Ohne Sendung keine Ausstrahlung

In der evangelisch-reformierten Kirche ist Mission ein bislang weitgehend ignoriertes Thema. Will die Kirche zukunftsfähig sein, muss sie sich ihres Auftrags und ihrer Sendung bewusst werden.

Mit verschränkten Armen und roten Köpfen schauen mich einige Leute während eines Vortrages an. Was ist passiert, dass sie verärgert sind? Ich habe bei einem Vortrag zur Kirchenentwicklung das Thema Mission angeschnitten. Schon häufig ist mir diese Reaktion begegnet. Noch immer geistern Bilder des 18. und 19. Jahrhunderts in den Köpfen der Zuhörenden herum: Zwangsmission, Kolonialisierung und Unterdrückung. Nicht selten erlebe ich, dass die Abneigung sich überhaupt mit dem Thema Mission auseinanderzusetzen, nicht auf spezifischem Wissen, sondern auf Vorurteilen basiert. Dabei sind die Diskurse der letzten 70 Jahre in Missionswissenschaft scheinbar ungehört an diesen Personen und an grossen Teilen der evangelisch-reformierten Kirchen vorbeigezogen. Mission ist noch immer ein weitgehend ignoriertes Thema im reformierten Kontext.

Partizipation an der Mission Gottes

Im Missionsdiskurs hat sich jedoch einiges verändert. Seit der Weltmissionskonferenz in Willingen (D) 1952 spielt der Begriff Missio Dei im ökumenischen Verständnis von Mission eine zentrale Rolle. Dabei wird Mission als eine Aktivität Gottes bestimmt. Geprägt wurde der Begriff vom lutherischen Missionstheologen Georg F. Vicedom (1903–1974). In seinem Buch «Missio Dei. Einführung in eine Theologie der Mission» betont Vicedom, dass die Trinität selbst Subjekt der Mission ist. Die Kirche ist dabei eingeladen, an der Mission Gottes zu partizipieren. Gott selbst ist in diesem Missionsverständnis beides: sendend und ausgesandt. Durch die Verankerung von Mission in der Gotteslehre ist sie nicht mehr eine unter vielen Aufgaben der Kirche, sondern Identität und Wirken Gottes selbst. Somit wird auch Mission zu einem Identitätsmerkmal von Kirche.

Woraufhin existiert Kirche?

Mission ist nicht eng als eine Form religiöser Indoktrination zu verstehen, sondern als breites Konzept, in dem es um die Versöhnung und Wiederherstellung der Welt und der Menschen geht. So ist Mission sowohl Katechese und Taufe, gleichzeitig aber auch eine Form der Nachfolge, welche diakonisches Handeln, Einsatz für eine gerechte Welt und die Bewahrung der Schöpfung im Blick hat. Nachfolge in diesem Horizont beschreibt einen umfassenden Veränderungsprozess. Eine Kirche ohne missio ist sich ihrem Auftrag und ihrer Sendung nicht bewusst. Sie existiert, doch ohne zu wissen auf was hin. Eine Kirche ohne Auftrag, Bekenntnis und Profil wird nicht mehr erkannt. In einer postmodernen Gesellschaft wie der unseren wird auf der Basis von Erkennbarkeit, Beziehungen und Inhalt gewählt. Die Kirche ist auf dem religiösen Markt eine unter vielen. Ist sie aber unter diesen Vielen nicht erkennbar und ohne Auftrags- und Sendungsbewusstsein, verliert sich ihre Ausstrahlung. Bei der Debatte um Erkennbarkeit und Profil verweise ich nicht auf organisationslogische Diskurse, sondern auf theologische: Nur wenn Kirche ein Ort ist, an dem alle willkommen sind, religiöse Erfahrungen gemacht werden können, Heil und Unheil Thema sind und in den Tiefen des Lebens gemeinsam nach dem Lebensfördernden gesucht wird, hat sie Existenzberechtigung. Kirche ist von Gott her und auf Gott hin zu verstehen.

Lernplattform für Kirchenentwicklung

Der ehemalige Erzbischof von Canterbury William Temple (1895–1902) bemerkte einst pointiert: «The church is the only society on earth that exists for those who are not its members.»1 Diesem Auftrag ist die Kirche verpflichtet. In ihr und durch sie soll die uneingeschränkte Liebe Gottes dem menschlichen Leben, den Geschöpfen und der Schöpfung zugutekommen.

Die Missionstheologie bietet eine Lernplattform für Kirchenentwicklung. Eine Kirchentheorie, welche Mission als Identitätsmerkmal integriert, führt zu Kirchen, die konstant versuchen, mit dem Kontext, den Menschen vor Ort, der christlichen Tradition, der weltweiten Kirche und «Gott» im Dialog zu sein. Ihre Ekklesiologie ist eine dialogische und relationale, in dessen Mitte ein theologisches Zentrum ist. Ihr Ziel ist es, Menschen Raum und Freiheit zu geben, damit diese Veränderung erfahren und christliche Spiritualität entdecken können.

Sabrina Müller

 

1 Die Kirche ist die einzige Gesellschaft auf der Erde, die für diejenigen existiert, die nicht ihre Mitglieder sind.


Sabrina Müller

Pfrn. Dr. theol. Sabrina Müller (Jg. 1980) ist die theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung der Universität Zürich. Seit Herbst 2015 befasst sie sich in ihrem Habilitationsprojekt mit dem Thema «Religiöse Erfahrung als Grundbegriff der Praktischen Theologie». Daneben ist sie in die universitäre Lehre und die Ausbildung von Pfarrpersonen und Diakonen involviert. Vorher arbeitete sie während sechs Jahren in der ev.-ref. Kirche Bäretswil als Pfarrerin und promovierte zum Thema «Fresh expressions of Church».

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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