Das Petrusamt – herausgefordert durch Bibel und Geschichte

 

Es sind markante und eindrückliche Auftragsworte, die Simon Petrus von Jesus entgegennehmen darf. Am bekanntesten ist das Verheissungs- und Auftragswort Jesu bei Mt 16,18–19: «Du bist Petrus (der Fels), und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.» Diese letzte Verheissung hat Jesus nach Mt 18,18 auch allen Jüngern gemeinsam verliehen: «Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.» Hier wird zusammen mit der besonderen Verantwortung des Petrus auch die kollegiale Mitverantwortung der ganzen Jüngergemeinschaft hervorgehoben. Bei Lukas vernehmen wir – nach einer ersten Anspielung an die Verleugnung durch Petrus – das Verheissungs- und Auftragswort Jesu: «Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder» (Lk 22,32). Ein weiteres Sendungswort an Petrus finden wir am Schluss des Johannesevangeliums (21,15–17). Nach der dreimaligen Frage «Liebst du mich?», eine deutliche Anspielung an die dreimalige Verleugnung, erteilt Jesus dem Petrus den Auftrag «Weide meine Lämmer – weide meine Schafe». Diese Sendungsworte heben die besondere Aufgabe des Petrus innerhalb des Jüngerkreises deutlich hervor. Es wird aber auch allgemein in den Evangelien vielfältig ersichtlich, dass dem Petrus eine erstrangige Führungsrolle innerhalb des Zwölferkreises übertragen ist.

Führung durch Petrus und gemeinsames Entscheiden

Petrus hat eine besondere Aufgabe und ein besonderes Amt in der Gemeinschaft der Kirche. Aber in den Sendungsworten Jesu an Petrus können wir noch nicht ablesen oder eine Regelung finden, wie dieses Amt ausgeübt werden soll. Wenn wir wissen wollen, wie es konkret auszuüben ist, schauen wir am besten, wie Petrus selber diese Aufgabe gestaltet hat. Dafür ist die Apostelgeschichte die richtige Quelle. Sie beschreibt uns die ungefähr ersten 30 Jahre der Urkirche und auch das Wirken des Petrus in diesen ersten Jahrzehnten. In der Urgemeinde in Jerusalem hatte Petrus in allen wichtigen Belangen deutlich die Führung. Das zeigt sich schon vor Pfingsten bei der Wahl des Apostels Matthias als Ersatz für Judas (Apg 1,15–26). Die Initiative kam eindeutig von Petrus. Er machte den Vorschlag, dass für Judas ein Ersatz gefunden werden müsse. Daraufhin stellte die ganze Gemeinschaft zwei Männer auf, Josef genannt Barsabbas und Matthias. Dann beteten sie, gaben ihnen Lose, und das Los fiel auf Matthias. Es fällt auf, dass der Zweiervorschlag, der dann zur Wahl führte, von der ganzen Jüngergemeinschaft vollzogen wurde. Es war also nicht etwa so, dass Petrus gesagt hätte: Kraft meines Amtes ernenne ich Matthias zum Apostel. Die Wahl wurde von der ganzen Jüngergemeinschaft vorgenommen, aber die Initiative ging eindeutig von Petrus aus. Und das zeigt sich auch in der ganzen Apostelgeschichte: Entscheidungen wurden immer gemeinsam und kollegial getroffen, von der ganzen Gemeinschaft der Apostel und oft zusammen mit der ganzen Christengemeinde. Es gibt aber in der Apostelgeschichte und auch im ganzen Neuen Testament kein einziges Beispiel, bei dem Petrus allein eine Entscheidung für die Urkirche getroffen hat. Die Führung lag aber eindeutig bei Petrus. Das zeigt sich immer wieder, und es zeigt sich besonders deutlich an Pfingsten. Petrus trat zusammen mit den anderen Aposteln vor die Volksmenge, verkündete kraftvoll die Auferstehung des gekreuzigten Messias Jesus und öffnete so das Tor für eine grosse Zahl von Bekehrungen unter dem versammelten Volk (Apg 2,14–42).

