1 Kardinal - 22 Ordensobere - 600 Ordensleute

Die diesjährige Versammlung der Vereinigung der Höhern Ordensobern der Schweiz/VOS im Fokolar-Zentrum Baar vom 22. bis 24. Juni 2015 trug in verschiedener Hinsicht ausserordentliche Züge. Spezialgast war ein Kurienkardinal. Eingebaut war ein überraschend gut besuchter Ordenstag.

Ordenstag mit Rekord

Anlässlich des Jahres der Orden fand am zweiten Tag der VOS-GV ein Ordenstag statt, der alle Rekorde sprengte. Erwartet wurden 100 bis 200 Ordensleute. Angemeldet hatten sich 600, so viele wie noch nie an einem derartigen Anlass … Ein erster Höhepunkt war die Begegnung mit Kardinal João Braz de Aviz. Der Brasilianer steht seit vier Jahren an der Spitze der Ordenskongregation im Vatikan. Er ist dort zuständig für rund eine Million Ordensleute aus 3000 Gemeinschaften, davon 80 Prozent Frauen. Der Kardinal verstand es in der Baarer Pfarrkirche vom ersten Augenblick an, die Herzen aller zu erobern. Öfters gab es Heiterkeit im Raum. "Ich bekam ein völlig neues Bild von einem Kardinal", gestand eine Ordensfrau. Vorgesehen war, dass Kardinal João einen Vortrag hielt über die Beziehung von "alten und neuen Charismen", von Orden/Kongregationen und Bewegungen ("Movimenti"). Wie Papst Franziskus es zu tun pflegt, legte er jedoch das Manuskript beiseite und sprach frei. Dabei betonte er, die beiden Formen von "geweihtem Leben" seien keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung. Er sah für beide eine Zukunft; im Gegensatz zu jenen, die meinen, die alten Orden und Kongregationen würden verschwinden oder die "neuen" seien nur ein Strohfeuer. Beide seien vom Geist Gottes ins Leben gerufen und müssten ihm gehorchen. Wesentlich für die Orden wie für die Bewegungen sei das Gemeinschaftsleben, mahnte der Redner: "Die Begegnung mit den andern ist wichtig." Leider sei heute die "Krankheit des Individualismus" verbreitet, auch in den Gemeinschaften. Man würde oft aneinander vorbeileben, ohne den Mitmenschen zu würdigen. Dies geschehe auch im Vatikan.

Der Kardinal befasste sich sodann mit den Beziehungen zwischen der Kirchenleitung und den Orden oder Bewegungen. Sie seien gleich wesentlich für das kirchliche Leben. Gründer wie zum Beispiel Franz von Assisi hätten neue Gemeinschaften initiiert, ohne zuvor den Papst um Erlaubnis zu fragen. Erst nachher hätten sie den Kontakt zur Hierarchie gesucht. Der Dialog hätte dann Klärungen und vielleicht auch Korrekturen gebracht, sodass die Neugründungen mit ihrem Charisma zur Bereicherung für die ganze Kirche wurden. Schliesslich warnte der Gast aus dem Vatikan vor Machtausübung: "Der Obere ist nicht wertvoller als die andern." Und: "Autorität darf nicht autoritär sein." Eine Gefahr sei auch die Macht des Geldes: "Wir sind Kapitalisten geworden und vertrauen mehr auf das Bankkonto als auf die göttliche Vorsehung. Das ist total krank." In der Fragerunde wurde der Kardinal gefragt, ob die Klausur der kontemplativen Schwestern nicht ihr Ordensleben behindere. Es gäbe hier sehr viele recht unterschiedliche Formen. Immer aber gelte: "Wenn die Klausur den Schwestern nicht hilft, Gott näher zu kommen, ist sie ein Gefängnis …"

