Papst Franziskus hat einen Traum: Die Revolution der zärtlichen Liebe

Ein Kommentar zum Apostolischen Schreiben «Evangelii gaudium»

Papst Franziskus hat einen Traum1: Er versteht die Inkarnation des Sohnes Gottes als Einladung zur «Revolution der zärtlichen Liebe» (88: «revolución de la ternura») und sendet als Bischof von Rom und Nachfolger Petri an alle Glieder des Gottesvolkes ein sehr persönlich gehaltenes Schreiben («ich träume …», «ich möchte …», «ich lade ein …», «ich rufe auf …», «ich bitte …» usw.), um uns davon zu erzählen und zu begeistern, «an das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe» (288) zu glauben, und diese frohe Nachricht in die Welt hinauszutragen, eine neue Etappe der Evangelisierung und des Laufs der Kirche durch die Geschichte zu eröffnen, die von der Freude des Evangeliums geprägt ist und die «von einer rein bewahrenden Pastoral zu einer entschieden missionarischen Pastoral» (17) übergeht, wie er mit dem Dokument der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik im brasilianischen Aparecida (2007) betont.

Franziskus möchte, dass wir als Kirche ein wenig mehr wagen, «die Initiative zu ergreifen (…), auf die anderen zuzugehen, die Fernen zu suchen und zu den Wegkreuzungen zu gelangen, um die Ausgeschlossenen einzuladen», denn die Kirche empfindet «einen unerschöpflichen Wunsch, Barmherzigkeit anzubieten – eine Frucht der eigenen Erfahrung der unendlichen Barmherzigkeit des himmlischen Vaters und ihrer Tragweite» (24).

Die Einladung kommt nicht in der Form eines lehrhaften Rundschreibens (Enzyklika), sondern als ein Apostolisches Schreiben (Exhortatio), das einerseits die Ergebnisse der letzten Bischofssynode über «Die Neuevangelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens» (Oktober 2012) rezipiert und andererseits eine Art «Programm» seines Pontifikats darstellt. Der Stil steht eher in der Tradition des «pastoralen Lehramtes», das Johannes XXIII. und das Konzil initiierten. Er ist einladend, «parenätisch», reich an Metaphern und Sprachbildern, die im spanischen Original erfrischender als in der deutschen Übersetzung wirken. Der Text ist unterlegt mit vielen biblischen Zitaten, aber auch mit Verweisen auf das Konzil (hier hat wohl der päpstliche Hoftheologe die Chance verpasst, die vielen «impliziten» Konzilsanspielungen, etwa auf LG 8, GS 22 oder AG 2 zu dokumentieren), auf das Lehramt der letzten Päpste (zitiert werden nicht nur die zwei unmittelbaren Vorgänger, sondern auch Johannes XXIII. und vor allem Paul VI., der manchmal vergessene, «grosse» Papst, der das Konzil glücklich zu Ende brachte, in der ersten Phase der Konzilsrezeption das Schifflein Petri durch die Stürme der Zeit lenkte, und uns mit «Evangelii nuntiandi» [1975] das wichtigste missionarische Schreiben des nachkonziliaren Lehramts schenkte), auf das Lehramt regionaler Bischofskonferenzen und -versammlungen (aus Lateinamerika und der Karibik, Brasilien, USA, Frankreich, Indien, Philippinen, Kongo), auf einige Kirchenväter und -lehrer (Irenäus, Ambrosius, Chrysostomus, Augustinus, Isaak von Stella, und vor allem auf einen erfrischenden Thomas von Aquin, der zum Kronzeugen der «Hierarchie der Wahrheiten» gemacht wird), und schliesslich auf einige Autoren, die zu den persönlichen Begleitern des Papstes gehören dürften (Johannes vom Kreuz, Georges Bernanos, Thomas von Kempen, John Henry Newman, Henri de Lubac, Peter Faber, Romano Guardini und der hierzulande kaum bekannte 1993 verstorbene spanisch-argentinische Jesuit Ismael Quiles, der einer der grossen Vermittler zwischen Buddhismus und Christentum war).

