Pastorale Wende?

Zu den Lineamenta der XIV. Bischofssynode 20151

1. Einleitende Anmerkungen

Der Bericht (Relatio) der ausserordentlichen Bischofssynode, die im letzten Jahr in Rom stattfand, bildet zugleich die Textvorlage (Lineamenta) für die im Herbst 2015 erfolgende Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode. Thema sind die seit langem äusserst drängenden Fragen familiärer und lebenspartnerschaftlicher Gestaltung. Diesem Text ist ein Fragenkatalog angefügt, der seinem Aufbau entspricht. Beides ist an die weltkirchliche und ortskirchliche Öffentlichkeit gegeben worden mit der Aufforderung, dazu Reflexionen anzustellen und deren Erträge freimütig, anregend und fortführend in den Vorbereitungsprozess einzubringen.

Zu Beginn der "Fragen zum III. Teil" spricht der Text von der "pastoralen Wende (…), welche die ausserordentliche Synode, vor dem Hintergrund des II. Vatikanums und des Lehramtes von Papst Franziskus, zu umschreiben begonnen hat". Es sei "nötig, alles zu tun, damit nicht wieder bei null angefangen, sondern der auf der ausserordentlichen Synode schon eingeschlagene Weg als Ausgangspunkt übernommen wird".

Auf die Publikation der Ergebnisse im letzten Herbst folgten dennoch enttäuschte, teils pauschale Kritiken, vor allem auch im Raum medialer Öffentlichkeit. Demgegenüber ist zuerst festzuhalten, dass dieser weltkirchlich angelegte Prozess zur Reform von Familien- und Partnerschaftsfragen sachlich wie methodisch komplex ist. Zu seiner gedeihlichen Entwicklung ist prozedurale und kommunikative Geduld notwendig. Zudem ist der aktuelle Vorgang längst nicht abgeschlossen, sondern offen und in einem hoffentlich qualitätsvollen Werden begriffen.

Umgekehrt sind die jetzt vorgelegten Zwischenergebnisse sowie Inhalte und Zielrichtung der Fragen, welche die Diskussion ja vital halten und weiterführen sollen, einer kritischen Prüfung zu unterziehen: Werden sie ihrer Aufgabe gerecht? Entsprechen sie dem eigenen, auch von Papst Franziskus favorisierten Anspruch einer pastoralen Wende, die den Namen "pastoral" in theologischer Perspektive verdient? Leisten sie die Brückenfunktion zur im Herbst 2015 anberaumten Ordentlichen Generalversammlung, so dass ein konstruktiver Anschluss denkbar und möglich wird? Ein solcher Anschluss ist sowohl an den laufenden kirchlichen Vorbereitungsprozess als auch an die ortskirchlich bzw. im "sensus fidelium" – der Kompetenz aller Glaubenden – bereit liegenden Erfahrungen und Betroffenheiten von Familie und Partnerschaft herzustellen.

2. Erste Diagnose

Aus meiner Sicht fällt die erste Diagnose zweigeteilt aus: Einerseits kann man den Lineamenta und den sich daran anschliessenden Fragen die pastorale Sorge und Intention nicht pauschal absprechen. Denn an vielen Stellen zeigt sich eine Bereitschaft, unterschiedliche Situationen, Herausforderungen, Erfahrungen und Fragen im Kontext von Familie, Liebe und Partnerschaft zur Kenntnis zu nehmen. Es werden zudem Vorstellungen einer Pastoral entwickelt, die mit menschlicher Offenheit, Engagement und Barmherzigkeit auf alle Betroffenen eingeht – auch auf jene, die sich in einer Situation befinden, die vom kirchenamtlich verfolgten Ideal lebenspartnerschaftlichen und familiären Daseins abweicht. Andererseits ist eine Pastoral umfassender, zugleich solidarischer Anerkennung dieser Menschen – ihrer Lebenskompetenz und Lebenslage – nicht ersichtlich. Diese Form der Anerkennung geschieht auch dann nicht, wenn sie ihr Leben nach bestem Wissen und Gewissen gestalten und dabei jene Perspektiven ausschöpfen, integrieren und zum Tragen bringen, die ihnen kraft ihrer unverwechselbaren Geschichte, Identität und angesichts begrenzter Situationen und Möglichkeiten personal wie praktisch zur Verfügung stehen.