Zeugnisse und ein indischer Tanz

Nach dem Mittagessen – u. a. im Innenhof des Fokolarzentrums – fuhren die 600 Ordensleute in Cars nach Sachseln an das Grab von Bruder Klaus. Weil auch Mitglieder von nichtkatholischen Gemeinschaften zum Gottesdienst eingeladen waren, verzichteten die Organisatoren auf eine Eucharistiefeier. Ein wichtiges Element der ökumenischen Feier waren persönliche Zeugnisse in drei Landessprachen. Gleich am Anfang war von einem fruchtbaren Miteinander einer "alten" mit einer "neuen" Gemeinschaft zu erfahren. Schwester Anna Benedicta, Dominikanerin von Bethanien, und Schwester Mirjam von der Gemeinschaft Chemin Neuf berichteten über ihre, seit drei Jahren bestehende gelungene Allianz. Die erste Gemeinschaft wurde vor 150 Jahren gegründet, die zweite erst vor 40. Diese widmet sich den Anliegen der Einheit und Versöhnung zwischen Konfessionen und Ländern. Als die Dominikanerinnen in St. Niklausen (OW) immer mehr Mühe hatten, aus personellen und finanziellen Gründen ihr Gästehaus weiterzuführen, suchten sie in Frankreich nach Partnern. So entstand der Kontakt mit Chemin Neuf: "Es begann ein gemeinsamer Weg des Kennenlernens, der wachsenden Wertschätzung und der Freundschaft." Die beiden Gemeinschaften arbeiteten eine Vereinbarung aus mit konkreten Abmachungen, die das tägliche Leben und die Finanzen betreffen, aber auch spirituelle Dimensionen zum Inhalt haben. Sodann erzählte der junge indische Kapuziner Rakesh Meregu, der im Kloster Mels lebt, wie er im Rahmen der "internationalen personellen Solidarität" seines Ordens mit einem Dutzend Brüdern in die Schweiz gekommen ist. Er fasste seine Erfahrungen und Entwicklungen zusammen:

  • "Als Fremder bin ich hierhin gekommen, aber ich bin Freund geworden.
  • Mit Angst bin ich hierhin gekommen, aber ich bin mutig geworden.
  • Mit Heimweh bin ich hierhin gekommen, aber die Schweiz ist meine Heimat geworden.
  • Traurig bin ich hierhin gekommen, aber hier bin sehr glücklich geworden.
  • In eine fremde Kultur bin ich gekommen, aber sie ist meine Kultur geworden.
  • Als Ausländer bin ich gekommen, aber jetzt bin ich Inländer geworden."

Im Anschluss an dieses Zeugnis begeisterte der Mitbruder von Rakesh, Sleeva Raju Chinnabathini, durch einen indischen Tanz.

Zusammenarbeit in Afghanistan

Es folgte ein Bericht von Bruder Reto von der evangelischen Bruderschaft Christusträger, die am Thunersee ein Haus für Retraiten unterhält. Die Gemeinschaft entstand 1961 aus einem Jugendkreis heraus. Bruder Reto war 1972 bis 2008 in Afghanistan auf einer der Gemeinschaft gehörenden Leprastation als Krankenpfleger tätig. Schon früh begann in Kabul die Zusammenarbeit mit den Kleinen Schwestern Jesu: "Wir haben schnell festgestellt, dass wir das ‹Heu auf der selben Bühne› haben – wenn’s auch nicht derselbe Heuhaufen ist." Über die Zusammenarbeit in Afghanistan, die bis heute andauert, bemerkte Bruder Reto weiter: "Für mich – für uns Brüder – ist es wichtig, dass wir den Weg Christi in Afghanistan gemeinsam gehen können. Wir haben täglich das ermutigende Zeugnis der Kleinen Schwestern vor Augen, die ihren selbstlosen Dienst mitten unter den Armen tun – aber die Schwestern sagen es genauso: Wo wären sie, wenn die Brüder nicht hier wären? In der desolaten und schwierigen Umwelt Kabuls – zwischen den Mühlsteinen von Krieg und Terror – erleben wir den Wert der tief fundierten Gemeinsamkeiten. Deshalb können wir Zeichen der Liebe, der Freude, des Friedens und der Hoffnung sein und bleiben."

Das nächste Zeugnis stammte von Werner Weiss von der Communität Don Camillo, einer reformierten Familiengemeinschaft mit Niederlassungen in Basel, Berlin, Bern und am Communitätssitz in Montmirail, Neuchâtel. Er erzählte zunächst, woher der Name kommt, der zu einer katholischen Priestergemeinschaft passen würde: "Weil der Priester Don Camillo ein inniges Gespräch mit Christus pflegte und weil er seine Mitmenschen liebte, bedienen wir uns gerne seines Namens." Ehepaare, Familien, Einzelstehende wagen verbindliches kommunitäres Leben in der evangelisch-reformierten Kirche. Das Stundengebet, erlernt bei den Benediktinern in Mariastein, prägt den Alltag. Es wird Abendmahl gefeiert. Die Mitglieder der Gemeinschaft teilen ihr Einkommen und leben aus einer gemeinsamen Haushaltkasse.

Kathrin Reusser, eine reformierte Frau aus dem Kanton Bern, stellte sodann die Fokolar-Bewegung vor: "In all unserer Verschiedenheit verbindet uns in der Gemeinschaft das Leben nach den Worten Jesu:

  • Insbesondere sein Gebet: "Vater gib, dass alle eins seien, wie wir (Joh. 17,23)."
  • sein neues Gebot: "Liebt einander, wie ich euch geliebt habe."
  • und schliesslich sein Schrei am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", durch den er für uns zum Schlüssel der Einheit mit Gott und auch zwischen uns Menschen geworden ist.