Die Einladung

Franziskus weiss, dass in Zeiten wie diesen das Kerygma (160–168), d. h. der Kern der christlichen Botschaft, so klar und einladend wie möglich dargestellt werden soll und ein neuer Stil der Evangelisierung nötig ist. Er will diesen umreissen und alle einladen, ihn «in allem, was getan wird», zu übernehmen (18). Der Cantus firmus ist die Rede von der Freude des Vaters, «der nicht will, das auch nur einer seiner Kleinen verloren geht», und seinen Sohn als «guten Hirten» in die Welt sendet (237). Die Initiative geht also von Gott aus, der «uns zuerst geliebt» hat (1 Joh 4,19: 12).

In der persönlichen «Begegnung» mit der göttlichen Liebe in Jesus Christus liegt «die Quelle der Evangelisierung» (8). Franziskus verweist hier auf ein berühmtes Wort Benedikts XVI. in seiner Enzyklika «Deus caritas est» (1), wonach am Anfang des Christseins nicht ein ethischer Entschluss stehe oder eine grosse Idee, «sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit eine entscheidende Richtung gibt» (7). Dies kann heute im Zeitalter der Rede von der so genannten abrahamitischen Ökumene nicht oft genug betont werden: Das Christentum ist keine «Schriftreligion wie der Islam», sondern eine Religion der Begegnung mit der göttlichen Liebe in Jesus Christus, in dem die «Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes» (Röm 11,33: 11) enthalten sind. Mit einem Wort des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz lädt uns Franziskus zur immerwährenden Entdeckung dieser christologischen Schätze ein: «Dieses Dickicht von Gottes Weisheit und Wissen ist so tief und unendlich, dass ein Mensch, auch wenn er noch so viel davon weiss, immer tiefer eindringen kann» (11). Aber Franziskus zitiert nicht die kritische Pointe des Mystikers: «dass für die heiligen Gelehrten und heiligen Menschen das Allermeiste noch zu sagen und zu verstehen aussteht, wie viele Geheimnisse und Wunder sie auch aufgedeckt oder in diesem Leben verstanden haben»;2 und «dass Christus von denen, die sich für seine Freunde halten, sehr wenig gekannt wird»3 – womit Johannes vom Kreuz nicht zuletzt an die prunkliebenden, herrischen und in geistlichen Dingen wenig erfahrenen Prälaten, Pfarrer und Beichtväter sowie an die engherzigen, inquisitorischen Theologen seiner Zeit dachte.

Es geht Franziskus vor allem darum, die Evangelisierung nicht primär mit so genannten Missionsbefehlen zu begründen, sondern mit der Erfahrung der Liebe: Wer in der Begegnung mit Jesus die zärtliche Liebe Gottes erfahren hat, wird nicht umhinkönnen, an der Verwandlung der Welt im Zeichen dieser Liebe mitzuarbeiten. Ein solches Evangelisierungs- oder Missionsverständnis konvergiert z. B. mit der mystischen Erfahrung der Teresa von Avila (sie wird erstaunlicherweise in «Evangelii gaudium» nicht zitiert!): Nachdem sie, wie sie sagte, die Liebe Jesu «bis ins Knochenmark» gespürt hatte, packte sie eine «riesengrosse Sehnsucht, sich ganz für Gott einzusetzen»4 und viele andere Menschen auf den Weg zu Gott zu bringen. Sie möchte sich «am liebsten mitten in die Welt hineinstürzen»,5 um sich an der apostolischen Sendung der Kirche aktiv zu beteiligen und zu erzählen, wie gütig und barmherzig der Herr ist. Sie bedauerte sehr, dass sie und ihre Schwestern «weder lehren noch predigen» durften.6 Ob wir heute wirklich verstanden haben, dass die Frauen an der Sendung der Kirche nicht weniger als die Männer teilhaben? Franziskus lädt alle Christgläubigen ein, sich an der «Freude des Evangeliums » und der «Revolution der zärtlichen Liebe» zu beteiligen und ist gewillt, die Rolle der Frauen darin zu verstärken. Er betont, dass «die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden» müssen (103).

Aber er hält auch fest – vermutlich, um gleich am Anfang seines Pontifikats klar festzuhalten, was nicht zu seinem Kirchentraum gehören kann –, dass das Priestertum «als Zeichen Christi» den Männern vorbehalten ist und eine Zulassung der Frauen dazu «nicht zur Diskussion steht» (104). Gewiss, viele werden sich mit einer solchen apodiktischen Aussage, die – entgegen unserem kulturellen Empfinden – Diskussionsthemen tabuisiert, schwertun; aber sie könnten an Teresa von Avila denken und nicht verzagen, zumal Franziskus ein beim Papsttum bisher kaum vorhandenes «Problembewusstsein» erkennen lässt.

Kirchenreform im Zeichen einer Hermeneutik der Evangelisierung

So schliesst sein Traum auch eine Kirchenreform ein, die im Zeichen einer «Hermeneutik der Evangelisierung » steht. Eine solche Hermeneutik ist auch die des Zweiten Vatikanischen Konzils,7 denn das «Aggiornamento» hatte zum Ziel die bessere Verkündung des Evangeliums in der Welt von heute: «Das Zweite Vatikanische Konzil hat die kirchliche Neuausrichtung dargestellt als die Öffnung für eine ständige Reform ihrer selbst aus Treue zu Jesus Christus», schreibt Franziskus mit Verweis auf das konziliare Prinzip der «dauernden Reform», das in «Unitatis Redintegratio» Nr. 6 genannt wird. Entsprechend seiner kurzen «Brandrede» im Vorkonklave wünscht sich Franziskus keine Kirche, die mit sich selbst beschäftigt ist, sondern eine, die wirklich verstanden hat, was das Konzil sagte: dass sie «Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit» (LG 1) ist, dass sie sich als «der Menschheitsfamilie (…) eingefügt » (GS 3) versteht, und dass sie daher «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art» als «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi» betrachtet; dass sie dabei «das Werk Christi selbst» (GS 1) weiterführen möchte, «der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen» (GS 3). Franziskus ist «eine ‹verbeulte› Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist». Er hofft, «dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschliessen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draussen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: ‹Gebt ihr ihnen zu essen!› (Mk 6,37)» (49). Franziskus träumt von einer kirchlichen Erneuerung, «die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtungerforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‹Aufbruchs› versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet» (27).

Franziskus spricht von der Notwendigkeit «in einer heilsamen Dezentralisierung voranzuschreiten » (16), die den Bischofskonferenzen und den Ortskirchen mehr Autonomie ermöglicht. Manches erinnert dabei an Karl Rahners Rede von den «Teilkirchen», die in «Lehre, Leben und Kult» eigene Wege gehen könnten, solange die grundlegende Kommunion mit Rom gewährleistet ist.8 Ein Modell dazu wären die orientalisch-katholischen Kirchen. Ebenso heilsam sind die Kritik des «übertriebenen Klerikalismus» (102), der die Laien – «die riesige Mehrheit des Gottesvolkes» (102) – nicht in die Entscheidungen einbezieht (ob dies auch für die Bischofswahl gilt?), und der Wunsch nach Hirten mit «Geruch der Schafe» (24).

Und er spricht auch von einer «Neuausrichtung des Papsttums» (32) im Sinne von mehr Kollegialität und einer Form der Primatsausübung, die der Ökumene dienlich ist. Franziskus erkennt an, dass man seit der Enzyklika «Ut unum sint» (1995) in dieser Sache wenig vorangekommen sei. Und er hält fest: «Auch das Papsttum und die zentralen Strukturen der Universalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Neuausrichtung zu folgen» (32). Man sieht: Die «pastorale oder missionarische Neuausrichtung » (25, 27, 30, 32) ist das Wesentliche, und davon hängt alles andere ab. Nun, mit dem Wort «Neuausrichtung» geht in der deutschen Übersetzung einiges aus der Semantik des spanischen Originals verloren. Denn Franziskus spricht von «avanzar en el camino de una conversión pastoral y misionera, que no puede dejar las cosas como están» (25), also von einer inneren Einsicht in die Notwendigkeit einer «Umkehr» oder «metanoia» im biblischen Sinne, weil die Dinge nicht so bleiben können, wie sie sind. Franziskus möchte die Kirche «wachrütteln » und sie «in allen Regionen der Erde in einen ‹Zustand permanenter Mission›» (25) versetzen. Und das bedeutet auch die Bereitschaft, von jenen kirchlichen Strukturen Abschied zu nehmen, «die eine Dynamik der Evangelisierung beeinträchtigen können » (26). Das ist eine Hermeneutik der Evangelisierung als Grundlage der Kirchenreform.

