Orientierungen im Ukraine-Konflikt

Das Ökumenische Patriarchat gab am 7. September die Entsendung von zwei Exarchen* in die Ukraine bekannt. Als Reaktion drohte das Moskauer Patriarchat mit dem Abbruch der eucharistischen Gemeinschaft.

In der Beschäftigung mit den Ostkirchen geht es keinesfalls nur um Ikonen, vergoldete Kuppeln und Weihrauch. Es geht auch um verschiedene Geschichtserfahrungen und -deutungen, um eine andere Sicht des Verhältnisses zwischen Kirche und politischer Macht. Samuel Huntington ging als Politologe so weit zu behaupten: «Wo hört Europa auf? Es hört dort auf, wo das westliche Christentum aufhört und Orthodoxie und Islam beginnen» (Kampf der Kulturen, München/Wien 71998, 252). Aus theologischer Sicht lässt sich diese Aussage auch in die Frage wenden: Wie können wir die kulturellen Stile in Ost und West in ihrer Komplementarität miteinander versöhnen, damit Europa eine geistige Grundlage für seine Suche nach Einheit in Frieden und Gerechtigkeit erhält? Die gegenwärtige Situation in der Ukraine wird oft einseitig als Begleiterscheinung eines politischen Machtkampfes dargestellt. Schauen wir näher hin.

Schlüsselbegriff «Autokephalie»

Es geht um die Autokephalie der orthodoxen Kirche in der Ukraine – so lautet der einfache Ausgangspunkt. «Autokephalie» ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis der (byzantinischen) orthodoxen Kirchen. Er bedeutet das Recht, das eigene Oberhaupt zu wählen (griech. kephalos = Haupt) und sich in kirchenrechtlichen und pastoralen Angelegenheiten selbst zu verwalten, allerdings ohne das Recht, in Dogmatik und Liturgie Änderungen vorzunehmen. Das Prinzip der Autokephalie hat eine antikatholische Spitze: Die Einheit der Orthodoxie wird nicht durch ein sichtbares Oberhaupt wie den Papst in Rom garantiert, sondern durch die Einheit im Glauben, gefeiert in der Göttlichen Liturgie und durch die Canones der Ökumenischen Konzilien und späterer verbindlicher Synoden geordnet. Eine Konsequenz der autokephalen Kirchenstruktur ist das Prinzip der gegenseitigen Nichteinmischung. Entscheidungen, die die gesamte orthodoxe Kirche binden, können eigentlich nur einstimmig durch die autokephalen Kirchen getroffen werden. Wie schwierig es ist, auf diese Weise zu einem Ausdruck der Einheit zu gelangen, hat die sogenannte Panorthodoxe Synode in Kreta im Juni 2016 gezeigt. Hier fehlten vier der 14 autokephalen Kirchen, obwohl sie den gesamten Vorbereitungsprozess mitgetragen hatten.

Vier entscheidende Aspekte

Es gibt kein in der gesamten Orthodoxie anerkanntes Verfahren, wie eine Kirche zur Autokephalie gelangt. Die Frage sollte auf der Synode von Kreta behandelt werden, aber das Traktandum wurde von der Tagesordnung abgesetzt, weil kein Konsens zu erwarten war. Verabschiedet wurde hingegen ein Dokument über «Die Autonomie und die Weise ihrer Proklamation». Bei der Autonomie handelt es sich um eine Vorstufe der Autokephalie, bei der eine gewisse Abhängigkeit von der «Mutterkirche», zu deren Jurisdiktion die autonome Kirche gehört (hat), erhalten bleibt. «Beginn und Abschluss» des Verfahrens fallen gemäss dem Dokument von Kreta in die Verantwortung der autokephalen Mutterkirche. Aus diesem Dokument ist zu ersehen, dass auch für die Autokephalie vier Aspekte zu berücksichtigen sind: a) die um Autokephalie bittende Instanz; b) die autokephale Mutterkirche, die nun einen Teil des Territoriums, für das sie Verantwortung trug, in die Selbstständigkeit entlässt; c) der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, der in seinem Ehrenprimat (nicht Jurisdiktionsprimat!) den gesamtorthodoxen Konsens zum Ausdruck bringt; d) die übrigen autokephalen Kirchen, die einmütig ihre Zustimmung geben müssen. Es bleibt zu prüfen, wie es sich im Falle der Ukraine mit diesen vier Instanzen verhält.

