Für eine Kultur der Begegnung

Am 19. November feiert die katholische Kirche zum ersten Mal einen Welttag der Armen. Papst Franziskus setzte ihn am Ende des Jahres der Barmherzigkeit ein, «damit in der ganzen Welt die christlichen Gemeinden immer mehr und immer besser zum konkreten Zeichen der Liebe Christi für die Letzten und Bedürftigsten werden». Wie kann dieser Tag gestaltet werden? Welche Beziehung besteht zum «Welttag zur Überwindung der Armut», der jeweils am 17. Oktober begangen wird?

Die Menschheitsfamilie hat die Pflicht, jeden ihrer Mitmenschen von der Geissel des Hungers und der Armut zu befreien.» Diesen Auf-ruf hat Papst Franziskus am 17. Oktober, dem 30. Welttag zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung,1 über Twitter verbreitet. Er klingt an den Aufruf zum Handeln an, den Joseph Wresinski, der Gründer der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt, am 17. Oktober 1987 lanciert hat: «Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht.»

Einen Monat nach dem UNO-Welttag

Weltweit machen sich Personen und Organisationen mit unterschiedlichem sozialem, politischem, kulturellem oder religiösem Hintergrund die Botschaft des 17. Oktober zu eigen. Viele haben dies im Rahmen der Kampagne «Schluss mit dem Elend – Gemeinsam für die Würde aller» öffentlich bekundet: «Aufgezwungene Armut ist eine Form von Gewalt. (…) Sie ist das grösste Hindernis für den Frieden und für eine nachhaltige Zukunft unseres Planeten. (…) Seit jeher widerstehen die Notleidenden dieser Ungerechtigkeit. Und die Welt benötigt ihr Wissen und ihre Intelligenz (…). Wir können voneinander lernen, uns von der Logik des Ausgrenzens und Dominierens zu befreien.»2

Die Botschaft des Papstes zum Welttag der Armen, am 19. November 2017, ist ebenfalls ein Aufruf zum Handeln. «Liebt nicht mit Worten, sondern in Taten.»3. Der neue Welttag «will zuerst die Gläubigen anspornen, damit sie der Wegwerfkultur und der Kultur des Überflusses eine wahre Kultur der Begegnung entgegenstellen». Einen Monat nach dem UNO-Welttag vom 17. Oktober bietet er uns Gelegenheit, zu vertiefen, wie wir als ChristInnen versuchen, «die Ärmsten zu erreichen und ins Herz unserer Projekte zu stellen».4 Die internationale Charta 17. Oktober ermutigt alle philosophischen, spirituellen und religiösen Strömungen, dies «im Rahmen ihrer Überzeugung»5 zu tun.

Rechte der Ärmsten im Zentrum

Als Religionsgemeinschaften können wir uns an diesem Tag besonders fragen, wie es mit dem Recht der Ärmsten auf Spiritualität in unserer Umgebung bestellt ist, mit ihrem Recht, ihren Glauben und ihre Hoffnung frei in Gemeinschaft mit andern zu leben und zu vertiefen, und was wir konkret verändern können und müssen, um ihnen dieses Recht zu garantieren. Die Anregung des Papstes, die armutsbetroffenen Menschen und diejenigen, die sich mit ihnen engagieren, an diesem Sonntag zur Eucharistiefeier einzuladen, nachdem wir in der vorausgehenden Woche die Begegnung mit ihnen gesucht haben, zielt in diese Richtung.

Es lohnt sich, die Botschaft von Papst Franziskus zum Welttag der Armen eingehend zu lesen.

Ich möchte dazu anregen, dies zusammen mit Armutsbetroffenen und MitarbeiterInnen, die mit ihnen in Kontakt stehen, zu tun. Es braucht dazu keine grosse Organisation. Möglicherweise ergibt sich spontan eine Gelegenheit, wenn wir offen sind dafür. Vielleicht kann aus einem solchen Gespräch auch eine Predigt oder eine Fürbitte entstehen.

Und noch eine Anregung: Achten wir bei unseren Gottesdiensten und anderen Anlässen darauf, wen wir grüssen und wen wir dabei vielleicht übersehen. Immer wieder weisen mich armutsbetroffene Menschen darauf hin, wie wichtig es ist, jeden Menschen zu grüssen, gerade auch den, der uns vielleicht abstösst oder uns Angst macht.

Begegnung wagen

Im Blick auf das Evangelium des Tages6 möchte ich zum Abschluss sagen: Die Verbundenheit mit den Ärmsten aller Zeiten in Jesus Christus ist den christlichen Gemeinschaften als «Talent» anvertraut. Im Bemühen, den überlieferten Glauben treu zu bewahren, können wir versucht sein, dieses uns anvertraute Gut in Erklärungen und institutionellen Abläufen zu «vergraben». Doch nur in der Begegnung mit Menschen aus Fleisch und Blut bringt es Ertrag. In unserer Zeit hat Joseph Wresinski den «Weggeworfenen der Gesellschaft»7 eine gemeinsame Identität gegeben, auf die sie stolz sind. Allem Elend zum Trotz bleiben sie die ersten Verteidiger der Menschenrechte, die ersten Bauleute am Reich Gottes. Suchen wir die Begegnung und Gemeinschaft mit den Ärmsten unter uns. Nehmen wir sie zu Partnern und Partnerinnen, um Kirche und Welt zu erneuern. Gehen wir gemeinsam auf noch Ärmere zu, damit das Reich Gottes bei uns ankommen kann!

 

1 Vgl. Marie-Rose Blunschi Ackermann: Der 17. Oktober – ein weltweiter Solidaritätstag mit den Armen, in: SKZ 183 (2015) 542–544.

2 http://www.atd-fourthworld.org/stop-poverty/call-to-action/aufruf-zum-handeln/

3 Botschaft von Papst Franziskus, Erster Welttag der Armen, Vatikan, 13. Juni 2017, https://w2.vatican.va/content/francesco/de/messages/poveri/documents/ papa-francesco_20170613_messaggio-i-giornatamondiale-poveri-2017.html

4 Charte internationale 17 octobre – journée mondiale du refus de la misère, II–8, http://refuserlamisere.org/article/charte-internationale-17-octobre-journee-mondiale-du-refus-de-la-misere (Übersetzung, M.B.)

5 Ebd.

6 Mt 25,14–30.

7 Vgl. «Evangelii gaudium», 53.

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.