Orthodoxe Praxis

Antworten auf den Beitrag von Adrian Loretan*

Auf der vierten Session des Zweiten Vatikanischen Konzils schlug Patriarchalvikar Elias Zoghby vor, die lateinische Kirche solle sich in der Frage der schuldlos Geschiedenen von der Praxis der Ostkirchen inspirieren lassen. Auf Wunsch von Papst Paul VI. trat anderntags Kardinal Charles Journet als erster Redner auf und widersprach dem melkitisch-katholischen Bischof.

Die von ihm zur Begründung der orientalischen Praxis herangezogenen Bibelstellen Mt 5,32 und 19,9 legte Kardinal Journet als Ermoglichung einer Trennung, nicht aber einer Wiederheirat aus. Im Übrigen sei die Praxis des Ostens auf den Einfluss des Zivilrechts zuruckzufuhren.1 Dass dieser Vorschlag ein halbes Jahrhundert später nun doch noch zur Sprache gebracht werden darf, erinnert mich an das Wort „Eppur si muove.“

1. Ein Eheverständnis im Umbruch

Mit gutem Grund unterscheidet Adrian Loretan in seinem Beitrag das konziliäre vom vorkonziliären Ehe- bzw. Eherechts-Verständnis und hebt das neue vom alten ab. Der Unterschied zwischen den beiden geht wohl auf eine unterschiedliche Einschätzung der menschlichen Sexualität zurück, das heisst auf deren vorkonziliäre Gering- bzw. konziliäre Wertschätzung.

Vor dem Konzil war die menschliche Sexualität ein auf die Fortpflanzung ausgerichteter Trieb, der in der Ehe und nur in der Ehe abgeführt werden durfte. Mit den Worten eines Lehrbuches aus dem Jahre 1950: „Und durch Naturgesetz und durch die Offenbarung hat Gott bestimmt, unter was für Bedingungen nur dieser Trieb betätigt, befriedigt werden dürfe, damit er seinem Zwecke am vollkommensten genüge: in der Ehe, in der Einehe, in der unauflöslichen Einehe, in der sakramentalen Einehe.“2

Vom CIC 1917 war dieses Verständnis im Gefolge von Augustinus geradezu klassisch in die kirchliche Rechtssprache ubersetzt worden: „Matrimonii finis primarius est procreatio atque educatio prolis; secundarius mutuum adiutorium et remedium concupiscentiae.“3

Für das Zweite Vatikanische Konzil ist der eigentliche Vollzug der Ehe nicht mehr „remedium concupiscentiae“, sondern ein kommunikativer Vorgang. Durch ihn wird gemäss „Gaudium et spes“ die eheliche Liebe „in besonderer Weise ausgedrückt und verwirklicht. Jene Akte also, durch die die Eheleute innigst und lauter eins werden, sind von sittlicher Würde; sie bringen, wenn sie human vollzogen werden, jenes gegenseitige Übereignetsein zum Ausdruck und vertiefen es, durch das sich die Gatten gegenseitig in Freude und Dankbarkeit reich machen.“4

2. Der sexualethische Diskurs emanzipiert sich von institutionellen Vorgaben

In den Jahren nach dem Konzil hat die westliche Welt eine tiefgreifende kulturelle Wandlung erlebt,5 welche der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor auf den Begriff „expressive Revolution“6 gebracht hat. Das heisst: Der Stellenwert des Institutionellen wurde kleiner und der Wille zur Authentizität entsprechend grosser.

Für den Wandel hin zu mehr Authentizität und Expressivität stehen Begriffe und Konzepte wie „Selbstbestimmung“, „Selbstverwirklichung“ oder „Persönlichkeitsentwicklung.“ Damit verbunden war ein Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Moralismus und Regelfetischismus.

Auf diese kulturelle Revolution geht zurück, dass bei uns die Beichtpraxis eingebrochen ist, dass wiederverheiratete Geschiedene den Vorwurf, „hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde zu verharren“, wohl mehrheitlich zurückweisen. Mehr noch: dass bei uns auch die Mehrheit der unverheiratet zusammenlebenden Katholiken und Katholikinnen ihr Zusammenleben nicht als ein hartnäckiges Verharren in einer offenkundigen schweren Sünde verstehen kann.

Wohl ist solches Zusammenleben kein Eheleben, aber wohl mehrheitlich ein Leben in einer festen Beziehung mit einer Ehe analogen Qualitäten. Nicht selten heiraten solche Paare, wenn sie ein Kind erwarten. Familie wird so zunehmend durch Elternschaft und nicht mehr durch Ehe konstituiert.

Was das voreheliche Zusammenleben betrifft, hat vor vierzig Jahren bereits die Synode 72 für eine differenzierte Betrachtung und Beurteilung plädiert. Höchste Zeit also, auch das Zusammenleben Geschiedener in einer zweiten Ehe differenziert zu betrachten und zu beurteilen.

Weil sich wiederverheiratete Geschiedene als rechtens Zusammenlebende betrachten, müssen sie den Ausschluss vom Kommunionempfang nicht als Ausschluss wegen schwerer Sündhaftigkeit empfinden, sondern als Strafe dafür, dass sie ein zweites Mal und nicht kirchlich geheiratet haben.

Hier hätte der Vorschlag von Adrian Loretan, aufgrund der „aequitas canonica“ die Strafe des Ausschlusses vom Kommunionempfang nicht anzuwenden, eine gute Anschlussmöglichkeit.