Schliesslich stellten Roberta Asnaghi von den Suore Infermiere dell’Addolorata und Adrienne Barraz von der Communauté des Soeurs de Saint- Maurice ihre Spiritualitäten vor.

Orden – Bewegungen

Zurück zum ersten Halbtag der Baarer Versammlung, welcher der Frage gewidmet war: "Alte und neue Charismen: Konkurrenz oder Bereicherung?" In einer ersten Runde stellten sich Mitglieder von Orden/Kongregationen und Bewegungen vor: Benediktiner (von Disentis), Jesuiten und Ingenbohler Schwestern auf der einen Seite, auf der andern Seite Comunione e Liberazione, Chemin Neuf und Eucharistein. (Leider fehlt uns hier der Platz, darauf einzugehen.) Das darauf folgende Gespräch der sechs Repräsentanten untereinander und mit dem Publikum brachte eine Überraschung: Die Konfrontation der beiden Richtungen blieb aus. "Noch vor zehn Jahren hätte es anders getönt", meinten manche.

Unter der Gesprächsleitung von Beatrix Ledergerber- Baumer, Redaktorin des Zürcher Pfarrblattes "Forum", wurde immer wieder davor gewarnt, "Alte" und "Neue" gegeneinander auszuspielen. Beide dürften sich über die neuen Berufungen der andern freuen. Auch in den Orden und Kongregationen gäbe es tolle Aufbrüche, während in den Bewegungen nicht alles zukunftsfähig sei. Und niemand solle für sich den Anspruch erheben, allein "der richtige Christ zu sein". Berichtet wurden von gegenseitig bereichernden Dialogen und von erfolgreichen Formen der Zusammenarbeit, etwa zwischen Bethanien und Chemin Neuf (s. o.). Ein anderes Beispiel: Nach dem Weltjugendtag 1997 in Paris wandten sich Jugendliche an die Benediktiner von Disentis mit der Bitte, ähnliche Erlebnisse in der Schweiz zu ermöglichen. Die Mönche waren damit überfordert und suchten die Mithilfe der neuen Bewegungen. Beiden zusammen gelang und gelingt es, Veranstaltungen zu organisieren, die für junge Menschen tiefe religiöse Erfahrungen ermöglichen. Weiter wurde bemerkt, neue Formen des "geweihten Lebens" seien oft eine Anfrage an die bestehenden und eine Korrektur. Doch auch traditionelle wie das Mönchtum hätten die Chance, in einer veränderten Welt weiterzubestehen. Allerdings: "Gott hat seiner Kirche, aber nicht jeder kirchlichen Gemeinschaft die Verheissung gegeben, sie werde nicht untergehen." Am Schluss des ersten Abends stellten sich während einer Stunde zehn Mitglieder der gastgebenden Fo kolar-Gemeinschaft – "der ältesten Bewegung" – der VOS vor. Unter der Schar war ein kleines Kind als wohl jüngster Teilnehmer einer solchen Ordensversammlung. Also auch dies ein Rekord!

Begegnungen mit dem Kardinal

Highlights der diesjährigen VOS-Mitgliederversammlung waren auch für die Obern die Begegnungen mit Kardinal João Braz de Aviz, der schon auf der Fahrt von Kloten nach Baar gewünscht hatte, nicht mit Eminenz angesprochen zu werden. Mit einem Holzkreuz über dem ärmellosen Hemd sass er als Bruder unter Brüdern mitten in der Versammlung. Ein sichtbares Zeichen dafür, dass im Vatikan unter Papst Franziskus ein neuer Wind weht! Der Papst, so betonte der Kardinal, habe als Ordensmann sehr konkrete Vorstellungen von einer Reform des Ordenslebens. So wünscht er, dass das Dekret "Mutuae relationes" über die Beziehungen zwischen Orden und Diözesen neu geschrieben werde. So müsste das Verhältnis von Hierarchie und Charismen überdacht werden: "Aus beiden spricht der Geist Gottes." Auch viele Probleme im finanziellen Bereich und in jenem der Güterverwaltung müssten neu geregelt werden. Mit Betroffenheit war sodann zu erfahren, dass die Religiosenkongregation jährlich rund 3000 Austritte von Ordensleuten zu behandeln hat. Viele würden ihre Gemeinschaft schon nach zwei bis drei Jahren wieder verlassen. Darum müsste die Funktion der Gelübde überdacht werden, war aus der Mitte der Versammlung zu hören.

