Ohne Migration keine Katholizität

Obwohl Migration und Religion in einem konstitutiven Verhältnis zueinander stehen und die religiöse und kirchliche Landschaft Europas sich zum erheblichen Teil infolge von Migrationsströmen in den letzten Jahrzehnten nachhaltig verändert haben, wurde das Thema Migration im öffentlichen Diskurs westeuropäischer Gesellschaften noch bis vor einigen Jahren mit anderen Themenbereichen und Fragekomplexen in Verbindung gebracht, kaum jedoch mit dem Thema Religion. Spätestens seit den Ereignissen vom 11. September 2001 erleben wir – zumindest im politischen Diskurs – ein gegenteiliges Phänomen, eine geradezu ausschliessliche Reduktion bestimmter Migrantengemeinschaften, namentlich der Muslime, auf ihre Religionszugehörigkeit.

Die Migrationsströme der vergangenen Jahrzehnte hatten in der Schweiz nicht nur eine bleibende Etablierung von nichtchristlichen Religionstraditionen zur Folge. Sie führten auch innerkirchlich zu einer kirchenhistorisch gesehen erstmaligen kulturellen und sprachlichen Vielfalt innerhalb der katholischen Ortskirchen in der Schweiz. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die römisch-katholische Kirche in der Schweiz zu einem Drittel aus Menschen mit Migrationshintergrund zusammensetzt und die Migration in ihr kein temporäres Phänomen, sondern eine strukturelle Gegebenheit darstellt, fragt der vorliegende erste Beitrag der zweiteiligen Serie zum Thema Migration und Kirche nach den daraus sich ergebenden Herausforderungen für das katholische Selbstverständnis der Kirche.

Religionsgeschichten als Geschichte von Migrations- und Lernprozessen

Religionstraditionen unterscheiden sich voneinander durch ihre eigenen Offenbarungsquellen, Schriftverständnisse, theologische Lehren, rituelle Praxisformen und durch die Art und Weise, wie sie jeweils ihren Geltungsanspruch begründen. Diese Unterschiede sind wichtig. Sie sind für eine Religionsgemeinschaft nicht nur identitätsstiftend. In ihnen begründet sich letztendlich auch das eigene Selbstverständnis und der Geltungsanspruch gegenüber anderen Religionen. Geschichtlich betrachtet waren die einzelnen Religionstraditionen jedoch – dies gilt zumindest für die grossen Weltreligionen – schon immer auf den Blick über den eigenen Tellerrand angewiesen. Diese Gemeinsamkeit, welche die geschichtliche Entwicklung von an sich unterschiedlichen Religionstraditionen auszeichnet, ist der Tatsache geschuldet, dass sich ihre Geschichte an geografisch verschiedenen Orten, in kulturell unterschiedlichen Kontexten und unter gesellschaftspolitisch komplexen und sich dauernd ändernden Bedingungen abgespielt haben.

Die Vielfalt geografischer, kultureller und gesellschaftspolitischer Lebenskontexte stellte die Religionstraditionen nämlich schon immer vor die Herausforderung, sich auf den jeweils neuen Lebenskontext einzulassen und neue Lernprozesse zu wagen. Die Notwendigkeit, das eigene Selbstverständnis und den mit ihm einhergehenden Geltungsanspruch neu zu reflektieren und neu zu begründen, ergab sich insbesondere immer dann, wenn verschiedene Völker sich durch enge Berührung und Vermischung aufeinander einlassen mussten, so dass auch ihre religiösen Anschauungen in einen neuartigen Wettstreit gerieten.1

Aus dieser Perspektive betrachtet erweist sich die Geschichte von Religionen als ein dynamischer Migrations- und Lernprozess, als eine im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Geschichte. Die Religionen ändern und erweitern nicht nur ihren Lebensraum, sondern definieren infolge dieser Bewegungen auch immer wieder neu ihr Selbstverständnis und ihren Geltungsanspruch.

