Aus Märtyrern werden Heilige

Die Armenische Apostolische Kirche spricht am 23. April 2015 die etwa 1,5 Millionen Opfer des Armenier-Genozids im Osmanischen Reich, 100 Jahre nach ihrem Märtyrertod, kumulativ heilig. Im Osmanischen Reich wurden zwischen 1915 und 1919 rund 1,5 Millionen armenische und weitere ca. 500 000 syrische Christen getötet, weil sie Christen waren. Nur wer damals zum Islam konvertierte, konnte sich vor dem Tode retten. Die Getöteten wurden also zu Märtyrern ihres Glaubens. Die türkischen oder kurdischen Täter waren zwar selbst grösstenteils agnostisch, sie bedienten sich aber beim Völkermord des "islamischen Arguments". Vor diesem Hintergrund wird die Armenische Apostolische Kirche am 23. April 2015, einen Tag vor dem Genozid- Zentennium, in einem kirchengeschichtlich einmaligen Vorgang während eines grossen ökumenischen Treffens in Etschmiadzin, dem Sitz des armenischen Katholikos, die 1,5 Millionen Opfer des Genozids kumulativ heiligsprechen.

Mit der Massenfestnahme von etwa 200 Armeniern in der Hauptstadt Konstantinopel begann am 24. April 1915 (am 11. April nach dem damals noch im Osmanischen Reich üblichen julianischen Kalender) der Genozid an armenischen Bürgern des Osmanischen Reiches. Erstmals gedenken konnten die Armenier dieser Opfer nach der Flucht der jungtürkischen Täter und nach der osmanischen Kriegskapitulation und dem Eintreffen der westlichen Alliierten in Konstantinopel 1919. Noch im März 1919 bildete sich ein "Ausschuss für die Trauerzeremonie zum 11. April", um mit Gedenkgottesdiensten die Erinnerung an die seit 1915 Ermordeten wachzurufen. Der Gedenkgottesdienst in der Kirche zur Hl. Dreifaltigkeit in Konstantinopel fand mit Vertretern der griechisch-orthodoxen Kirche sowie der gerade erst entstandenen Republik Armenien statt. Am 25. April 1919 wurde auch in der armenisch-katholischen Kirche des Vatikans mit Zustimmung des Papstes und unter breiter Beteiligung der in Italien lebenden Armenier eine Seelenmesse für die ermordeten Armenier gehalten.

Die armenische Kirche sprach von Anfang an bei den Ermordeten von Märtyrern des Glaubens. 1921 wandte sich der Katholikos aller Armenier, Geworg V. Surenjanz, mit einem Sonder-Hirtenbrief an den armenisch-apostolischen Patriarchen zu Konstantinopel, in dem er vorschlug, den 11./24. April zum nationalen Trauertag "zur Erinnerung an unsere Hunderttausenden Märtyrer" zu erheben, und erklärte den Tag zum offiziellen kirchlichen Trauertag des Katholikats von Etschmiadsin. Am 23. April wies das Konstantinopler Patriarchat an, "ab heute den Gedenktag zur Erinnerung an die Konstantinopler Intellektuellen als Trauertag für die Opfer des Krieges und der Deportation zu begehen".

Im heutigen Armenien selbst, das von 1921 bis 1991 zur Sowjetunion gehörte, gab es erst seit dem 50. Jahrestag des Völkermords 1965, auf Druck der Bevölkerung hin, offizielle Gedenkfeiern, sie hatten jedoch eher einen politischen Charakter, obwohl auch in der seit damals gebauten Gedenkstätte auf dem Zizernakaberd-Hügel (arm. "Schwalbenfestung ") in Eriwan auch die Kreuzessymbolik sehr deutlich ist. Erst seit der Unabhängigkeit Armeniens 1991 beteiligt sich auch die Armenische Apostolische Kirche an diesen Gedenkfeiern am 24. April, an dem Hunderttausende Armenier mit Blumen den Toten gedenken. 1989 wurde in der syrischen Stadt Deir Ezzor, wo in Konzentrationslagern Hundertausende Armenier ums Leben kamen, die Völkermord- Märtyrer-Gedenkkirche zum Gedenken an die Opfer des Völkermords an den Armeniern gebaut. Bis zur Zerstörung der Gedächtniskirche am 21. September 2014 durch die Terrororganisation "Islamischer Staat" besuchten jedes Jahr am 24. April Zehntausende armenische Pilger aus aller Welt die Gedenkstätte in Deir Ezzor, das zum Auschwitz des Armeniergenozids geworden ist.

Auch die katholische Kirche gedenkt der Opfer des Genozids mit Seligsprechungen

Die Heiligsprechung der Opfer des Völkermords an den Armeniern wird zum grossen Höhepunkt des 100. Jahrestages des Genozidbeginns, der ab dem 24. April 2015 in Armenien und der armenischen Diaspora weltweit gefeiert wird. Das hob der Sprecher des armenischen Aussenministeriums, Tigran Balayan, in einem Gespräch mit dieser Zeitung hervor. Von dieser Heiligsprechung sind auch einige zehntausend katholische und einige tausend evangelische Armenier betroffen, die damals mit ihren orthodoxen Landsleuten zu Märtyrern wurden. Das seit 1749 mit Rom unierte armenisch-katholische Patriarchat von Kilikien, mit Sitz im Kloster Bzommar bei Beirut im Libanon, hatte einstmals in der Türkei 15 Bistümer, neben diesen verlor es durch den Völkermord auch 130 Priester und sieben Bischöfe, von denen die katholische Kirche einige bislang als Selige anerkannt hat. Auch nach katholischem Kirchenrecht können Glaubensmärtyrer ohne die Anerkennung eines Wunders heiliggesprochen werden.

Die katholische Kirche wird voraussichtlich im Sommer zwei Kapuziner, die 1915 Opfer der Armeniermassaker geworden waren, seligsprechen. Es handelt sich um Bruder Leonard Melki (1881–1915) und Bruder Thomas Saleh (1879–1917), deren Seligsprechungsverfahren positiv abgeschlossen wurde. Der armenischstämmige Bruder Leonard Melki , der sich geweigert hatte, seinem Glauben abzuschwören, wurde gemeinsam mit dem armenisch-katholischen Erzbischof, dem seligen Ignatius Maloyan von Mardin, und 415 Christen hingerichtet. In der osmanischen Provinz Mardin wurden während des Völkermords an den Armeniern systematisch alle Christen ermordet, nicht nur die christlichen Armenier. Der Kapuzinerbruder Thomas Saleh wurde verhaftet und zum Tode verurteilt, weil er während des Genozids einem armenischen Priester Zuflucht gewährt hatte. Mitten im Winter von osmanischen Soldaten deportiert, starb er während des Deportationszuges am 18. Januar 1917 an den unmenschlichen Strapazen. Er wurde wie Hunderttausende andere Opfer auf der Strasse liegengelassen, wo er starb.

Die Armenische Apostolische Kirche hat seit rund 400 Jahren keine neuen Heiligen mehr kreiert. Das Verfahren und die Zeremonie für die Heiligsprechung mussten deshalb erst wieder neu festgelegt werden. Zu der Heiligsprechung am 23. April 2015 hat die Armenische Apostolische Kirche neben den Oberhäuptern der orthodoxen Nationalkirchen auch Vertreter des Weltkirchenrates und Papst Franziskus eingeladen. Papst Franziskus hatte am Ende seines Besuchs in der Türkei im November 2015 den kranken armenischen Patriarchen von Konstantinopel überraschend in einem Krankenhaus besucht. 

 

 


Bodo Bost

Bodo Bost studierte Theologie in Strassburg und Islamkunde in Saarbrücken. Seit 1999 ist er Pastoralreferent im Erzbistum Luxemburg und seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Public Responsibility an der kircheneigenen Hochschule «Luxembourg School of Religion & Society».