Diese Marschroute ist insofern folgerichtig, weil sie dem Duktus nachkonziliarer Lehrschreiben und kirchenamtlicher Texte zu diesen Gestaltungsbereichen ("Humanae vitae", "Familiaris consortio", Katechismus der Katholischen Kirche, "Veritatis splendor" usw.) entspricht: Dort wird eine Pastoral barmherziger Zuwendung zu Menschen auch in "irregulären " Situationen vertreten, allerdings mit dem steten Vorbehalt, dass ihre Lebensgestalt – gemessen an der für ideal erklärten Vorstellung – defizitär sei und daher verändert oder sanktioniert werden müsse. Bekanntlich betreffen diese Sanktionen nicht nur den Bereich sakramentalen Lebens, sondern auch andere kirchliche Segnungen oder den Zugang zu kirchlichen oder gemeindlichen Diensten bzw. Aufgaben.

Mit dieser in den Lineamenta und den sich anschliessenden Fragestellungen fortgeschriebenen kirchenamtlichen Pastoral vorbehaltlicher Anerkennung wird nach dem Urteil der grossen Mehrheit der getauften Christen, kirchlichen Amtsträgern und theologischen Fachpersonen die Verkündigung und Praxis des Jesus von Nazaret unterboten. Denn Jesus verkündet und praktiziert eine Pastoral der unbedingten Anerkennung Gottes und setzt dafür sein Leben ein – dies im Horizont endzeitlicher Entschiedenheit, Umkehr und Vollendung.

Selbstredend treten auch in dieser Verkündigung und Praxis Jesu Ideale des Gelingens partnerschaftlicher, ehelicher und familiärer Verbindungen zu Tage. Der dabei entscheidende Gesichtspunkt ist aber nicht die gleichwie definierte äussere bzw. statische Geformtheit jeweiliger Lebensformen, deren faktische Gegebenheit sich im endzeitlichen Geschehen ohnehin wandelt und relativiert. Vielmehr geht es um die heilvolle authentische Verwirklichung von Lauterkeit, Wahrheit, Vitalität und Solidarität der in ihren Beziehungen und mit Gott lebenden und handelnden Menschen. Die in Jesus Christus angesagte und deutliche Praxis Gottes setzt damit pastoral bei der Zuwendung und Annahme unterschiedlicher Geschichten, Schicksale und Lagen an. Sie sagt den betroffenen Menschen die unbedingte göttliche Güte und Anerkennung zu. Kraft dieser Anerkennung werden Menschen fähig, ihr Dasein aufrichtig und sozial zu gestalten, sich gemäss ihrer Möglichkeiten menschlich zu entfalten und sich zu einer Praxis in der Haltung der "grösseren Gerechtigkeit" (Mt 5,20) und der ehrlichen Gottes- wie Menschenliebe zu bekehren.

Man kann den Lineamenta auch diese "jesuanischen Essentials" nicht einfach absprechen. Sie werden aber in positivistischer Weise an eine material fest umrissene, geschichtlich gewachsene Konzeption partnerschaftlichen, ehelichen und familiären Lebens gebunden. Deren eigene kulturelle Bedingtheit und persönliche Entwicklung wird dabei nicht mehr bedacht, durchschaut oder zumindest nicht erwähnt. Das wirkt argumentativ prekär, zudem praktisch äusserst problematisch, da diese idealistisch geforderten materialen Konzepte ehelich-familiärer Perfektion den Situationen und Lebenslagen der meisten Menschen in und ausserhalb der Kirche widersprechen. Denn sie leben, was flächendeckend belegt ist, in klarer Differenz zu den kirchenamtlich festgehaltenen Normen partnerschaftlichen Lebens – und zwar zumeist auf bewusste, verantwortlich getragene Weise.

