Ohne Transzendenzfragen keine Bildung

Das Stichwort Heterogenität taucht im Zusammenhang mit Religionsunterricht immer wieder auf. Was heisst, was will und was kann heterogenitätssensibler Religionsunterricht?

«Es gibt keine normale Religion in der Schweiz» – so lautet die schlichte Feststellung einer angehenden Lehrperson in einem jüngst geführten Interview.1 Oder, umfassender noch, das Statement eines Künstlers: «La suisse n'existe pas.» Fast legendär geworden ist dieses geflügelte Wort von Ben Vautier seit der Weltausstellung von 1992 in Sevilla. Vautier räumte dort mit den üblichen Klischees des Alpenmythos der «einen Schweiz» auf und präsentierte stattdessen einen bunten visuellen Mix unterschiedlichster Narrative, indem er die Komposition eines Klangteppichs aus Schweizer Dialekten zu Gehör brachte. «Plurality» sozusagen als «Swissness at its best».

Der in solchen Äusserungen hörbare entspannte Umgang mit Vielfalt, auch in religiöser Hinsicht, ist, zumindest auf den ersten Blick, ein etabliertes, ein gut gepflegtes und unbestrittenes Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Schweiz. Hier kann jede Person unabhängig von bestimmten individuellen Eigenschaften oder Vorlieben davon ausgehen, dass sie in ihrer Würde anerkannt wird bzw. eben nicht aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale und Präferenzen aus der Gesellschaft ausgegrenzt wird. Wir haben in der Schweiz tatsächlich zurzeit den Luxus einer tendenziell funktionierenden pluralistischen Gesellschaft. Ein Luxus, der nie per se gegeben ist, sondern des permanenten Einsatzes einzelner Menschen und Menschengruppen bedarf.

«Kein buntes Stadtteilfest»

Wie verhält es sich nun aber mit dem jüngst verstärkt verwendeten Begriff der Heterogenität? Was damit im Unterschied zur Pluralität gemeint ist, lässt sich vergleichsweise leicht erläutern: Die Rede von der pluralen Gesellschaft geht davon aus, dass die Unterschiede zwischen Menschen gewissermassen in der Horizontalen breit verteilt sind und von daher ein friedliches und gerechtes Zusammenleben und der Ausgleich der Interessen gut möglich sind. Der Begriff «heteros» meint seinem Ursprung nach «unterschiedlich», «vielfältig», «inkonsistent». Er ist von Beginn an mit Deutungsspannungen aufgeladen. Schon etymologisch ist nicht eindeutig, ob Heterogenität eine Art produktive «Vielspältigkeit» oder eher eine krisenproduzierende destabilisierende Atomisierung meint.

Von heterogenen Verhältnissen sprechen wir also, wenn Differenzen von vertikaler Art sind – d. h., wenn das Zusammenleben von starken Macht- oder Hierarchiegefällen geprägt ist. Die bestehenden Unterschiede haben dann durchaus konfliktauslösenden Charakter.

Ist nun, kann man fragen, die programmatische Berücksichtigung von religiöser Heterogenität ebenfalls Teil der Staatsraison der Schweiz? Werden in den unterschiedlichsten Bereichen des politischen Lebens – und damit auch in Bildung und Schule – wesentliche Unterschiede von Religion, Geschlecht und Herkunft im Modus des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen wirklich wahr- und ernstgenommen? Welche Rolle kann und sollte dafür der Religionsunterricht übernehmen? Was ist also der Klebstoff, der das Ganze in und mit seinen heterogenen Teilen zusammenhält – und was hat dies mit religiöser Bildung zu tun?

Nach Ansicht des Politologen Michael Hermann wird die Schweiz von einer Art Gewebe zusammengehalten, das die Divergenzen und Spannungen auffängt: «Die Schweiz ist tatsächlich ein Land mit Divergenzen und Spannungen. Konflikte sind fast vorprogrammiert. Doch das Gewebe der Schweiz ist stark, nicht weil es keine Spannungen kennt, sondern weil sich in ihm verschiedene Spannungsfelder überlagern. Kultur und Religion stellen eine erste Ebene eines solchen Spannungsfeldes dar. Die Spannungen betreffen geografisch unterschiedliche Gebiete und werden gleichzeitig durch einen feingliedrigen Föderalismus etwas aufgefangen.» Dass dieses Gewebe die Spannungen und Divergenzen auffangen kann, liegt für Hermann also darin – und dies ist durchaus bedenkenswert –, dass ihre inneren Gegensätze nicht alle entlang der gleichen Linien verlaufen, sondern sich kreuzen. So verlief etwa der Gegensatz zwischen der protestantischen und der katholischen Kirche nie zwischen den Sprachgrenzen und die politische Gestaltungsmacht war nie auf nur eine Klassen- oder Religionszugehörigkeit begrenzt. Mit anderen Worten: Religion allein konnte und durfte nie ein ausgrenzender Identitätsmarker sein. Damit hat das Diskriminierungsverbot (BV Art. 8) in Fragen der Religion und Religionsfreiheit eine fast noch höhere Bedeutung als der Verfassungsartikel zur Glaubens- und Gewissensfreiheit (BV Art. 15).

