Geht raus!

Zeitgemässer Religionsunterricht bedeutet auch, Kindern und Jugendlichen Erfahrungen «draussen» zu ermöglichen und Verantwortung zu übertragen. Das wirkt nachhaltiger als Theorie in kirchlichen Räumen.

Fünfzehn Jugendliche sind seit 2016 im Bistum St. Gallen damit beschäftigt, ein kirchliches Jugendmagazin zu entwickeln. Das Magazin mit dem Namen d(ich) wurde zum Jubiläum zwanzig Jahre «Pfarreiforum – Pfarrblatt im Bistum St. Gallen» lanciert.1 Jugendliche schreiben für Jugendliche. Junge sollen befähigt werden, ihre Erfahrungen als Reporter, Fotografen, YouTuber und Layouter zu sammeln und über kirchliche und ethische Themen zu berichten. Im November erscheint die vierte Ausgabe als Beilage des Pfarreiforums.2 Geplant ist, dass künftig zweimal pro Jahr ein Jugendmagazin erscheint. Von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde es im Oktober beim Jugendprojekt-wettbewerb der Kantone St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden, als es bestes Projekt des Jahres ausgezeichnet wurde. Das kirchliche Jugend-Redaktionsteam beeindruckte die Jury und setzte sich gegen zwölf andere Projekte durch. Damit landete zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs ein kirchliches Projekt auf dem ersten Platz.

Anderen Lebenswelten begegnen

Was hat dieses Projekt mit Katechese zu tun? Ist es wirklich Aufgabe der Kirche, Jugendlichen den Einstieg in den Journalismus zu ermöglichen? Es ist ein Beispiel dafür, dass es sich lohnen kann, Jugendlichen etwas zuzutrauen und ihnen Verantwortung zu übertragen? Es fördert mehrfach die Kreativität und die Kompetenzen der Jugendlichen, da sie sich intensiv mit Religion und Kirche auseinandersetzen. Eine Jugendliche bereitet ein Interview mit Bischof Markus Büchel vor: Was ist eigentlich ein Bischof, und welche Aufgaben hat er? Welche Fragen dürfen gestellt werden? Was würde mich interessieren?

Ein Jugendlicher fädelt ein Interview mit straffälligen Teenagern ein. Ein anderer porträtiert einen gleichaltrigen Flüchtling. Eine Teenagerin lanciert eine eigene Rubrik und möchte in jeder Ausgabe «Helden des Alltags» würdigen: die Mütter, die Verkäuferinnen, die Busfahrer ... Die Jugendlichen setzen sich nicht theoretisch, sondern ganz konkret mit anderen Lebenswelten auseinander, lernen verschiedene Glaubens- und Weltanschauungen kennen, eine eigene Meinung zu bilden und dazu Stellung zu nehmen. Gefragt ist auch Mut zu Bekenntnis und Positionierung: Da will eine Jungreporterin ihren Lieblingssportler interviewen und muss begründen, warum sie sich in der katholischen Kirche engagiert.

Etwas zutrauen

Neben d(ich) könnten viele weitere ähnliche kirchliche Jugendprojekte genannt werden, bei denen kirchliche Mitarbeitende Kindern und Jugendlichen etwas zutrauen, ihnen die Zügel in die Hand geben und damit Mut zum Risiko beweisen. Denn das Ziel ist unbekannt. Das ist auch beim Projekt d(ich) der Fall. Ob die Finanzen richtig investiert sind, ist offen. Das Ganze kann erfolgreich sein, aber auch scheitern. Aber eines ist definitiv: Die mitwirkenden Jugendlichen machen Erfahrungen, die sie prägen und an die sie sich ein Leben lang erinnern. Wie gewinnt eine Institution Glaubwürdigkeit? Auch dadurch, dass sie Jugendlichen etwas zutraut, ihnen vertraut und sie «machen lässt» mit allen Konsequenzen. Müsste nicht gerade die Kirche bei so etwas eine Vorreiterrolle einnehmen? «Macht mal, wir sind überzeugt, dass ihr das schaffen werdet!» Damit stärkt sie Jugendliche in ihrem Erwachsenwerden und ermöglicht «Menschwerdung».

«An die Ränder»

Die religionspädagogische und katechetische Landschaft sieht jedoch meistens noch immer ganz anders aus. Viel zu oft beschränken sich Religionsunterricht und Katechese auf Theorie in muffigen kirchlichen Räumen. Religionspädagogen und Katechten sind mit viel Herzblut und einem grossen Rucksack voller kreativer Methoden an der Arbeit, um einen vielfältigen, lebensnahen Unterricht zu ermöglichen. Der «Weg nach draussen» bleibt jedoch versperrt. Das liegt oft nicht an der Bequemlichkeit der Religionspädagogen, sondern an Finanzen, die nicht zur Verfügung gestellt werden oder fehlendem Mut der Verantwortlichen, Innovationen zu fördern. Oft kann man sich noch nicht durchringen, den Unterrichtsraum mit W-Lan auszustatten. Dabei stellt sich bereits eine andere Frage: Wäre der Religionsunterricht in Zukunft nicht ohne Unterrichtsraum denkbar?

Die Projekttage finden jeweils «draussen» vor Ort statt: Auf dem Friedhof, im Kloster, in der Gassenküche ... Schülerinnen und Schüler lernen direkt an Orten, wo sie Menschen begegnen, mit denen sie sonst nicht zu tun haben. «Geht raus an die Ränder!», hat Papst Franziskus aufgerufen. Diesen Aufruf könnte man ergänzen: «Bringt die Kinder und Jugendlichen an die Ränder der Gesellschaft!» Es könnte sie nachhaltig prägen und ihnen etwas mitgeben, von dem sie für ihr ganzes Leben profitieren.

 

1 Siehe den Link zum Jugendmagazin d(ich) auf www.pfarreiforum.ch.

2 In einer Auflage von 110 000 Exemplaren.

Stephan Sigg

Stephan Sigg ist 28 Jahre alt und von Beruf Autor. Aufgewachsen ist er in Rheineck in der Ostschweiz. Sein Theologiestudium schloss er 2007 in Chur ab. Seither ist er als Journalist und Autor tätig und lebt in St.Gallen.