Zeugnis für das Reich Gottes

Der letzte Tag der Baarer VOS-Versammlung war den Vereinsgeschäften gewidmet. Doch zuerst zogen die 22 Äbte und Provinziale eine kurze Bilanz des vorausgegangenen Ordenstags. "Wir haben uns für unsere Präsenz in der Schweiz nicht zu schämen", hiess es dabei in Erinnerung an das Bild, das sich der Baarer Bevölkerung gezeigt hatte. Eine frohe Schar sehr unterschiedlich gekleideter Ordensfrauen und -männer war frohgemut durch die Gassen des Zuger Dorfes spaziert. Eine Folgerung mit Blick auf die Zukunft: "Wenn die Orden enger zusammenarbeiten, gelingt es ihnen, auch in der modernen Welt Zeugnis abzulegen für das Reich Gottes." Und: "Wenn wir gemeinsam auf dem Weg sind, werden wir in der Gesellschaft sichtbar." Bei dieser optimistischen Einschätzung spiegelte sich auch das Votum wider, mit dem Kardinal João den Ordensleuten Mut gemacht hatte, sich auch bei abnehmenden Mitgliederzahlen der Gegenwart zu stellen und hoffnungsvoll die Zukunft anzugehen. Peter von Sury, der Abt von Mariastein, konnte als VOS-Präsident mit besonderer Freude den Tessiner Bischof Valerio Lazzeri begrüssen, der als Nachfolger des zurückgetretenen Basler Weihbischofs Martin Gächter in der Bischofskonferenz das Ressort Orden innehat. Er dankte ihm auch für die akzentfreie französische Predigt in der Morgenmesse.

Ordensmänner wurden Bischöfe

Der Abt von Mariastein erinnerte in seinem Jahresrückblick daran, dass kurz nach der letzten GV ein Mitglied des Vorstandes "verloren ging": Der Obere der Chorherren vom Grossen St. Bernhard, Jean-Marie Lovey, wurde zum Bischof von Sitten ernannt. Dazu von Sury: "Einmal mehr haben sich die Orden als eine Personalreserve erwiesen, auf welche die Kirche gern zurückgreift: in den letzten 25 Jahren Amédée Grab, Peter Henrici, Paul Vollmar, Marian Eleganti, Charles Morerod und nun auch Jean-Marie Lovey." Der Abt fügte die kritische Frage hinzu: "Ist das unser ‹prophetisches Charisma›, dass wir der Kirche aus der Patsche helfen, sonst aber kaum wahrgenommen werden?"

Sexueller Missbrauch

Ein leidiges Thema, das seit Jahren auf der Traktandenliste von VOS-Versammlungen auftaucht, ist der sexuelle Missbrauch. Nach einer längeren Diskussion fassten dieses Jahr die Äbte und Provinziale die folgenden Beschlüsse: – Für die entsprechende Fachkommission der Bischofskonferenz hat der Vorstand einen Vertreter der Orden zu suchen; – Die Schweizer Orden schaffen kein eigenes Gremium, das als Anlaufstelle für die Opfer funktioniert und die Fälle bearbeitet. Es sollen also keine parallelen Strukturen zu jenen der Diözesen geschaffen werden; – Die VOS beteiligt sich mit 10 000 Franken am Fonds, den die Bischofskonferenz zur Entschädigung der Opfer schafft.

Grössere Gemeinsamkeiten

1991, im Jubiläumsjahr der Eidgenossenschaft, rief die Tagsatzung der Orden den Dachverband aller Ordensvereinigungen ins Leben: die KOVOSS/ CORISS. Um auf dieser Ebene die Zusammenarbeit zu intensiveren, zeigte sich die Notwendigkeit, ein eigenes Sekretariat zu schaffen und diesen Dachverband von einer losen Vereinigung in einen Verein umzuwandeln. Im neuen Statut, das bei dieser Gelegenheit kürzlich geschaffen wurde, werden als wichtige Ziele angegeben: die Förderung der gegenseitigen Solidarität und die Schaffung einer einzigen Ordensobernvereinigung. Kardinal João Braz de Aviz zeigte dafür bei seinem Besuch in Baar eine grosse Offenheit.

Wahlen – Ende des Ordensjahres

Neu in den VOS-Vorstand wurden gewählt: Adrian Willi, Provinzial der Pallottiner und der neue Dominikanerprovinzial Guido Vergauwen, der bereits Ende April Präsident der neu strukturierten KOVOSS/CORISS wurde. Am Schluss der Versammlung gab der Vorstand die – noch nicht definitiven – Pläne bekannt, das Ordensjahr in den Pfarreien zu beenden. Diese sollten die aus ihnen hervorgegangenen Ordensleute zu einer Begegnungsfeier einladen. 

 

 

Walter Ludin

Walter Ludin

Br. Walter Ludin ist Kapuziner und schreibt als Journalist BR für verschiedene Medien. Er lebt im Kloster Wesemlin in Luzern.