a) Bittende Instanz

In der Ukraine ist die Lage unübersichtlich, weil es vier «orthodoxe» Kirchen gibt, die keine jurisdiktionelle Einheit bilden:

  1. die Ukrainische Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat; Oberhaupt: Metropolit Onuphrij);
  2. die Ukrainische Orthodoxe Kirche (Kiewer Patriarchat); sie ist 1992 aus einer Trennung vom Moskauer Patriarchat hervorgegangen, ausgelöst durch den jetzigen Patriarchen Philaret;
  3. die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche, derzeit ohne leitenden Metropoliten und ohne kanonische Anerkennung durch die übrigen autokephalen Kirchen; ihre Auslandsmetropolien haben sich dem Ökumenischen Patriarchat unterstellt;
  4. die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche in Communio mit Rom (Oberhaupt: Grosserzbischof Sviatoslav Shevtshuk).

Bislang galt bei den meisten orthodoxen Kirchen, einschliesslich des Ökumenischen Patriarchats, die Ukrainische Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat) als die einzig kanonische (rechtmässig) orthodoxe Kirche der Ukraine.

Inzwischen nahm Patriarch Bartholomäus den Patriarchen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiever Patriarchats und dessen Klerus (b) wieder in die Kirchengemeinschaft auf und errichtete die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (c) als «Stauropegion», d. h. als autonome Kirche unter der direkten Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchats. Doch zwischen den Kirchen besteht weiterhin keine jurisdiktionelle Einheit und keine gemeinsame handlungsfähige Synode. Ziel der Autokephalie soll aber eine neue, geeinte Orthodoxe Kirche sein. Wer also kann die Autokephalie erbitten oder empfangen? Trotz wiederholter früherer Initiativen zu einer grösseren Eigenständigkeit der orthodoxen Kirche(n) in der Ukraine stammt derzeitig die einzige offiziell vorliegende Anfrage nicht von einer kirchlichen, sondern einer politischen Instanz: von Präsident Poroshenko, gerichtet an den Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus. Der jetzige Konflikt bezieht sich nicht vorrangig auf die Frage: Autokephalie – ja oder nein?, sondern auf die Prozedur ihrer Proklamation.

b) Autokephale Mutterkirche

Wer ist die Mutterkirche? Diese Frage wird am stärksten kontrovers diskutiert und erfordert eine (Neu)Interpretation der Geschichte. Konstantinopel und Moskau beanspruchen gleichermassen, dass die Ukraine ihr sogenanntes «kanonisches Territorium» darstellt. Niemand bestreitet, dass die Christianisierung der Kiewer Region von Konstantinopel ausging. Die Frage lautet eher: Übertrug das Ökumenische Patriarchat in seinem Brief von 1686 an das Moskauer Patriarchat zusammen mit dem Recht zur Weihe des Metropoliten von Kiew auch die gesamte Jurisdiktion an Moskau? Konstantinopel sagt: Nein, es handelte sich um eine vorübergehende Delegation aufgrund der eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Patriarchats von Konstantinopel, das nach 1453 als Urbild des Millet-Systems dem Osmanischen Reich eingegliedert wurde und nur für die Untertanen dieses Reichs zuständig war. Am 11. Oktober 2018 wurde das Synodalschreiben von 1686 formell durch die Heilige Synode in Konstantinopel ausser Kraft gesetzt. Moskau argumentiert mit einer gewissen Normativität der geschichtlichen Wandlungen: Nach dem Fall von Konstantinopel sei Moskau die Verantwortung für die slavischen orthodoxen Völkerschaften ausserhalb der neuen begrenzten Zuständigkeit von Konstantinopel zugefallen.

c) Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel

Das jetzige Vorgehen des Patriarchen von Konstantinopel wird auf diesem Hintergrund in mehrfacher Hinsicht als Verstoss gegen die Prinzipien der orthodoxen Kirche betrachtet: 1) weil die Frage der Mutterkirche einseitig zugunsten von Konstantinopel entschieden wurde; 2) weil der Patriarch von Konstantinopel den offenbar fehlenden Konsens im Gespräch mit Patriarch Kirill von Moskau bei dessen Besuch in Istanbul am 31. August dieses Jahres nicht weiter berücksichtigt hat; 3) weil der jurisdiktionelle Akt der Entsendung von zwei Exarchen, die in der Autorität des Ökumenischen Patriarchen die Autokephalie vorbereiten sollen, auf das Territorium der Ukraine als Verstoss gegen das Prinzip der Nichteinmischung gewertet wird; 4) weil damit Patriarch Bartholomäus vorgeworfen wird, entgegen dem Verständnis der Autokephalie wie ein «Papst der Orthodoxie» vorzugehen.

d) Autokephale Kirchen

Wenn unter den autokephalen Kirchen eigentlich nur nach dem Prinzip der Einstimmigkeit gehandelt werden kann, sobald es um gesamtorthodoxe Belange geht, dann wird die Position der übrigen Lokalkirchen in dieser Frage sehr wichtig sein.

Am 15. Oktober hat die Synode der Russischen Orthodoxen Kirche entschieden, die Communio mit dem Patriarchat von Konstantinopel zu unterbrechen: Der Name von Patriarch Bartholomäus wird in der Liturgie nicht mehr erwähnt und gemeinsame liturgische Feiern mit Empfang der Kommunion sind nicht mehr möglich. Da die Einheit des Glaubensbekenntnisses nicht gebrochen ist, mag die Aufhebung der sakramentalen Gemeinschaft verwundern. Sie ist Folge der Tatsache, dass für autokephale Kirchen die gemeinsame Feier der Eucharistie das einzige eindeutige Zeichen sichtbarer Einheit darstellt. Erste Stellungnahmen aus den übrigen autokephalen Kirchen sind über die Medien zugänglich, können aber keinen ekklesialen Konsens herbeiführen. Die Gemeinschaft der autokephalen Kirchen hat in der Vorbereitung der Panorthodoxen Synode von Kreta ein Instrument der Synodalität auf panorthodoxer Ebene hervorgebracht, das in diesem Falle zur Lösungsfindung eingesetzt werden könnte: die sogenannte «Synaxis», die Versammlung aller Oberhäupter der 14 autokephalen Kirchen. Dieser Weg könnte und sollte nun beschritten werden – verbunden mit dem Gebet um Versöhnung und Frieden für die ukrainischen Christen. Denn im Gebet liegt eine stets mögliche Form von solidarischer «Einmischung» ohne Verletzung des Prinzips der «Nichteinmischung».

Barbara Hallensleben

 

Vorschlag für zwei Fürbitten, wie das Moskauer Patriarchat sie formuliert hat:

  • Lasset uns beten zu unserem Herrn und Retter: Erhalte die Orthodoxe Kirche in aller Welt in der Einheit und im rechten Glauben. Schenke ihr Ruhe und Frieden, Liebe und Eintracht. Gemeinsam sprechen wir: Herr, erhöre uns und erbarme dich.
     
  • Lasset uns beten: Schau mit Barmherzigkeit und Gnade auf die Heilige Orthodoxe Kirche und bewahre sie vor Spaltungen und Schismen, vor Feindschaft und Aufruhr. Möge ihre Einheit nicht erschüttert werden. Vielmehr werde in ihr Dein dreiheiliger Name gepriesen. Gemeinsam sprechen wir: Herr, erhöre uns und erbarme dich.

 

 

*Für ein bestimmtes Gebiet oder einen bestimmten Auftrag zuständiger Vertreter des Patriarchen.


Barbara Hallensleben

Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Ü. Sie ist Direktorin des Zentrums St. Nikolaus für das Studium der Ostkirchen und Mitglied der Gemeinsamen Internationalen Kommission für den theologischen Dialog zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche.