Pastorale Sehschule

Die Impulse von Manfred Kulla für die Begleitung junger Menschen in Religionsunterricht und Pastoral stellt Dietrich Wiederkehr vor.1

Was beim Augenarzt hie und da durchgeübt werden muss, gilt auch von dem vorzustellenden Buch von Manfred Kulla. Es mutet uns eine gehörige Beweglichkeit zu im pastoralen Sehen, Denken und Handeln, aber es begleitet und unterstützt uns auch bei diesen Seh-Übungen.

Bei den ausgewählten und vorgestellten Praxis- und Reflexionsfeldern, die der Autor vorlegt, üben die Leserin und der Leser den ausweitenden ZOOM und den annähernden FOKUS ein. Zunächst wird die ungeduldige praktische Seelsorge zu eine erweiternden Perspektive eingeladen und aufgeboten. Denn auch die Glaubensbegleitung des jungen Menschen zeigt sich anders in einem gesamtgesellschaftlichen Prozess mit seinen Verlegenheiten, Chancen und Richtungen: Die Probleme werden weltlicher und weniger religiös erfahren und ausgesprochen. Die Orte des Glaubens in der Kirche sind in der Lebensgeschichte zugleich Orte der Individualisierung und Anonymisierung. In diesen weiteren jugendpsychologischen und -soziologischen Kreis hinein montiert Kulla die religionspädagische Fokussierung auf die pastorale Begleitung des jungen Menschen. Wie ein Dia schiebt er die Auslegung der biblischen Erzählung ein, wo Jesus ein Kind in die Mitte stellt.

Lehrperson und junge Menschen

In einer ähnlichen, aber umgekehrten Bewegung wird das nächtliche Gespräch zwischen dem Priester Eli und dem jungen Samuel zum Paradigma für die Beziehung zwischen der Lehrperson und dem jungen Menschen (40–60). Eli entlässt den angerufenen Samuel in die unmittelbare Hörbereitschaft für das an ihn gerichtete Wort Gottes, setzt ihn so frei und nimmt sich selber aus einer verstellenden Vermittlung heraus. Der Religionslehrer bleibt so ein Lernender und kann den jungen Menschen nur dazu anleiten, selber das Wort Gottes zu empfangen: «Rede Herr, dein, Diener hört.» Die Lehrperson muss sich zurücknehmen und -halten, noch mehr, der junge Mensch selber wird auch für den Lehrer zur Vermittlung des Wortes Gottes. Wiederum decken sich hier weitgehend die Anweisungen an die Begleiter dieses Identitätsprozesses in der allgemein-humanen und in der spezifisch-religiösen Erziehung. Die Begegnung darf nicht eine erwachsene Leitvorstellung dem jungen Menschen aufzwingen, sondern muss sich von ihm befragen lassen, biblisch. In der Heilung des blinden Bartimäus frägt Jesus: «Was willst du, dass ich dir tun soll?»

Jugendliche Gruppen brauchen auch ihre Freiräume sowohl für die Personen, mit denen sie leben wollen, wie ihre Orte und ihre Zeiten. Wo, mit wem und wie können sie den eigenen Gesprächs-und Erlebnispartnern begegnen? So wie Jesus die Frage der Jünger nach seinem Wohnort beantwortet: «Kommt und seht!». Bei dieser «Raum-Besetzung» kann Kulla, praxiserfahren, zu einem Rallye durch die Pfarrei anleiten. Sowohl von der inhaltlichen Thematik wie von der Methode her liest sich das letzte Kapitel über die Firmung wie ein Modell für Kullas Konzept von Jugendpastoral (87–111).

Firmung und Heranwachsende

Erfahrungen und Unbehagen mit der bisherigen Firmpraxis wie auch neue Versuche mit einer von der kirchlichen und pfarreilichen Gemeinschaft mitgetragenen und -begleiteten Firmpraxis umgeben und umstellen die Seelsorgenden wie auch die Firmanden selber mit vielfältigen Herausforderungen. Sie helfen ebenso zu einem vertieften Verständnis der Firmung als Geistbegabung und -entfaltung innerhalb und zusammen mit der Gemeinschaft der Glaubenden. Die Firmung gehört hinein in den ganzheitlichen Individualisierungsprozess des heranwachsenden Menschen, der nicht mehr auf eine Normbiografie festgelegt werden kann, sondern offen bleiben muss für das Projekt des Erwachsenwerdens. Auch die biblischen Aussagen und die Tradition der Kirche sind nicht wie bisher nur binnentheologisch, sondern im Kontext der historischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu lesen, diese sind schon immer und nicht etwa erst heute eine Spezialität gegenwärtiger Begleitung zur Firmung.

Allein mit biblischen Meditationen und liturgischen Anleihen in der Tradition bliebe sowohl für die heutige Situation, aber auch schon für die Tradition das Eingebundensein in eine Gesamtpastoral ausgeblendet. Die Firmung impliziert die Sendung zum Apostolat, sie soll die Identitätsfindung gelingen helfen, und führt auf solchen nur scheinbaren Umwegen zurück zur Firmung als Sakrament der Initiation. Angesichts der wechselnden Optiken zwischen Zoom und Fokus ist man zur Leseanleitung an Interessierte versucht, zu sagen: Sie sollen das Buch von Kulla vom Ende her lesen, buchstäblich und wörtlich: «Von hinten nach vorne»!

 

1 Manfred Kulla: Den Einzelnen im Blick. Impulse für eine Pastoral der Zuwendung. Luzern-Stuttgart 2014. Zahlen im Text sind Seitenverweise

Dietrich Wiederkehr

Dr. theol. Dietrich Wiederkehr (OFMCap) war Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und ist in Zürich als Seelsorger tätig.