Bildung braucht Religion

Religionspädagogische Stellungnahme zum Lehrplan 21

1. Bildung braucht Religion

Die Religionspädagoginnen und Religionspädagogen an den Theologischen Fakultäten der Deutschschweiz würdigen das Engagement der Erziehungsdirektorenkonferenz bei der Entwicklung des Lehrplans 21. Er wird ein wichtiges Medium für eine zeitgemässe und zukunftsfähige schulische Bildung sein. Besonders positiv bewerten wir die Tatsache, dass im künftigen Fachbereich «Natur – Mensch – Gesellschaft» mit dem Lernbereich «Ethik – Religionen – Gemeinschaft» der religionsbezogene Unterricht einen obligatorischen Platz im schulischen Fächerkanon erhält. Vor dem Hintergrund der zunehmenden religiösen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler wird dieses Fach einen wichtigen Beitrag zur Identitätsbildung, Orientierung und ganzheitlichen Erziehung der Kinder und Jugendlichen leisten.

2. Didaktik des Perspektivenwechsels

Ein religiös gebildeter Mensch muss die Fähigkeit entwickeln, zwischen der Innensicht und der Aussenansicht auf Religion «switchen» zu können. Dazu wird eine Didaktik des Perspektivenwechsels notwendig, die auf zweierlei Weise möglich ist: zum einen durch das komplementäre Miteinander von kirchlich- konfessionellem und bekenntnisunabhängigem Religionsunterricht, wie es bereits in den Kantonen Luzern, der Innerschweiz und Graubünden praktiziert wird. Dort wird sichtbar, dass das religionskundliche Lernen, wie es künftig auch der Lernbereich «Ethik – Religionen – Gemeinschaft» im Lehrplan 21 vorsieht, ohne Frage seine Stärken hat. Es geht von einer phänomenologischen Perspektive auf das allen Religionen Gemeinsame aus und ermöglicht die analytische Aussensicht von Religion. Ebenso wichtig ist uns aber das Kennenlernen der Innensicht von Religion. Sie soll Schülerinnen und Schülern dazu verhelfen, religiöse Traditionen erfahrungsorientiert und ganzheitlich in ihrem inneren Zusammenhang «lesbar» zu machen. Diese Innensicht wird in 1+1-Modellen durch den kirchlich-konfessionellen Religionsunterricht eröffnet. Zum anderen kann eine Didaktik des Perspektivenwechsels durch interne Komplementarität erreicht werden: In Kantonen wie Zürich oder Bern mit einem religionskundlichen Unterricht für alle (Religion und Kultur/Natur- Mensch-Mitwelt) sind die bestehenden Lehrpläne und Lehrmittel künftig noch stärker auf die erfahrungsorientierte und persönlichkeitsbildende Dimension des Religionsunterrichts zu fokussieren, damit der Unterricht nicht auf einer rein kognitiv-informierenden Ebene verbleibt und damit hinter die aktuellen pädagogischen Standards zurückfällt.

Freilich gab es Zeiten, in denen sich der konfessionelle Religionsunterricht den Vorwurf der religiösen Indoktrination gefallen lassen musste. Durch permanente selbstkritische Reflexion hat jedoch gerade die universitäre Religionspädagogik dazu beigetragen, dass solche Phänomene der Vergangenheit angehören. Da etwa das konfessionsübergreifende und interreligiöse Lernen seit langem selbstverständliche Elemente der konfessionellen Religionsdidaktik sind, bilden sie kein Alleinstellungsmerkmal eines religionskundlichen Unterrichts. Vielmehr bietet das komplementäre religiöse Lernen die besten Chancen, dass Schülerinnen und Schüler den religionsbezogenen Perspektivenwechsel erlernen und einüben können.

 

3. Kantonale Vielfalt und der Beitrag der Kirchen

Derzeit gibt es in einigen Kantonen ein fruchtbares Miteinander von staatlich und kirchlich verantwortetem Religionsunterricht. Mit der Einführung des Lehrplans 21 verbinden wir Religionspädagoginnen und Religionspädagogen der Theologischen Fakultäten die Sorge, dass durch die rein religionskundliche Ausrichtung des Lernbereichs «Ethik – Religionen – Gemeinschaft» der konfessionelle Religionsunterricht ganz aus der Schule verschwindet. Wir sind davon überzeugt, dass in ihrem eigenen Glauben religiös kundige Kinder und Jugendliche einen besseren Beitrag zu religiösen Themen in der Schule leisten und zu einer gelebten religiösen Toleranz in Schule und Gesellschaft beitragen können. Deshalb sprechen wir uns innerhalb des künftigen Lehrplans 21 für den Erhalt des konfessionellen Religionsunterrichts in jenen Kantonen aus, in denen dieses Miteinander bereits praktiziert wird und sich bewährt hat.

4. Mehr ökumenische Kooperation

Um einen echten Perspektivenwechsel zu ermöglichen, braucht die gegenseitige Verständigung konfessionelle Identität. Da auch ein von beiden christlichen Kirchen gemeinsam verantworteter Religionsunterricht noch eine starke Bekenntnisgrundlage hätte, halten wir künftig eine verstärkte ökumenische Kooperation der Kirchen in Fragen des Religionsunterrichts für unabdingbar. Ein ökumenisch kooperativ erteilter Religionsunterricht wird auch in Zukunft eine sinnvolle Ergänzung zum religionskundlichen Unterricht bilden. Wir nehmen positiv zur Kenntnis, dass die Kirchen im Bereich des religionsbezogenen Unterrichts auch künftig bereit sind, ihren Beitrag zur Zivilisierung der Gesellschaft zu leisten. Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte wissen gerade sie um die gefährlichen, aber auch um die positiven Potenziale von Religion. Als Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, die in engem Kontakt mit ihren Kirchen stehen, stellen wir uns auch weiterhin zur Verfügung, wenn es darum geht, religionsbezogenes Wissen zur Humanisierung der Gesellschaft fruchtbar zu machen.