Dies lässt sich auch an Fragen des Umgangs mit religiösen Konflikten deutlich machen: Man denke nur an die Minarettabstimmung des Jahres 2009. Oder an den gegenwärtig wieder grassierenden Antisemitismus, aber auch an aktuelle Debatten über das Kopftuch, den Schwimmunterricht, die Feier von Weihnachtsgottesdiensten in Schulen usw. Hier entstehen überall im Grenzbereich von individueller Religionsfreiheit und Heterogenität spannungsvolle und emotionale Identitätsdiskurse. Der Kulturphilosoph Alexander Grau formuliert dazu: «Multi-Gesellschaften sind kein buntes Stadtteilfest. Ihr Konfliktpotenzial ist enorm. Gerade aber weil das so ist und hochgradig heterogene Gesellschaften eine gewaltige Herausforderung darstellen, gilt es den Tatsachen ins Auge zu sehen, illusionslos und unverblümt.»

Voraussetzung für echte Bildung

Heterogenitätssensibler Religionsunterricht ist in der Schweiz insofern unbedingt gefragt. Es gilt gerade dann, wenn grundlegende Weltzugänge Bildungsinhalt sind, bestehende Spannungen zwischen den verschiedenen religiösen – und auch verschiedenen säkularen! – Weltanschauungen und Perspektiven in den Blick zu nehmen. Bereits der Bildungsreformer Humboldt benannte für gelingende Bildung exakt zwei Voraussetzungen: Freiheit2 und «Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen». Der Grund hierfür: «Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.» Kurz: Die Forderung liegt darin, dass jeder und jede mit unterschiedlichsten Menschen, Kulturen, Themenfeldern, Sprachen, Perspektiven und damit auch Religionen konfrontiert wird. Diese Forderung ist keineswegs neu. Harmlos war sie allerdings nie – und sie ist es heute, angesichts steigender, gewissermassen beschleunigter, Heterogenität, weniger denn je. Sie ist nicht rosarot anzumalen, sondern für Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Bildungspolitik ständige Herausforderung. In Sachen Religion ist Heterogenität inklusive ihrer Machtaspekte nicht zuletzt auch Herausforderung für die Theologien. Auch hier gilt, in freier Abwandlung des Humboldt’schen Zitats, für die Theologie(n): «Auch die freieste und unabhängigste Theologie, in einförmige Lagen versetzt, verkümmert.»

Was theologisch tragen kann

Den entsprechenden inneren und äusseren Konflikten ist durch Dialog, Frageräume und Sprachfindungsprozesse Raum zu geben: im Klassenzimmer, wesentlich aber auch in den Räumen «davor»: in den Kirchen und weiteren Religionsgemeinschaften, in Ausbildungen für zukünftige Lehrpersonen, in bildungspolitischen Debatten. Das Gewebe, das solche Heterogenitätsbedingung trägt, ist ebenfalls eines, das auf verschiedenen Feldern trägt. Es ist – querreligiös gefasst – wohl das Sehnsuchtsmoment, ist die Ebene gelebter, erfahrener oder ersehnter Transzendenzmomente, ist das gemeinschaftliche Ringen oder Ergriffen-Sein im Sinn des «Geschmacks für das Unendliche». Über dieses Gewebe, und damit auch über die möglicherweise bestehenden ethischen Gemeinsamkeiten, muss man sich im Religionsunterricht verständigen. Transzendenz ist also eine wesentliche Deutungsoption gerade für eine zivilisierende religiöse Bildung. Heterogenität fordert das offene Aushalten mancher Inkonsistenzen. Gefordert ist dabei pädagogisch und theologisch oftmals nicht die vermeintlich immer schon richtige Antwort, sondern manchmal einfach die richtige Frage danach, was das Gewebe der Gesellschaft auch in religiöser Hinsicht zusammenhält.

Thomas Schlag* und Jasmine Suhner**

 

1 Im Rahmen eines noch nicht publizierten Forschungsprojekts des «Kompetenzzentrums interreligiöses Lernen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen» (KIAL).

2 «Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.»

 

 

Thomas Schlag und Jasmine Suhner

Prof. Dr. Thomas Schlag (Jg. 1965) ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE).

Dr. Jasmine Suhner (Jg. 1984) ist Oberassistentin für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.