Diese signifikante, überzeugt gelebte und kommunizierte Differenz wird in den vorgelegten Lineamenta einseitig als Defizit bewertet und den so handelnden Personen bzw. der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung als schuldhaft angelastet. Dies stellt einen ethisch wie theologisch zu kritisierenden Grundzug des Textes dar, zumal an keiner Stelle berücksichtigt wird, dass diese Differenz gegebenenfalls auch von nicht (mehr) angemessenen philosophischen und anthropologischen Implikationen der kirchenamtlichen Idealistik rühren könnte.2

3. Naturrechtliche Kernvorstellung

Im Folgenden soll die entscheidende Ursache dieser prekären Differenz, die sich auf der Ebene der Begründung wie auf der des Lebens zeigt, mit Blick auf die Lineamenta und ihre Fragestellungen skizziert werden. Sie ist auf den ersten Blick nicht leicht erkennbar: Denn es fehlt dem Text nicht an wichtigen personalen Kategorien für den Bereich der Partnerschafts- und Familiengestaltung (wie Liebe, Würde, Gewissen, Fürsorge). Auch werden dafür bedeutsame ethische Kategorien (wie Treue, Wahrhaftigkeit, Gewaltfreiheit) in Anschlag gebracht. Allerdings zeigt sich die praktische Auslegung dieser personalen wie ethischen Kategorien durch eine spezifische Deutung menschlicher Sexualität präformiert, die unausgesprochen im Hintergrund wirkt. Sie ist einer über Jahrhunderte gewachsenen, durch die Neuscholastik des 19. und 20. Jahrhunderts vollends ausgearbeiteten naturrechtlichen Sicht ihres Wesens und ihrer sittlichen Qualifikation verpflichtet.

Es stellt ein systematisches Defizit des Textes dar, dass diese naturrechtliche Kernvorstellung an keiner Stelle eigens ausgewiesen und reflektiert wird. Das wiegt schwer, weil sie als absolutes Kriterium für die Bewertung sämtlicher Handlungen und Formen im partnerschaftlichen, ehelichen und familiären Kontext fungiert – zumal in Verbindung mit der Ausgestaltung humaner Geschlechtlichkeit und sexueller Liebe.

Ursprünglich fusst diese Idealistik auf der augustinischen Ehegüterlehre. Zwar schätzt sie die Ehe menschlich wie theologisch, steht aber zugleich im Horizont einer negativen bzw. latent abwehrenden Sicht sexueller Lust. In diesem Horizont wird Sexualität allein dann sittlich gelebt, wenn sie der Zeugung von Nachkommen ("proles") dient und dies – nicht andere sexuelle Sinngehalte – ihre Absicht ist. Das wiederum zieht die Forderung unverbrüchlicher ehelicher Treue und Ausschliesslichkeit ("fides") als dem einzig verantwortbaren Rahmen sexueller Akte nach sich. Ein christlich geschlossener Ehebund legitimiert und besiegelt nach diesem Verständnis die prokreative Verbindung rechtlich und macht ihn zum unauslöschlichen wie verpflichtenden Zeichen der Bundes zwischen Christus und der Kirche ("sacramentum").

In den nachfolgenden Epochen bleibt dieses Konzept theologisch bestimmend, wird jedoch ab dem 17. Jahrhundert immer rigoroser ausgelegt: Neben der Hochschätzung der sakramentalen Ehe bzw. einer darin angesiedelten, auf Fortpflanzung ausgerichteten Sexualität kommt es zu einer akribischen Verurteilung anderer Formen gelebter Sexualität. Deren mögliche Bedeutsamkeit wird so überhaupt nicht wahrnehmbar, weil es jenseits des vermeintlichen Ideals nur schwerste Sünden geben könne. Dies fand dann unmittelbar Eingang in eine detailliert ausgebaute beichtrechtliche Kasuistik aller nur denkbaren Fälle und Situationen sündig sich verfehlender Sexualität.

Im Kontext neuscholastischer Theologie wird diese Linie nochmals effektiv verstärkt. Hauptbezug ist jetzt eine statisch gedachte, für natural und unveränderlich gehaltene Ordnung von Sexualität. Da mit wird die angstbesetzte lustfeindliche Grammatik des augustinischen Erbes mittels einer gesetzlichen Beschreibung menschlicher Natur positivistisch "zementiert", ohne dass der stets auch interpretative Charakter solcher Aussagen erkannt und offengelegt ist.