Anerkennung der Samarien-Mission

Diese Anerkennung war auch eine wichtige Entscheidung für die Urkirche (Apg 8,4–25). Philippus hatte auf seiner Flucht in Samarien zu predigen und zu missionieren begonnen, er hatte aber dafür weder Auftrag noch Ermächtigung, denn die Samariter galten als halbe Heiden. Als durch dieses Wirken des Philippus in Samarien eine grosse Jüngergemeinde entstand, sahen sich die Apostel vor die Frage gestellt, ob diese Missionierung und diese neue Gemeinschaft als rechtmässig und echt anerkannt werden könne. «Als die Apostel in Jerusalem hörten, dass Samarien das Wort Gottes angenommen hatte, schickten sie Petrus und Johannes dorthin» (Apg 8, 14). Diese erkannten die Echtheit der Bekehrungen und gaben durch Handauflegung ihre Anerkennung, die dann die Gabe des Heiligen Geistes zur Folge hatte. Es ist hier bemerkenswert, dass das ganze Apostelkollegium sich für eine solche Anerkennung zuständig fühlte und dass Petrus hier gemeinsam mit Johannes als Abgesandter und Delegierter der Apostel in Erscheinung tritt. Petrus hat zusammen mit Johannes die Anerkennung vorgenommen, aber die Zuständigkeit für diese Entscheidung lag bei der ganzen Apostelgemeinschaft.

Das Apostelkonzil in Jerusalem

Die wichtigste Entscheidung der Urkirche war die Zustimmung des sog. Apostelkonzils, dass die Heiden ohne Beschneidung und Übernahme des ganzen mosaischen Gesetzes Christen werden durften (Apg 15). Der Streit darüber entbrannte zuerst in der grossen neuen Christengemeinde in Antiochien. Daraufhin ernannte diese Gemeinde Abgesandte mit dem Auftrag, sie «sollten wegen dieser Streitfrage zu den Aposteln und den Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen» (Apg 15,2). Die Frage sollte also den Aposteln und den Ältesten vorgelegt werden, und es heisst nicht etwa, diese Streitfrage soll dem Petrus vorgelegt werden. Am Apostelkonzil hatte wieder Petrus die Initiative und die Führung. Er gab zuerst sein Zeugnis über seine grundlegende Erfahrung bei der Missionierung des heidnischen Hauses des Cornelius (Apg 10) und betonte, Gott selber habe in dieser Frage schon die Entscheidung getroffen, als er diesen Heiden genau wie den Aposteln an Pfingsten den Heiligen Geist verliehen habe, und zwar schon, bevor sie getauft waren. Danach berichteten Paulus und Barnabas, was Gott durch ihre Missionstätigkeit Grosses unter den Heiden gewirkt hatte. Daraufhin legte Jakobus den bahnbrechenden Antrag vor: Den Heiden sollten nicht die Beschneidung und das ganze mosaische Gesetz auferlegt werden; sie sollten nur ein paar wichtige Bestimmungen einhalten. Dieser Antrag wurde von der ganzen Versammlung gutgeheissen und das Ergebnis in einem Schreiben an die Gemeinde in Antiochien festgehalten: «Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge: Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes und Unzucht zu meiden. Wenn ihr euch davor hütet, handelt ihr richtig. Lebt wohl!» (Apg 15,28 f.). Auch dieses wichtige Apostelkonzil zeigt die gleiche Anordnung und den gleichen Ablauf: Petrus hat die Führung und ergreift die Initiative, aber die Entscheidung wird von den Aposteln, den Ältesten und der ganzen Gemeinde getroffen.