Ein Blick auf die tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderungen in der religiösen Landschaft Westeuropas in den letzten Jahrzehnten ruft uns dieses konstitutive Verhältnis von Migration und Religion erneut ins Bewusstsein. Noch 1970 war die Schweiz beispielsweise ein zu 98 Prozent christlich geprägtes Land.2

Heute stellt sie ein religiös vielgestaltiges Land dar, in dem neben etablierten christlichen Kirchen auch verschiedene neue christliche und nichtchristliche Gemeinschaften vorkommen. Diese Entwicklung ist grösstenteils den Migrationsströmen der vergangenen Jahrzehnte zu verdanken. Ohne Migration, so können wir schlussfolgern, wären die grossen Religionstraditionen heute nicht dort, wo sie sind und nicht das bzw. so, wie sie heute sind.

Die Kirche als "ecclesia semper migranda"

Überträgt man dieses religionshistorische Faktum auf die Geschichte der Kirche, so lassen sich drei Ebenen benennen, auf denen sich das konstitutive Verhältnis von Migration und Kirche exemplifizieren lässt: a) Wie alle grossen Religionsgemeinschaften verdankt auch die Kirche ihre heutige geografische Ausdehnung der Migration. Und gemäss dem Zeugnis der neutestamentlichen Schriften wäre die urkirchliche Gemeinde ohne die Migration erst gar nicht überlebensfähig gewesen; b) die Migration stellt nicht nur im quantitativen, sondern auch im theologischen Sinne den Ermöglichungsgrund der Kirche dar. Ohne Migration und die damit einhergehende Durchmischung von Völkern und Kulturen lässt sich das Urmerkmal der Kirche, ihre Katholizität, nämlich erst gar nicht denken. Die paulinischen Schriften geben uns ein beeindruckendes Zeugnis einer Urkirche, die sich aus Menschen mit verschiedenen Sprachen, kulturellen Prägungen, Mentalitäten, Bräuchen und Sitten zu einer Einheit heranbildet, deren Mitte Christus ist; c) mit Migration hängt schliesslich auch die heilsgeschichtliche Dimension der Kirche wesensmässig zusammen. Die Katholizität als das Urmerkmal der Kirche erschöpft sich nicht bloss in der faktischen Existenz einer kulturell und sprachlich vielfältigen Kirche. Diese Vielfalt bildet vielmehr die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der heilsgeschichtlichen Vision der Kirche. Ihre faktische Existenz stellt die Vorwegnahme jener Vision von einer neuen Menschheit dar. Daran erinnert uns auch die Instruktion des Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs, "Erga migrantes caritas Christi". Durch die heilsgeschichtliche In-Beziehung-Setzung von gegenwärtigen und historischen Migrationsströmen wird nämlich in der Komplexität und den Ausmassen heutiger Migrationsströme "ein sehr bedeutsames ‹Zeichen der Zeit›"3 gesehen und die damit verbundenen Herausforderungen und menschlichen Leiden "als Geburtswehen einer neuen Menschheit"4 gedeutet.

Vor dem Hintergrund der skizzierten drei Dimensionen erweist sich Migration als der eigentliche Ermöglichungsgrund der Kirche und die Kirche selbst in ihrem historischen Entwicklungsprozess und hinsichtlich ihrer heilsgeschichtlichen Dimension als eine notwendigerweise kontinuierlich wandernde Kirche, als eine "ecclesia semper migranda".

Von der Katholizität eingeholt

So sehr die Migration die unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung der Kirche und ihrer Katholi- zität bildete, brachte sie immer wieder aufs Neue auch die Herausforderung mit sich, sich die Rechenschaft über das eigene – katholische – Selbstverständ- nis zu geben. Denn das Leben in soziokulturell neuen oder in sozio-kulturell sich tief wandelnden Lebenskontexten bedeutet für die Religionsgemeinschaften, wie eingangs gesagt, zugleich eine Anfrage an ihr jeweiliges Selbstverständnis. Ein Blick auf die Geschichte des Begriffes Katholizität zeigt, dass dieses Konzept im Laufe der Kirchengeschichte unter gegebenen soziopolitischen Bedingungen unterschiedlich reflektiert und bestimmt wurde. Während im 2. Jahrhundert noch die Aspekte der rechten Lehre (Orthodoxie) die Definition des Begriffes bestimmten, gewinnen ab dem 4. Jahrhundert, d. h. nach der Anerkennung des Christentums als römische Reichsreligion, zunehmend die geografischen Aspekte an Gewicht (katholisch als universal entsprechend der geografischen Ausdehnung des römischen Reiches).

