Ochs und Esel

Das Neue Testament erwähnt sie nicht eigens. Möglicherweise erschien den Evangelisten Lukas und Matthäus eine Notiz über die Anwesenheit dieser beiden am Geburtsort Jesu viel zu selbstverständlich, vielleicht hat man sie einfach übersehen. Immerhin: Ein Weihnachtsrelief aus dem in der Nähe von Rom gelegenen Dorf Boville Ernica, das Kunsthistoriker auf das Jahr 350 nach Christi Geburt datieren und somit zu den ältesten Krippendarstellungen der Welt zählen, liefert den Beweis: Ochs und Esel stehen im Stall von Bethlehem. Sie schauen in die Krippe Jesu hinein. Umgekehrt bedeutet dies, dass einer der ersten Blicke des Herrn weder auf Hirten aus Bethlehem noch auf Sterndeuter aus dem Osten gefallen sein mag, sondern auf einen Ochsen und einen Esel. Auch das hat etwas Tröstliches.

Eine frühchristliche Legende über die Umstände der Geburt Jesu, die man zu späterer Zeit (wohl im 8. oder im 9. Jahrhundert) fälschlicherweise dem Evangelisten Matthäus zuschrieb und als Teil seines (vermeintlich ursprünglich aramäischen) Evangeliums lesen wollte, legt die entscheidende Spur: Jesus sei in einer Höhle geboren; erst «am dritten Tage nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus» habe Maria ihren Sohn in eine Krippe gelegt, wo «Ochs und Esel ihn anbeteten» (Pseudo-Matthäusevangelium, Kap. 14).

Die uralte Tradition hat einen biblischen Hintergrund. Im alttestamentlichen Buch des Propheten Jesaja, auf das sich das apokryphe «Matthäusevangelium » ausdrücklich bezieht, heisst es: «Der Ochs kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn» (Jes 1,3). Ein geradezu banaler Hinweis, wäre da nicht diese Spitze im folgenden Vers: Der Ochs kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn – das Gottesvolk aber, fährt der Prophet fort, erkennt nichts, es kommt nicht zur Einsicht.

Man darf von «Prophetischer Fundamentalkritik » sprechen. Gerade der Tiervergleich macht sie scharf. Die Pointe liegt auf der Hand. Die anscheinend Frommen sind nicht immer die von Herzen Glaubenden. Und die angeblich Klugen verstehen vom Entscheidenden oftmals gar nichts. Jesus selbst bringt das einmal zur Sprache, indem er – vielleicht nicht ohne Augenzwinkern – mit Verve ausruft: «Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil Du dies den Weisen und Klugen verborgen, den Unerleuchteten aber offenbart hast!» (Lk 10,21).

Der Jubel des erwachsenen Jesus wirft Licht auf das Besondere der apokryphen Legende über seine Geburt. Ochs und Esel finden darin nicht Erwähnung, um trennende Gegensätze zu markieren oder gar Anklage zu erheben, sondern um zu zeigen, wie schwer es eigentlich ist, in der tiefsten Tiefe und höchsten Höhe zu ermessen, was sich mit der Geburt des Kindes von Bethlehem wirklich ereignet hat – und wie leicht für einen einfachen Ochsen und einen alltäglichen Esel, die wissen, wo sie wirklich zu Hause sind und das finden, was sie zum Leben brauchen (vgl. Jes 1,3).

So blicken Ochs und Esel auf das «Kind, das in der Krippe lag» (Lk 2,16). Es ist ein tiefer Blick, weil er von grosser Ahnung gelenkt wird. Einblick und Ausblick zugleich. Die Hoffnung lässt nicht zugrrunde gehen (Röm 5,5)!

 

 

 

 

Robert Vorholt

Robert Vorholt

Prof. Dr. Robert Vorholt (Jg. 1970) wurde in Münster/Westfalen (D) geboren, studierte in Münster und Paris, ist Priester, seit 2012 ordentlicher Professor für Exegese des Neuen Testaments und seit 2017 Dekan der Theologischen Fakultät an der Universität Luzern.