Wie dies zu verstehen sei, hatte Franziskus in seiner Homilie während der hl. Messe in Santa Marta vom 6. Juli 2013 angedeutet. Er liess erkennen, dass er seinen Dienst «petrinisch und paulinisch» versteht, dass er also petrinische Einheitsverantwortung mit paulinischer Kühnheit verbinden möchte. Während das Papsttum der letzten Jahrzehnte eher von der petrinischen Einheitsverantwortung und der Sorge um die Wahrung der Kontinuität in den Grundsätzen geprägt war, wäre es an der Zeit mehr paulinischer Kühnheit angesichts der Zeichen der Zeit walten zu lassen, bevor es zu spät ist.

Papst Franziskus erinnerte an Jesus Wort von den neuen Schläuchen, die man für den neuen Wein benötige (Mt 9,17), bevor er an das Jerusalemer Konzil (Apg 15,1–35) anspielte: «Im christlichen Leben, wie auch im Leben der Kirche, gibt es einfallende Strukturen. Es ist erforderlich, dass sie erneuert werden. Die Kirche hat stets auf den Dialog mit den Kulturen Rücksicht genommen und versuche, sich zu erneuern, um den unterschiedlichen Anforderungen zu genügen, die durch Ort, Zeit und Menschen an sie gestellt werden. Das sei eine Arbeit, die die Kirche immer gemacht hat, vom ersten Augenblick an. Erinnern wir uns an die erste theologische Auseinandersetzung: Muss man, um Christ zu werden, alle religiösen jüdischen Gebote befolgen oder nicht? Nein, sie haben Nein gesagt.» Bereits in den Anfängen habe die Kirche gelehrt, «keine Angst vor der Neuheit des Evangeliums zu haben, keine Angst vor der Erneuerung zu haben, die der Heilige Geist in uns bewirkt, keine Angst vor der Erneuerung der Strukturen zu haben. Die Kirche ist frei. Der Heilige Geist treibt sie an.»9

Messianisch-prophetisches Christentum

Im zweiten und vierten Teil von «Evangelii gaudium » präsentiert uns Franziskus seine Sicht eines «messianisch-prophetischen Christentums». Einst brachten die spanischen Missionare ein solches Christentum in die Neue Welt, wenn auch in zerbrechlichen Gefässen. So z. B. als im Advent des Jahres 1511 angesichts der Ausbeutung der Indianer der Dominikaner Antón Montesino an seine christlichen Landsleute in Santo Domingo die entscheidenden Fragen richtete: «Sind sie etwa keine Menschen? (…) Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben? (…) Wie könnt ihr in einen so tiefen, so bleiernen Schlaf versunken sein?»10

Heute bringt der Papst «vom Ende der Welt» ein solches Christentum nach Rom. Sein vielfältiges Nein (Nein zu einer Wirtschaft der Ausschliessung: 53–54; Nein zur neuen Vergötterung des Geldes: 55–56; Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen: 57–58; Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt: 59–60) steht in der Tradition der katholischen Soziallehre der letzten Päpste – einschliesslich des Wortes des Johannes Chrysostomus, mit dem Franziskus die Finanzexperten und die Regierenden der verschiedenen Länder wachzurütteln versucht: «Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen, bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen» (58). Zum messianischprophetischen Christentum gehört auch ein anderes Nein, das an die Boten des Evangeliums gerichtet ist: Nein zur egoistischen Trägheit (81–83), zum sterilen Pessimismus der «Unglückspropheten» (84–86), zur spirituellen Weltlichkeit oder Spiritualität des Wohlbefindens (93–97), zum Krieg unter uns (98–101).