Einen einschneidenden Wandel im Verständnis der Katholizität brachte die Reformation mit sich. Die Katholizität erhielt zunehmend eine juridische Färbung und wurde als Bezugnahme auf die Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom definiert. Dieser juridische Aspekt wurde im 19. Jahrhundert infolge der sich ausbreitenden Nationalismen in Europa nochmals verstärkt.5

Wie lassen sich nun die Migration und die in ihrem Gefolge entstandene kulturelle und sprachliche Vielfalt innerhalb der katholischen Ortskirchen in der Schweiz vor dem Hintergrund der Katholizität als Urmerkmal der Kirche bewerten? Die Vielfalt, die wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts innerhalb unserer Ortskirchen wahrnehmen und – vielleicht erst zögerlich – als bleibendes Phänomen zu verstehen beginnen, stellt rein kirchenhistorisch betrachtet zweifelsohne ein Novum dar. Stellen wir diese Vielfalt in den heilsgeschichtlichen Gesamtkontext des katholischen Selbstverständnisses der Kirche, so lässt sich auch etwas zugespitzt argumentieren, dass die bislang monokulturell geprägten katholischen Gemeinschaften, sowohl die der Migrantinnen und Migranten als auch die der Alteingesessenen, von jenem katholischen Ur- Charakter eingeholt werden, der für die Anfänge der Kirche wesentlich war: eine Kirche als Lerngemeinschaft und als Ort der Verständigung in Vielfalt.

Brachte die Migration, wie oben ausgeführt, für die Religionsgemeinschaften im Laufe ihrer historischen Entwicklung immer auch die Herausforderung mit sich, das eigene Selbstverständnis neu zu reflektieren, so erwächst aus der migrationsbedingten innerkirchlichen Vielfalt auch für die gesamte Kirche in der Schweiz – d. h. anderssprachige Missionen inklusive – die Herausforderung, die Katholizität neu zu reflektieren und neu zu entdecken. Folgerichtig heisst es in "Erga migrantes": "Die Migrationen bieten den einzelnen Ortskirchen die Gelegenheit, ihre Katholizität zu überprüfen, die nicht nur darin besteht, verschiedene Volksgruppen aufzunehmen, sondern vor allem darin, unter diesen ethnischen Gruppen eine Gemeinschaft herzustellen."6

Die Katholizität unter den Bedingungen der Migration und innerkirchlicher Pluralisierung neu zu entdecken, bedeutet mit anderen Worten, sich jenen Grundsatzfragen zu stellen, die die Migration als Hauptkraft der Veränderung von Gesellschaften und Religionsgemeinschaften immer mit sich brachte: den Fragen nach der Integrationsfähigkeit und Zeitgemässheit bestehender gesellschaftlicher und kirchlicher Strukturen angesichts des tiefgreifenden soziokulturellen Wandels. Welche konkreten Aufgaben sich daraus für die Schweizer Ortskirchen ergeben, dazu einige Überlegungen in der kommenden Ausgabe. 

1 Friedrich Tenbruck: Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Jörg Bergmann u. a. (Hrsg.) Religion und Kultur, (= Sonderheft 33 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Opladen 1993, 42.

2 Martin Baumann / Jörg Stolz (Hrsg.): Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens. Bielefeld 2007, 11.

3 Erga migrantes, Nr.14.

4 Erga migrantes, Nr.12.

5 Peter Steinacker, Die Kennzeichen der Kirche: eine Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität, Berlin– New York 1981.

6 Erga migrantes, Nr. 103.

Samuel M. Behloul

Samuel M. Behloul

Samuel M. Behloul ist Fachleiter Christentum am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) und Titularprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Luzern.