3. Mildere Praxis oder differenzierende Wahrnehmung

Auf den ersten Blick erscheint die mildere ostkirchliche Praxis als eine barmherzige Anwendung der Norm. Die Alternative „akribeia“ oder „oikonomia“ entspricht indes nicht dem Paradox strenge Norm und milde Anwendung. Denn „akribeia“ und „oikonomia“ sind Anwendungen der kanonischen Ordnung: Das Kriterium der Wahl ist ein seelsorgerliches: Es wird jene gewählt, die dem Seelenheil mehr dient. Die ostkirchlichen Prinzipien „akribeia“ und „oikonomia“ können nicht einfach auf die Westkirche übertragen werden, denn sie gelten nicht nur für die Fragen von Scheidung und Wiederverheiratung, sondern für die gesamte kanonische Ordnung.

Adrian Loretan sucht deshalb zu Recht nach westkirchlichen kanonischen Entsprechungen. Dabei nennt er auch das Rechtsinstitut der Epikie. Aus der Sicht der Lebenswirklichkeit konnte die aristotelische Epikie-Lehre Hilfreiches zur Uberwindung des Konflikts um Scheidung und kirchliche Wiederheirat beitragen.

Aristoteles redet im fünften Buch der Nikomachischen Ethik von der Epikie (epieikeia / epieikia) der Billigkeit und dem Billigen, wie sich die Billigkeit zur Gerechtigkeit und das Billige zum Gerechten verhält. Hinsichtlich des Billigen zeigt er eine Schwierigkeit auf und dass diese Schwierigkeit daher kommt, „dass das Billige zwar ein Recht ist, aber nicht dem Gesetze nach, sondern als eine Korrektur des gesetzlich Gerechten. Die Ursache ist, dass jedes Gesetz allgemein ist, in einigen Dingen aber in allgemeiner Weise nicht gesprochen werden kann. Wo man allgemein reden muss, dies aber nicht angemessen tun kann, da berücksichtigt das Gesetz die Mehrheit der Fälle, ohne über diesen Mangel im Unklaren zu sein. Dennoch geht es richtig vor. Denn der Fehler liegt weder im Gesetz noch beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache ... Wenn nun das Gesetz allgemein spricht, aber dabei ein Fall eintritt, der dem Allgemeinen widerspricht, so ist es, soweit der Gesetzgeber allgemein formulierend eine Lucke lasst, richtig, dies zu verbessern, wie es ja auch der Gesetzgeber selbst getan hatte, wenn er dabei gewesen ware; und wenn er diesen Fall gewusst hatte, hatte er ihn ins Gesetz aufgenommen. Daher ist das Billige ein Recht und besser als ein gewisses Recht, nicht als das Recht im Allgemeinen, sondern als der Mangel, der entsteht, weil das Gesetz allgemein spricht. Dies ist also die Natur des Billigen, eine Korrektur des Gesetzes, soweit es auf Grund seiner Allgemeinheit mangelhaft ist.“7

Nun zeigt sich heute gerade auch in der Frage von Scheidung und Wiederheirat, dass allgemein Formuliertes Lücken hat, sodass es keine einheitliche Regel für alle Fälle geben kann. Die Differenz liegt in der Natur der Sache. Längerfristig musste deshalb eine Regelung gefunden werden, welche die Differenz von vornherein berücksichtigt.

Kurzfristig ist indes wohl nur eine barmherzige Anwendung der Norm denkbar. Das hat aber seine psychologische Tücke. Menschen, welche einer Norm nicht entsprechen und ihre Abweichung von der Norm angenommen haben und zu ihr stehen, erwarten von ihren Mitmenschen Verständnis und nicht Barmherzigkeit. Barmherzigkeit zwischen Menschen impliziert ein Gefälle und kann daher sehr verletzen. Noch gefährlicher wäre es, eine barmherzige Rechtsanwendung unvermittelt von der Barmherzigkeit Gottes abzuleiten. Denn „Gott ist ein Anderer“,8 und „zwischen Schöpfer und Geschöpf gibt es keine Ähnlichkeit, ohne dass diese von einer noch grösseren Unähnlichkeit begleitet wäre – „inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda“.9

 

* Dr. Rolf Weibel hielt das hier abgedruckte Koreferat am Studientag der Schweizer Bischofskonferenz vom 31. August 2015 in Bern als Ergänzung zum Referat von Prof. Dr. Adrian Loretan, das in der SKZ-Ausgabe vom 17. September 2015 veröffentlicht worden ist, in: Adrian Loretan: Orthodoxe Praxis bei geschiedenen Wiederverheirateten. in: SKZ 183 (2015), Nr. 38, 479–482.

 

1 Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II, IV/III, 45–47 (Zoghby) und 58–60 ( Journet).

2 Lorenz Rogger: Lehrbuch der katholischen Religion für Gymnasien und Realschulen, Lehrer- und Lehrerinnenseminare. Hochdorf51950, 289.

3 Can. 1013, § 1.

4 Art. 49.

5 Arthur Marwick: The sixties: cultural revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958– c.1974. Oxford 1998.

6 Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. FrankFürt a. M. 2009, 821

7 1137 b 11–27.

8 Freilichtspiel 400 Jahre Kloster St. Klara Stans.

9 4. Laterankonzil, in: DH 806.

Rolf Weibel

Rolf Weibel

Dr. Rolf Weibel war bis April 2004 Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet als Fachjournalist nachberuflich weiter