 

Besonders am Herzen liegt Franziskus sein Nein zu einer Gesellschaft und einer Kirche, die sich um die Armen und Ausgeschlossenen nicht vorrangig kümmern. Was Franziskus hier sagt, ist der spirituelle Kern der «Theologie der Befreiung». Aber er zitiert als Beleg nicht diesen oder jenen Autor, sondern die Instruktion der Glaubenskongregation «Libertatis Nuntius» (1984) sowie die Enzyklika «Sollicitudo rei socialis» (1987) und das Dokument von Aparecida (2007), d. h. er möchte betonen, dass die vorrangige Option für die Armen und Ausgeschlossenen eine «christologische» ist, die als solche zum Kern des messianisch-prophetischen Christentums immer schon gehörte. Während die Lineamenta, das kuriale Vorbereitungspapier der eingangs erwähnten Bischofssynode, viele biblische Zitate und «Missionsbefehle » über die Evangelisierungsaufgabe enthielten, aber die Rede Jesu in der Synagoge von Nazareth (Lk 4,16–21), in der er uns selbst sagt, wofür er vom Geist des Herrn gesalbt und gesandt wurde, oder Mt 25 überhaupt nicht erwähnten, begründen gerade diese Stellen für Franziskus die Spiritualität der vorrangigen Option für die Armen und Ausgeschlossenen. Das Besondere liegt nicht in der Betonung einer solchen Option, sondern in der Art und Weise, wie Franziskus das tut: Er spricht von der Notwendigkeit einer Kultur der Nächstenliebe, der «compasión» (beim deutschen Wort «Mitgefühl» geht wieder etwas verloren), der Brüderlichkeit und Solidarität, vor allem aber der «aufmerksamen Zuwendung » und der «Freundschaft» mit den Armen, die «hochgeschätzt» werden sollten: «Das unterscheidet die authentische Option für die Armen von jeder Ideologie, von jeglicher Absicht, die Armen zugunsten persönlicher oder politischer Interessen zu gebrauchen» (199) – und das unterscheidet sie vom «Sozialhilfesystem» (204). Innovativ ist auch – und hier steht der Papst in der Tradition jener in Argentinien entstandenen Variante der Theologie der Befreiung, die ein Hören auf die Weisheit des Volkes postuliert –, dass er sich «eine arme Kirche für die Armen» wünscht, weil diese uns «vieles zu lehren» haben: «Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen ausserdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen» (198).

Abschliessende Überlegungen

Das lange, zu lange Schreiben enthält vieles, was in der Kürze dieses Kommentars ausgeblendet werden muss: eine kleine «Predigtlehre», in der Franziskus aus seiner eigenen Erfahrung schöpft; Ausführungen über die «Kunst der (geistlichen) Begleitung», die an die mystische Weisheit des Johannes vom Kreuz (Gott ist der erste Mystagoge, wir sollten sein Handeln klug und diskret begleiten, ihm nicht im Wege stehen und gelassen die Zeit der Ernte abwarten: «Die Zeit ist der Bote Gottes», schreibt Franziskus mit dem seligen Petrus Faber) erinnern; das Plädoyer für eine barmherzige Kirche, die eher zur Begegnung mit Jesus Christus «einlädt» als moralisch massregelt; eine grundsätzliche Kritik der freien Marktwirtschaft (204), die manchen undifferenziert vorkommen mag; einige Bemerkungen zum Dialog mit Staat und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaften, den anderen Kirchen und den anderen Religionen (vornehmlich Judentum und Islam) – und dies oft in einem rhetorischen Stil und in einer Ausführlichkeit gehalten, wie es für Texte der lateinamerikanischen Bischöfe üblich geworden, hierzulande jedoch eher gewöhnungsbedürftig ist. Franziskus ist aber davon überzeugt (18, 185), dass diese Ausführlichkeit der Bedeutung der Themen angemessen ist.

Hatte Johannes Paul II. 1983 gegenüber den Bischöfen Lateinamerikas und der Karibik eine «Re-Evangelisierung» angemahnt, die «neu in ihrem Eifer, in ihren Methoden, in ihren Ausdrucksformen » ist,11 so möchte Franziskus heute zu einer Etappe der Evangelisierung ermutigen, «die mehr Eifer, Freude, Grosszügigkeit, Kühnheit aufweist» (261). Von der «paulinischen Kühnheit» wird dabei einiges abhängen.

Als Franziskus, der Poverello von Assisi, sich 1209 mit «zwölf» seiner Brüder nach Rom aufmachte, um von Papst Innozenz III. die Bestätigung ihrer Lebensweise zu erbitten, hatte der machtbewusste Papst, der als erster den Titel eines «Stellvertreters Christi» für sich exklusiv beanspruchte, bekanntlich einen Traum: Die Kirche zerfällt, aber der Poverello werde sie stützen und aufrichten. Wir alle kennen das Fresko Giottos. Nun hat ein anderer Franziskus «als Papst» einen Traum: Er träumt von einer missionarisch- pastoralen Erneuerung («conversión»), «die fähig ist, alles zu verwandeln». Angesichts der Struktur der katholischen Kirche wird bei dieser Erneuerung vieles davon abhängen, inwieweit der Papst selbst sein Wirken als «Tutiorismus des Wandels » (Karl Rahner) versteht und nicht nur «petrinische Einheitsverantwortung», sondern auch «paulinische Kühnheit» zeigt, um die nötigen und nicht aufschiebbaren Reformen zu inaugurieren – auch wenn die heutigen Pharisäer im Namen der Tradition die Innovationen ablehnen (vgl. Apg 15,5).12

 

 

1 Der deutsche Text wird (mit Verweis auf die jeweilige Nummer in Klammern) nach der amtlichen Übersetzung in www.vatican.va zitiert. Hin und wieder wird auch auf den spanischen Originaltext aus derselben Quelle verwiesen.

2 Vgl. Johannes vom Kreuz: Gesammelte Werke, 5 B de. Vollständige Neuübertragung, hrsg. und übersetzt von Ulrich Dobhan / Elisabeth Hense / Elisabeth Peeters. Freiburg 1995–2000, hier Bd. 3 ( Der Geistliche Gesang), 226 (CA 36,3).

3 Ebd., Bd. 4 (Aufstieg auf den Berg Karmel), 157 (2 S 7,12).

4 Teresa von Avila: Gesammelte Werke, 9 B de. Vollständige Neuübertragung, hrsg. und übersetzt von Ulrich Dobhan / Elisabeth Peeters. Freiburg 2001– 2013, hier Bd. 4 ( Wohnungen der Inneren Burg), 259 (6 M 4,15).

5 Ebd., 270 (6 M 6 ,3).

6 Ebd., 369 (7 M 4,14).

7 Vgl. Mariano Delgado / Michael Sievernich (Hrsg.): Die grossen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihre Bedeutung für heute, Freiburg i. Br. 2013, 29–32.

8 Vgl. Karl Rahner: Der Traum von der Kirche, in: Ders.: Schriften zur Theologie 14 (1977), 355–367.

9 Vgl. die deutsche Übersetzung von Auszügen aus der Predigt in L’Osservatore Romano vom 7. Juli 2013: www.osservatoreromano.va/dt.

10 Bartolomé de Las Casas: Werkauswahl, Bd. 2: Historische und ethnographische Schriften. Hrsg. von Mariano Delgado. Paderborn 1995, 226.

11 Johannes Paul II.: Ansprache an die XIX. Versammlung der CELAM (Port au Prince, 9. März 1983), Nr. 3: AA S 75 I (1983), 778.

12 Vgl. Mariano Delgado: Un papado petrino y p aulino, in: Vida Nueva vom 23.–30. März 2013 (Nr. 2841), 30.

Mariano Delgado

Mariano Delgado

Prof. Dr. Dr. Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Fribourg und leitet das Institut für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog.