Migration – eine Anfrage an uns

Wenn in diesen Tagen die zahlreichen Experten aus Wissenschaft, Medien und Politik in Anbetracht der dramatischen und nicht selten verstörenden Bilder der Flüchtlingsströme das noch junge 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Migration erklären, dann ist dies zunächst irreführend, und zwar in zweierlei Hinsicht. Als Erstes hat es Migration schon immer gegeben. Die Geschichte des „homo sapiens“ ist zugleich auch die Geschichte des „homo migrans“. Und als Zweites liessen sich auch die letzten zwei Jahrhunderte hinsichtlich der Wanderungsbewegungen als Jahrhunderte der Migration bezeichnen.

Die transatlantischen Migrationsströme vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg haben beispielsweise 50 bis 60 Millionen Europäer in die Neue Welt geführt. Und selbst das kürzlich erschienene Buch «Das Jahrhundert der Entscheidung: Wo steuert die globale Gemeinschaft im 21. Jahrhundert hin?»1 stellt jene Fragen, welche die Menschen sich wahrscheinlich zu Beginn jeder Epoche gestellt haben: Wie geht es jetzt weiter? Was kommt auf uns zu?

Wenn jetzt trotzdem vom Jahrhundert der Migration oder auch vom Zeitalter der Migration die Rede ist, deutet dies dennoch darauf hin, dass Migration und insbesondere die Flucht als die zent- ralsten Herausforderungen der Gegenwart betrachtet werden und dass hier für die kommenden Jahre und Jahrzehnte nachhaltige Entscheidungen unabdingbar sind. Laut UNO sind derzeit nämlich ca. 60 Millionen Menschen auf der Flucht, was einem historischen Rekord entspricht. Und in den kommenden Jahren soll sich diese Zahl noch erhohen.

Dass die aus globalen Migrations- und Fluchtbewegungen zunehmende Komplexität unserer Gesellschaften nachhaltige Entscheidungen erfordert, liegt auf der Hand. Da nachhaltigen Entscheidungen tiefgreifende Umdenkprozesse vorausgehen müssen, ist zwar auch klar, stellt jedoch vielleicht die Herausforderung schlechthin dar. So betrachtet, wäre es in Anbetracht gesellschaftspolitischer Dynamiken zunächst vielleicht dringlicher, zu fragen, was im noch jungen neuen Jahrhundert als Erstes geschehen sollte, bevor man sich an die Schlussfolgerung wagt, was für ein Jahrhundert es sein wird.

Die einzelnen Qualifikationen der bevorstehenden Jahrzehnte werden sich im Nachhinein vielleicht als mehr oder weniger zutreffend entpuppen, was man aber schon jetzt, vor allem mit Blick auf die westlichen Gesellschaften, sagen kann, ist, dass das laufende Jahrhundert ein Jahrhundert des tiefgreifenden Umdenkens wird sein müssen. Und dies gilt für alle gesellschaftlichen Bereiche.

Migration – eine Anfrage an die Universalität unserer Werte

Wirft man einen Blick auf die westeuropäischen Debatten der letzten Jahre über Migration, stellt man fest, dass diese Debatten einem festen normativen Schema folgen. Es wird unermüdlich danach gefragt, wie sich die Migration auf unsere Identität, auf unser Wertesystem und nicht zuletzt auch auf unsere Sicherheit auswirken werde. Solche Fragestellungen sind verständlich, und man kann nicht leugnen, dass sie mit Blick auf einzelne Falle im Zusammenhang mit Migration auch ihre Berechtigung haben. Was jedoch – unabhängig von den einzelnen thematischen Bezügen solcher Fragestellungen – an dem erwähnten normativen Schema auffallt, ist die generelle Wahrnehmung der Migration als eine Infragestellung unserer Werte. Infolge der migrationsbedingten Pluralisierung von praktisch allen Bereichen unserer Gesellschaft fragen wir regelmassig danach, ob diese oder jene Migrantengemeinschaften integrationsfähig oder gar integrationswillig seien, ob die Berücksichtigung ihrer kulturellen und religiösen Bedürfnisse nicht die Gefahr einer Aushöhlung unserer mühsam erkämpften Werte wie Toleranz, Aufklarung, Liberalismus und säkulare Rechtsstaatlichkeit in sich berge.

Bei solchen Grundsatzdebatten geht in der Regel ein wichtiger Aspekt unseres Werteverständnisses bzw. des Anspruches, den wir mit diesem Verständnis verbinden, verloren: der von uns gegenüber dem Rest der Welt reklamierte Universalcharakter unseres Wertesystems. Bereits Anfang der 1990er-Jahre verkündete der US-amerikanische Soziologe und Politikberater Francis Fukuyama in seinem Buch „Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?“ unter dem Eindruck des Wegfalls des eisernen Vorhangs, die Menschheit sei am Ende ihrer ideologischen Evolution angelangt. Die liberalen Demokratien des Westens hatten sich gegenüber den abgeschotteten Regimen des Ostens endgültig als das fur den Rest der Welt nachzuholende Werteideal erwiesen.2

Heute, 25 Jahre nach dem Erscheinen dieser Thesen, erleben wir nicht nur, dass liberale westliche Demokratien sich durch reale und gesetzliche Zaune vor dem Elend und Leid der Flüchtlinge abschotten. Wir erleben vielmehr ein liberales Europa, das sich vor dem Hintergrund der Migrations- und Integrationsdebatten – trotz eigenem Bekenntnis zu Vielfalt, Differenz und individueller Freiheit – offenbar sehr schwer damit tut, die migrationsbedingte Vielfalt der eigenen Gesellschaften zu akzeptieren. Die kulturelle Vielfalt und Differenz auf der Speisekarte unserer Restaurants, unserer Modehäuser und Musikgeschäfte ist zweifelsohne mehrheitsfähig und wird als Bereicherung wahrgenommen und gerne konsumiert. Die quer durch Westeuropa und über parteiideologische Grenzen hinweg stattfindenden emotionalen Reaktionen auf das Recht von Minderheiten auf sichtbare Differenz sind sehr anschauliche Beispiele dafür, dass unsere liberalen Demokratien sich mit Differenz und Vielfalt schwertun. Mit ihrem Anspruch auf die Identitätsstiftende kulturelle und religiöse Differenz erinnern uns Migrantengemeinschaft aber an die Universalität unserer Werte. Migration wird somit nicht zu einer oft behaupteten Infragestellung unserer Werte, sondern geradezu zu einer Anfrage an die gerne behauptete Universalität derselben Werte. In der Endkonsequenz bedeutet dies eine Umkehrung der klassischen Frage nach der Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit von Migranten. Angesichts der kontinuierlichen Zunahme der Vielfalt und Differenz – beides verdankt sich wohlgemerkt nicht nur der Migration, sondern auch unserem Lebensstil – in unserer Gesellschaft, stellt sich vielmehr die Frage nach der Integrationsfähigkeit unserer gesellschaftlichen Institutionen. Sind diese noch in der Lage, die erwähnte Vielfalt und Differenz sinnvoll zu steuern?

Migration – eine Anfrage an die Universalität unserer Kirche

Auch im kirchlichen Kontext stellt Migration nicht nur ein vielschichtiges Thema dar, welches die in der Kirche engagierten Menschen auf allen Arbeits- und Funktionsebenen sowohl vor grundsätzliche pastoralpraktische als auch verwaltungstechnische Herausforderungen stellt. Die Migrations- und Integrationsdebatten auf gesellschaftspolitischer Buhne haben ihre Auswirkungen auch auf die kircheninterne Wahrnehmung von Vielfalt und Differenz. Mir wurde das nach der Übernahme der Leitung von migratio schnell bewusst.

In zahlreichen Diskussionen uber anderssprachige Missionen höre ich nämlich immer wieder jene Semantiken und Forderungen, die mir bereits aus meiner zwolfjährigen Islamforschung geläufig sind: Integration, Dialog, Anpassung. Solche und ähnliche Semantiken deuten als erstes darauf hin, dass das Thema Migration auch im kirchlichen Kontext normativ beladen ist und einer defizitorientierten Argumentationslinie folgt. Die anderssprachigen Missionen werden nämlich häufig nicht nur als eine nicht mehr zeitgemässe Parallelstruktur innerhalb der Regelstruktur der Ortskirche wahrgenommen. Als nicht mehr zeitgemäss werden auch deren Frömmigkeitsformen, deren Kirchenbild und deren Amtsverständnisse diskutiert und kritisiert. Den erwähnten Semantiken lasst sich als Zweites aber auch entnehmen, dass man sich, ähnlich wie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, auch innerkirchlich mit Differenz und Vielfalt schwertut. Im ersten hier erschienen Beitrag der zweiteiligen Serie zum Thema Migration und Kirche3 wurde auf die quantitative und theologische Dimension des konstitutiven Verhältnisses von Migration und Kirche hingewiesen und daraus die Konsequenz gezogen, dass die statistisch belegte und anhaltende grosse Migration von Katholikinnen und Katholiken in die Schweizer Ortskirche eine Anfrage an das katholische Selbstverständnis der Kirche bedeutet. Mit der Prasenz ihrer Missionen, ihrer kulturellen und religiosen Brauche erinnern uns die katholischen Glaubigen nicht nur an den Universalcharakter, an die katholische Ur-Identität unserer Kirche. Ihr Bestehen auf kirchenkultureller Differenz und Vielfalt ist zugleich eine Anfrage an die Universalität, d. h. die Katholizitat-Fahigkeit unserer Ortskirche.

Weil wir katholisch sind

Fragt man nach den Konsequenzen, die sich im Kontext der aktuellen Migrationsstrome und der mit ihnen einhergehenden religiös-kulturellen Pluralisierung der Gesellschaft für das katholische Selbstverständnis unserer Ortskirche ergeben, so lassen sich drei inhaltliche Ebenen der Katholizität benennen:

a) Katholizität nach innen – hier geht es vor allem um die Frage, wie die Kirche auf struktureller und pastoral- praktischer Ebene mit ihrer internen kirchenkulturellen und sprachlichen Vielfalt und Differenzen in der Zukunft im Sinne der Katholizität umgehen soll,

b) Katholizität zwischenkirchlich – aus dem katholischen Selbstverständnis der Kirche ergibt sich zwangsläufig auch die Konsequenz ihrer dialogischen Offenheit gegenüber anderen christlichen Konfessionen. Gerade migrationsbedingt differenziert sich das Spektrum christlicher Kirchen in der Schweiz in kirchenhistorisch gesehen einmaliger Art und Weise, was zu einer erheblichen inhaltlich-theologischen Neubestimmung des klassischen ökumenischen Dialogs wird fuhren müssen;

c) Katholizität nach aussen – aus dem Selbstverständnis und heilsgeschichtlicher Bestimmung der Kirche als katholisch ergibt sich nicht zuletzt auch die Notwendigkeit ihrer dialogischen Offenheit gegenüber nichtchristlichen Religionen. Migrationsbedingt gilt hier die besondere Aufmerksamkeit selbstredend dem Dialog mit dem Islam.

Welche konkreten Aufgaben bzw. notwendigen Umdenkprozesse – um hier die im ersten Beitrag aufgeworfene Frage erneut aufzugreifen – ergeben sich nun für die katholische Kirche in der Schweiz in Anbetracht ihrer internen Vielfalt und der damit verbundenen Differenzen? Den anstehenden Entscheidungen auf den verschiedenen Funktions- und Entscheidungsebenen der Kirche wird zunächst ein Umdenkprozess vorausgehen müssen, der, ähnlich wie bei gesellschafts-politischen Debatten über Migration und Integration, mit einer Verkehrung der Perspektive einhergeht. Konkret bedeutet dies die Aufgabe der klassischen .Integrations-Erwartung. an die Missionen mit dem Argument der katholischen Einheit der Kirche. Das Argument der Katholizität muss hier vielmehr dem Universalauftrag der Kirche Rechnung tragen, woraus sich eine Umkehrung der Integrationserwartung in Richtung kirchlicher Institutionen ergibt. Dieser Perspektivenwechsel wird dann in der konkreten Frage nach der Integrationsfähigkeit unserer ortskirchlichen Strukturen munden müssen. Sind diese Strukturen bzw. ihre Funktionsweise der zunehmenden und sich wandelnden Katholizität unserer Ortskirche noch gerecht? Sind sie in der Lage, Personen und Gemeinschaften innerhalb unserer Kirche zu erreichen, die zwar zum integralen Bestandteil (nicht nur bezüglich der Kirchensteuern) unserer Ortskirche geworden sind, in ihr aber weitgehend unterrepräsentiert sind? Um die innerkirchliche Vielfalt als wesentliches Element der Katholizität unserer Ortskirche auch institutionell abzubilden, braucht es eine interkulturelle Öffnung unserer kirchlichen Gremien. Ich freue mich zwar, wenn ich in solchen Gremien vereinzelt den katholischen Frauen und Männern mit Migrationshintergrund begegne, die sich engagiert in die Entscheidungsfindungsprozesse einbringen. Dies bleiben bislang aber immer noch Einzelfalle. Migration und interkulturelle Öffnung sind selbstredend auch eine Anfrage an die katholischen Migranten selbst. Für sie stellt sich die konkrete Frage: Wie kann und mochte ich mich aktiv in das Leben meiner Ortskirche einbringen? Hier darf weder die Ermutigung seitens des jeweiligen Missionars noch seitens der Vertreter der Ortskirche fehlen.

Ob wir die innerkirchliche Vielfalt und Differenz anerkennen, darf nicht so sehr davon abhängen, ob und wie liberal wir sind. Diese Vielfalt und Differenz erinnern uns vielmehr an den universalen, d. h. katholischen Heilsauftrag unserer Kirche, der in unzähligen kirchlichen Dokumenten reflektiert wird. Und zu dieser Vielfalt sind wir verpflichtet, weil wir katholisch sind.

 

 

1 Il Magalio: Das Jahrhundert der Entscheidung: Wo steuert die globale Gemeinschaft im 21. Jahrhundert hin? Hamburg 2013.

2 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir? München 1992.

3 Samuel M. Behloul: Ohne Migration keine Katholizität, in: SKZ 183 (2015), Nr. 37, 462 f.

Samuel M. Behloul

Samuel M. Behloul

Samuel M. Behloul ist Fachleiter Christentum am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) und Titularprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Luzern.