5. Religionsbezogene Kompetenzen

Im Religionsunterricht geht es um die Entwicklung religionsbezogener Kompetenz, die mit folgenden Komponenten verbunden ist:

– Sensibilisierung (für Religion und die existenzielle religiöse Dimension des Lebens);

– Orientierung (in einer Vielfalt religiöser Angebote und in ethischen Handlungsmaximen, die sich religiös begründen);

– Vermittlung (sowohl von religiösem Wissen als auch von religiösen Erfahrungen);

– Wissen und Verstehen (im Sinne von Religionskunde).

Diese Bildungsziele kann ein religionskundlicher Unterricht, dem teilweise nur kleine Zeitgefässe zur Verfügung stehen, nicht erreichen – erst recht dann nicht, wenn er als ausschliesslich informierend und vermeintlich «objektiv» oder «neutral» verstanden wird. Wir plädieren deshalb sowohl für einen schulischen Religionsunterricht, der für den Dialog über individuelle religiöse Fragen und Erfahrungen von Kindern, Jugendlichen und Lehrpersonen offen ist, als auch für das komplementäre Miteinander von ökumenisch-konfessionellem und bekenntnisunabhängigem Religionsunterricht als einem zukunftsfähigen Modell für die Deutschschweiz.

6. Stärkung der Ausbildungsstandards

Die Erreichung der genannten Schülerkompetenzen setzt entsprechende Kompetenzen bei den Lehrpersonen voraus. Deshalb sind die religionsbezogenen Fachdidaktiken an den pädagogischen Hochschulen, welche die künftigen Unterrichtenden im Fachbereich «Ethik – Religionen – Gemeinschaft» ausbilden, institutionell und fachlich zu stärken. Universitäre Bezugswissenschaft kann dabei aber nicht allein die Religionswissenschaft sein. Vielmehr leisten wir Religionspädagoginnen und Religionspädagogen der Theologischen Fakultäten, die ja bereits an der Grundlagenarbeit für den bekenntnisunabhängigen Religionsunterricht beteiligt waren, gerne weiterhin unseren Beitrag zur Weiterentwicklung eines zukunftsfähigen religionsbezogenen Unterrichts im Rahmen des Lehrplans 21.

Prof. Dr. Christian Cebulj, Theologische Hochschule Chur (Kontaktadresse)

Prof. Dr. Monika Jakobs, Universität Luzern

Dr. Andreas Kessler, Universität Bern

Prof. Dr. Salvatore Loiero, Universität Freiburg i. Ü.

Prof. Dr. Isabelle Noth, Universität Bern

Prof. Dr. Thomas Schlag, Universität Zürich


Barmherzigkeit als Grundbegriff der Bibel und Schlüssel christlichen Lebens

Walter Kardinal Kasper: Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens. (Herder Verlag) Freiburg-Basel-Wien 2012, 253 S., geb.

Papst Franziskus machte in seiner ersten sonntäglichen Angelus-Ansprache am 17. März 2013 etwas, was höchst ungewöhnlich ist – Werbung für ein Buch: «In diesen Tagen hatte ich die Gelegenheit, das Buch eines Kardinals – Kardinal Kaspers, eines Theologen, der sehr tüchtig ist, eines guten Theologen – über die Barmherzigkeit zu lesen. Und jenes Buch hat mir sehr gut getan, doch glaubt jetzt nicht, dass ich Werbung für die Bücher meiner Kardinäle mache! Dem ist nicht so! Doch es hat mir so gut, so gut getan … Kardinal Kasper sagte, dass von der Barmherzigkeit zu hören, dass dieses Wort alles ändert. Es ist das Beste, was wir hören können: Es ändert die Welt. Ein wenig Barmherzigkeit macht die Welt weniger kalt und viel gerechter. Wir haben es notwendig, diese Barmherzigkeit Gottes gut zu verstehen, dieses barmherzigen Vaters, der so viel Geduld hat … Wir erinnern uns an den Propheten Jesaja, der sagt: Wären unsere Sünden auch rot wie Scharlach, so würde sie die Liebe Gottes weiss wie Schnee machen. Schön ist das, das mit der Barmherzigkeit!»

Und wirklich, die Lektüre dieses Buches von Kardinal Kasper lohnt sich, weil nach ihm «die in der Bibel so zentrale Barmherzigkeit in der systematischen Theologie weitgehend in Vergessenheit geraten ist oder nur sehr stiefmütterlich behandelt wird. Die christliche Spiritualität und Mystik ist in dieser wie in anderen Fragen der Schultheologie um Längen voraus» (S. 9). Das vorliegende Buch schafft hier nun Abhilfe, sei es mit dem Aufweis dieses Zentralbegriffs im AT und NT , durch systematische theologische Überlegungen, aber auch mit Gedanken zur gesellschaftlichen und kirchlichen Praxis. Die Grenzen des modernen Sozialstaats zeigen auf, dass eine Welt ohne Barmherzigkeit nicht auskommt. Und das Gleiche gilt für die Kirche. Dass Franziskus auf diesen Schlüsselbegriff besonderen Wert legt, ist umso erfreulicher. (ufw)

 

 

Christian Cebulj

Christian Cebulj

Dr. Christian Cebulj ist Rektor der Theologischen Hochschule Chur (THC) und betreut den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Katechetik.