Auch ihnen zufolge kann die in der Natur objektiv vorgegebene, am sexuellen Akt ablesbare Ordnung von Sexualität sittlich nur erreicht werden, wenn sie in der Ehe stattfindet und jede sexuelle Handlung von ihrer äusseren Gestalt her für die Zeugung von Nachkommen offen ist. Von welcher Absicht, Mentalität oder praktischen Vernunft sexuelles Handeln geleitet wird, ist damit endgültig zweitrangig. Das zentrale Kriterium für die Qualität bzw. Erlaubtheit jedes einzelnen sexuellen Aktes und aller damit verbundenen Lebensweisen bleibt folglich die physische Offenheit für die rein biologisch gedachte Fruchtbarkeit.

4. Ethische wie pastorale Blockade

Ethisch betrachtet wird dieses Kriterium damit in den fragwürdigen Rang einer naturgegebenen Metanorm erhoben. Sie macht die naturphilosophischen Annahmen dieses Bereiches zu einer nicht mehr reflektierbaren Substanz. So wird eine unvoreingenommene, sprich differenzierte ethische Wahrnehmung zugunsten situativ angemessener Normen prinzipiell blockiert.

Personale Qualitäten (wie Liebe, Treue, Würde, Wahrheit, Fürsorge, Gewissen usw.), die ja in sexuellen Partnerschaften vor, jenseits und nach der klassisch geformten Ehe bekanntlich gelebt werden und gegeben sind, werden marginalisiert und letztlich schlechtgeredet: Diese Partnerschaften hätten trotzdem als in sich verkehrt bzw. als Übel – weil natur- und sittenwidrig – zu gelten. Ihre human gelungenen, mithin überzeugt und verantwortlich geformten Aspekte und Vollzüge können demzufolge in keiner Weise gewürdigt werden, genauso wenig wie ihre biografischen Lernwege und ihre sich optimierende Entfaltungsdynamik.

Von dieser naturrechtlich dominierten Sicht, die jeden einzelnen Akt aller Formen sexuellen Lebens entlang seiner Fortpflanzungsoffenheit bewertet, ist die kirchenamtliche Lehre seit jeher nachhaltig geprägt. Daran änderten auch die Texte des II. Vatikanums und spätere Lehrschreiben nichts, obschon sie einen entscheidenden Fortschritt darstellen, weil in ihnen die personalen Kriterien gelungener Lebensgemeinschaften stärker gesehen und gewichtet werden. Auf Ebene der Normen wird aber auch hier der Konnex zum tradierten, aktualistisch gedachten Paradigma biologischer Fortpflanzung stringent gewahrt.

Die vorliegenden Lineamenta stehen – trotz ihres deutlich pastoralen Anliegens – in der Linie dieses Paradigmas. Das führt systematisch dahin, dass auch in diesem Text die sittliche Qualität ehelicher Gestaltung immer auch mit dem Massstab ihrer als stets erforderlich gedachten Fortpflanzungsoffenheit gemessen wird, andere Massstäbe jedoch in den Hintergrund geraten.

Das wirkt sich zudem unmittelbar auf die Bewertung familiärer Konstellationen aus. Jenseits der tradierten Vorstellung bzw. Idealistik von Ehe und Familie kann es demnach nur defizitäre Formen sexueller Partnerschaft und Liebe geben. Diese teils latente, teils ausdrückliche Abwertung inner- wie ausserkirchlich breit etablierter Lebensformen (Zweitehe, vor- oder nacheheliche Partnerschaft, gleichgeschlechtliche Liebe, sogenannte Patchwork- oder Regenbogenfamilien) ist im gesamten Text greifbar.

Das in allem dennoch deutliche pastorale Anliegen wird daher lediglich greifbar als Forderung eines allgemeinen Respekts gegenüber den vermeintlich widernatürlich gelebten Beziehungen bzw. lebenden Personen – und als Sorge um sie. Diese Sorge dürfe aber nicht als Akzeptanz ihrer konkreten Beziehungsformen missverstanden werden, sondern sei vor allem Anlass, sie zur Rückkehr in ein wesens- bzw. naturgemässes, gottgefälliges Leben zu bewegen. Die besagte ethische Blockade zieht damit eine pastorale Blockade nach sich, die nach Überzeugung der meisten kirchlichen Gemeinden und der Funktionsträger vor Ort im praktischen Widerspruch zur erwähnten jesuanischen Pastoral der unbedingten Anerkennung Gottes steht.

Auch im Fragenteil, welcher die Lineamenta abschliesst, ist diese ethisch grundgelegte, pastorale Blockade deutlich spürbar. Der Horizont bzw. die Suchrichtung der gesammelten Fragestellungen eröffnet nicht eine ungehinderte Wahrnehmung und Kommunikation der inner- wie ausserkirchlich vielfältig gelebten Beziehungs- und Familienformen. Vielmehr wird beinahe ausschliesslich nach der Lage und den Chancen der Vermittlung bzw. Verbreitung der besagten, kirchenamtlich vertretenen traditionellen Form von Ehe und Familie gefragt.

Damit können andere Formen wiederum lediglich als defizitär oder minderwertig erscheinen; ihre erfahrbare Eigenwertigkeit bzw. humane Güte kommt so jedenfalls nicht in den Blick und kann keine Würdigung finden. Zugleich wird durch diese vorgefasste Fragehaltung das mögliche Defizit der kirchenamtlich favorisierten Begründungsstrukturen systematisch ausgeblendet. Faktisch wird damit die manifeste Begründungskrise, die den synodalen Prozess ausgelöst hat, bereits im Ansatz ignoriert. Mehr noch: Die den meisten zum Problem gewordenen Massstäbe bleiben das nicht befragbare, textlich leitende Erkenntnisprinzip des synodalen Vorfeldes.

5. Theologische Bedenken und Alternativen

Die theologischen Bedenken bezüglich dieser Lineamenta schliessen sich hier unmittelbar an. Denn die darin aufgewendeten theologischen Argumente und Aussagen dienen vor allem einem Zweck: Sie stützen und untermauern die naturrechtlich festliegende Idealistik eines vollkommenen, der tradierten Norm entsprechenden Ehe- und Familienlebens.

Die dabei geschaffenen Bezüge sind durchaus verschiedener Natur: Sie gestalten sich biblisch, christologisch oder familien-, ehe- und sakramententheologisch; sie kommen zudem aus einer Interpretation der Verkündigung und Praxis Jesu, berufen sich auf eine "göttliche Pädagogik", auf die kirchliche Sendung oder den evangelisatorischen Auftrag, der alle Getauften verbindet.

Die tradierte Idealistik aber stellt das entscheidende Schema dar, in das sämtliche Bezüge aufgenommen bzw. für das sie argumentativ eingesetzt werden. Daraus folgt eine durchgehende theologische Enteignung jener Beziehungsformen, die dem vermeintlichen Ideal nicht, noch nicht oder nicht mehr entsprechen. Damit sind auch alle für die Entwicklung und Entfaltung gelingender Partnerschaft und Familie erwartbaren, oftmals unumgänglichen Entwicklungs-, Lern- und Suchwege theologisch in Misskredit gebracht.

Es fehlt dem Text also eine Theologie, die in der Lage ist, Menschen auf dem Weg in ein authentisches Gelingen von Partnerschaft, Liebe und Familie – einschliesslich seiner faktischen Um-, Ab- und Seitenwege – zu ermutigen, schrittweise zu begleiten, sie dabei anzuerkennen bzw. mit Respekt und kritischem Verständnis zu beraten. Weil die besagte tradierte Idealvorstellung theologisch ausschlaggebend ist, gelangt der Text nur zu einem abwertenden appellativen Blick auf alle Lebensweisen, die im Vergleich dazu als noch nicht vollkommen, falsch oder unfertig eingeschätzt werden.

Eine entwicklungsförderliche – das Mögliche wie Nötige sukzessive unterstützende – Theologieform hingegen würde eine göttliche Pädagogik offenlegen, die der von Jesus Christus verkündeten Pastoral der unbedingten Anerkennung Gottes entspricht: Ohne die starken Visionen heilvoll gelingender Liebe zu verraten, ist eine solche Pädagogik mit den Menschen unterwegs und an ihrer Seite: ihre Suchbewegungen, Lernschritte und für sie unumgänglichen Lebensumstände würden dabei nicht pauschal abgewertet und unter einen perfektionistischen Druck gebracht, sondern im Vertrauen auf ihr Bemühen und aufrichtiges Engagement anerkannt und entlang erreichbarer humaner Qualitäten und Wachstumschancen fortgeführt.

Eine dergestalt mitgehende wie befreiende, Heil entwickelnde wie zulassende Theologieform liegt im Übrigen für den Bereich partnerschaftlicher Liebe und familiärer Gestaltung fachlich seit Jahrzehnten vor. Daher ist es ein zusätzliches Defizit des Textes, dass diese umfassenden professionellen Vorarbeiten der Fachtheologie im laufenden synodalen Prozess und im kirchenamtlichen Duktus bislang kaum ersichtlich sind bzw. keine Beachtung gefunden haben. Damit wird zugleich ein Wesensmerkmal synodaler Ereignisse eklatant verletzt, das auf ein konstruktives Zueinander ortskirchlicher, lehramtlicher und fachtheologischer Beiträge zielt.

In einem solchen Zu- oder Miteinander könnten nicht nur kirchliche Dialogprozesse gelingen; es würden auch diverse Unstimmigkeiten sachlicher Natur bearbeitet und besser verstanden werden können: beispielsweise exegetisch der Sinn des jesuanischen Ehescheidungswortes; dogmatisch das Verständnis bzw. die Entfaltung der sakramentalen Dimension der Ehe; liturgie- und pastoraltheologisch der Stellenwert kirchlicher Segnungen und ihre Symbolik; moraltheologisch die Reflexion bestehender Familien- und Partnerschaftsideale, ihr Verhältnis zu überzeugt gelebten Erfahrungen und bestimmten Handlungsnormen.

Vor allem wäre es auf diesem Weg möglich, das traditionell naturrechtlich festgelegte Schema kirchenamtlicher Begründung in diesem Bereich wieder in ein hermeneutisch erschliessendes Gespräch zu bringen. Darin wird es sicher nicht darum gehen, dem als "Natur" beschriebenen Wesen des Menschseins pauschal den Boden zu entziehen. Gewiss geht es aber darum, jene Aussagen, die – auf vielen Seiten! – als "Natur" oder "natürlich" und damit als Ideal humaner sexueller Gestaltung bezeichnet werden, einer kritischen Prüfung zuzuführen.

Auf diese Weise käme auch eine theologisch wie ethisch relevante Unterscheidung wieder in den Blick: Zum einen werden selbstredend Zielbegriffe partnerschaftlichen und familiären Lebens formuliert. Sie betonen aber nicht schon einzelne Handlungen und darauf abgestimmte Normen, sondern stehen für die Entwicklung personaler und ethischer Grundqualitäten aller Beziehung- oder Lebensformen: beispielsweise ganzheitliche Anerkennung, praktizierte Würde, wahrhaftige einbeziehende Kommunikation, engagierte Treue, geschenktes Vertrauen, prosoziale Hingabe, mündige Freiheit als Weg umsichtiger authentischer Verantwortung, Ächtung von Gewalt, von Verzweckung und Missbrauch usw.

Davon zu unterscheiden, aber gleichermassen ethisch wie theologisch zu etablieren, sind zum anderen Realkategorien, die auf die vielfältige Erfahrungswelt gelebter Beziehungen einwirken: Begriffe, die sich förderlich auf den Entfaltungsweg solcher Lebensformen richten; Begriffe, die im Fall von Scheitern und Schuld, von erlittenen Brüchen und Enttäuschungen aufbauend greifen; Begriffe, die die Anerkennung realen Lebens kommunizieren, das nie vollkommen sein kann, aber bestmöglich gewagt und verantwortet wird.

Schliesslich werden auch Normen formuliert, die der sprachliche Ausdruck situativ greifender Handlungsregeln sind: Sie gestalten sich gewiss nicht beliebig, fallen aber deshalb weder vom Himmel, noch entstehen sie in naturaler Weise. Vielmehr sind sie vor dem Horizont besagter Zielbegriffe und Realkategorien kommunikativ zu entwickeln bzw. zu verantworten. Ihre letzte Gültigkeit und Tauglichkeit erweist sich durch ihr human triftiges, förderliches Verhältnis zu den jeweiligen Umständen, Möglichkeiten und Grenzen konkreter Lebenssituationen.