Ein wegweisendes Modell für die Ökumene

Die Apostelgeschichte legt uns ein Modell für die Gestaltung des Petrusamtes vor, das für die Ökumene bahnbrechend sein könnte: Führung und Initiative liegen bei Petrus – Entscheidungen werden kollegial und gemeinschaftlich getroffen. Natürlich heisst das nicht, dass Petrus nicht auch allein entscheiden könnte, wenn das nötig ist; aber wenn möglich wird gemeinschaftliches Entscheiden gesucht. Gewiss ist das nicht schon die rechtliche Ausgestaltung einer Leitungsstruktur, aber es ist ein biblisches und geschichtliches Modell, das wegweisend sein kann. Einem Petrusamt, das nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte gestaltet ist, können alle christlichen Kirchen ihre Zustimmung geben. Es wäre wohl wichtig und hilfreich, wenn die ökumenischen Bemühungen sich wieder stärker am Ursprung orientieren würden. Und für das Petrusamt müsste das heissen: das Petrusamt im Dienst an der Einheit aller christlichen Kirchen so zu gestalten, wie Petrus selber zusammen mit der ganzen Apostelgemeinschaft in der Urkirche gewirkt hat. Die weiteren geschichtlichen Entwicklungen können hier nur andeutungsweise skizziert werden. In den ersten Jahrhunderten hat nicht etwa der Bischof von Rom allein Entscheidungen für die ganze Kirche getroffen. Gesamtkirchliche Entscheidungen wurden immer im Zusammenwirken der Hauptkirchen (Patriarchate) vorgenommen. Das Konzil von Nizäa (325) nennt als Hauptkirchen Rom, Alexandrien und Antiochien. In der Folgezeit konnte Konstantinopel als östliche Hauptstadt des Römerreiches auch kirchlich grössere Bedeutung gewinnen, und das Konzil von Chalzedon (451) nennt dann die Hauptkirchen in folgender Reihenfolge: Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem. Ab dem 5. Jahrhundert hat sich dann die kirchliche Beziehung zwischen Ost und West faktisch zur Beziehung zwischen Rom und Konstantinopel entwickelt. Die konkrete Gestaltung und Verabschiedung gesamtkirchlicher Entscheidungen wurde meist durch die gesamtkirchlichen Konzilien vollzogen, auf denen die Vertretungen aller wichtigen Kirchen mitwirkten. Im ersten christlichen Jahrtausend gab es acht solche gesamtkirchliche Konzilien. Rom war im 1. Jahrtausend unbestritten die erste und wichtigste Hauptkirche. Aber gesamtkirchliche Entscheidungen wurden immer im Zusammenwirken aller Hauptkirchen getroffen. Und im ganzen 1. Jahrtausend hat nie ein römischer Bischof allein eine Entscheidung für die ganze Kirche gefällt.

Nach dem Schisma von Ost und West

Mit der grossen Kirchenspaltung zwischen Ost und West durch das Zerbrechen der kirchlichen Gemeinschaft zwischen Rom und Konstantinopel im Jahr 1054 wurde die kirchliche Landschaft völlig verändert. In der westlichen (Teil-)Kirche blieb Rom allein als Hauptkirche und als Patriarchat zurück, was fast zwangsläufig zu einem immer stärker werdenden Zentralismus in der westlichen Kirche führte.

«Der enge Anschluss an die Formen und Gebräuche der Ortskirche von Rom wird nun zum Mittel der (westlichen, karolingischen) Reichseinheit; kirchlich gesehen bedeutet er die (freilich nur langsam sich durchsetzende) Einbeziehung des gesamten Abendlandes in die stadtrömische Liturgie und damit die beginnende Einbeziehung der einzelnen Ortskirchen in die Ortskirche von Rom, sodass es zusehends keinen Plural von ecclesiae mehr gibt, sondern die Stadtgemeinde von Rom den ganzen lateinischen orbis in den kleinen Raum ihrer urbs einverleibt: Der ganze Westen ist gleichsam nur noch eine einzige Ortsgemeinde und beginnt immer mehr die alte Struktur der Einheit in Vielfalt zu verlieren, sodass sie schliesslich ganz unverständlich wird» (Joseph Ratzinger: Das neue Volk Gottes. Düsseldorf 1969, 136). Das Erste Vatikanische Konzil (1869/70) hat diese extrem zentralistische Gestalt der Kirche und des Papstamtes festgeschrieben und gleichsam zementiert. Dieses Konzil hat den Ausgangspunkt und die Basis nur bei der zentralistisch geprägten (West-)Kirche des Mittelalters angesetzt und hat das 1. Jahrtausend mit der Gesamtkirche in Einheit und Vielfalt und mit dem kollegialen Miteinander völlig ausgeblendet. Dadurch musste dieses Erste Vatikanische Konzil fast notwendig in Schieflage geraten. Die römisch-katholische Kirche und leider auch das Zweite Vatikanische Konzil sind der Aufarbeitung dieses einseitigen und extrem zentralistischen Konzils immer ausgewichen und haben sich auf «Umgebungsarbeiten» und ergänzende Massnahmen beschränkt. Für die römisch-katholische Kirche ist die Aufarbeitung dieses Ersten Vatikanischen Konzils eine zentrale und sehr vordringliche Herausforderung. Nur wenn diese Aufarbeitung endlich gewagt und an die Hand genommen wird, haben echte und substanzielle Schritte hin auf eine ökumenische Einigung und auf eine geeinte Kirche in Vielfalt und in kollegialem Miteinander eine Chance.

 

Sigisbert Regli

Sigisbert Regli

P. Dr. theol. Sigisbert Regli, Kapuziner, war Präsidiumsmitglied der Synode 72 des Bistums Basel und Mitglied der gesamtschweizerischen Synodenversammlungen