klare Bekenntnis zu Menschenrechten und zur Rolle der Religionen in der Welt sowie über die stark praktisch-pastoral geprägten Anregungen zum Handwerk des Friedens bleibt die Frage, warum Papst Franziskus den Blick nach innen konsequent ausblendet. Wie kann er die gleichen Rechte für die Frauen einfordern und gleichzeitig die Situation der Frauen in der Kirche «be-schweigen»? War die Auseinandersetzung um den Titel dieser Enzyklika doch mehr als nur eine Übersetzungsfrage?

Gerne schliesse ich mich dem Traum an, zu dem Franziskus einlädt – und ich ergänze ihn mit der Vorstellung, dass es uns gelingt, seinen Traum nicht nur in der Welt, sondern mit gutem Handwerk und Architektur auch in der eigenen katholischen Kirche zu verwirklichen. Weder die Rechte der Frauen noch ein echter Dialog und angemessene strukturelle Formen zur Realisierung von Gerechtigkeit sind in der Katholischen Kirche wirklich vorhanden. Papst Franziskus lässt gerade in dieser Enzyklika durchblicken, dass es nicht reicht, dies mit «Tradition» zu begründen. Es gilt, der Realität ins Auge zu blicken, sich von den Benachteiligten berühren zu lassen und dann in die (Friedens-)Hände zu spucken und anzupacken. Es ist ein Kampf! Aber auch daran hat uns Papst Franziskus schon erinnert – in «Laudato Si’» (244).

Thomas Wallimann-Sasaki


Thomas Wallimann-Sasaki

Dr. Thomas Wallimann-Sasaki (Jg. 1965) studierte Theologie in Chur, Paris, Berkeley (USA) und Luzern, wo er bei Hans Halter promovierte. Seit 1999 leitet er ethik22: Institut für Sozialethik (vormals Sozialinstitut der KAB). Er ist Präsident ad interim von Justitia et Pax und Dozent für Ethik an der Hochschule Luzern und der Berner Fachhochschule.

 

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