Die in diesem normativen Zusammenhang theologisch wohl bedeutsamste Aussage fehlt den Lineamenta: die schöpfungsgemässe Vollendung als Frucht der in aller Gestaltung angestrebten Vollkommenheit ist eine Kategorie Gottes. Sie darf dem menschlichen Handeln nicht einfach angelastet werden. Göttliches und Menschliches ist also gut zu unterscheiden. So gesehen sind alle unvollkommen und auf dem Weg, biblisch gesprochen Sünder – und zugleich von Gott begleitet, angenommen und gewürdigt.

6. Abschliessende Einzelbewertung

Zum Abschluss sollen die aus meiner Sicht auffälligsten Positiva und Negativa der vorliegenden Lineamenta nochmals knapp zusammengetragen werden:

Positiv zu werten ist bereits die Tatsache einer welt- und ortskirchlich angelegten Befragung; die ausdrücklich formulierte pastorale Intention des Prozesses; der bisweilen erkennbare sozialpolitische und strukturenkritische Sensus für Defizite familiärer Gestaltung; die Würdigung interkultureller Erfahrung in puncto Naturehe bzw. stufenweise Entfaltung ehelicher Qualität; die stellenweise Anerkennung positiver Qualitäten von Zivilehen oder nichtehelichen Partnerschaften; die Aufforderung, Diskriminierungen z. B. von wiederverheiratet Geschiedenen zu vermeiden; die aus "Evangelii gaudium" zitierte pastorale Aufforderung von Papst Franziskus, sich in eine "Kunst der Begleitung" einzuüben und "stets (zu) lernen, vor dem heiligen Boden des anderen sich die Sandalen von den Füssen zu streifen" (169).

Kritisch zu vermerken ist, dass die besagte kirchenamtlich favorisierte, naturrechtliche Idealistik fortpflanzungsorientierter ehelicher Sexualität nicht Gegenstand der Reflexion und Befragung ist; dass so die Gegebenheit und mögliche Qualität unterschiedlicher überzeugt praktizierter Partnerschafts- und Familienformen prinzipiell marginalisiert wird; dass die diesbezüglich weiterführende Fachliteratur nicht zur Kenntnis genommen wird; dass die Thematisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nur am Rande und abwertend geschieht, so dass besonders auch deren mögliche personale Qualitäten keinerlei Erwähnung finden; dass soziologisch krisenhafte, weil geschichts- bzw. milieubezogene Erfahrungen wie die Familie als Hauskirche unkritisch fortgeschrieben werden; dass theologische Begriffe und Kategorien hauptsächlich dazu dienen, die ethisch favorisierte Idealistik zu unterstützen, anstatt einer Pastoral der unbedingten Anerkennung und Weggemeinschaft Gottes Anhalt zu geben.

Bei allem, was positiv wie kritisch gesagt werden kann: Es ist ein menschlich, kirchlich wie theologisch beachtlicher Vorgang, dass Fragen, Aufgaben und Hoffnungen partnerschaftlicher Liebe und familiärer Gestaltung auf synodale Weise neu bedacht und erwogen werden sollen. Der synodale Austausch unterschiedlicher Perspektiven im christlichen Verstehen und Handeln ist biblisch bezeugt und der Kirche in die Wiege gelegt. Er lebt und kann gelingen, wenn Mut und Umsicht, Zeugnis und Offenheit Pate stehen. Der Glaube an die Partnerschaft und Vollendung Gottes, insbesondere das Vertrauen in Gottes gute Schöpfung, hilft, anzunehmen und anzuerkennen, was Menschen im Rahmen ihres Lebens und Liebens möglich ist und gelingt. Dies in kirchlicher Lehre, Praxis und Verkündigung unvoreingenommen zu verdeutlichen und zu leben, würde das Gelingen von Partnerschaft und Familie wahrhaft beflügeln. 

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1 http://www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20141209_lineamenta-xiv-assembly_ge.html (19.3.2015).
Oder als pdf am Schluss des Artikels.

2 Vgl. für den gesamten Bereich: Arnd Bünker / Hanspeter Schmitt (Hrsg.): Familienvielfalt in der katholischen Kirche. Geschichten und Reflexionen. Zürich 2015 (erscheint im Juni 2015).

Hanspeter Schmitt

Hanspeter Schmitt

Dr. theol. Habil. Hanspeter Schmitt ist Ordentlicher Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.