Ohne Arbeit geht nichts!

Die einen sollen auf keinen Fall mehr arbeiten dürfen – zumindest nicht mit Kindern –, so will es die Initiative zum Schutz von Kindern gegen pädophile Übergriffe; die andern sollen endlich für ihre Arbeit einen anständigen Lohn bekommen – dies fordert die Mindestlohn-Initiative. Der «Gripen» muss nicht nur wegen der Landesverteidigung gekauft werden, sondern zur Sicherung von Arbeitsplätzen, und schliesslich sollen die Hausarzt-Arbeiten am 18. Mai 2014 geschützt und gefördert werden. Kaum ein Abstimmungssonntag vergeht, ohne dass nicht die Arbeitswelt betroffen ist.

Nicht an vorderster Front

Die Kirchen, die Bischöfe wie auch die meisten ihrer Vertreterinnen und Vertreter stehen bei diesen Abstimmungsfragen nicht an vorderster Front. Die Gründe dafür sind im Einzelnen nachvollziehbar, und doch bleibt eine eigentümliche Distanz zwischen Kirche und Welt, insbesondere zwischen Kirche und Arbeitswelt. Darüber kann auch der 1. Mai als offizieller Feiertag für Josef den Arbeiter nicht hinwegtäuschen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war der 1. Mai ein Erinnerungs- und Festtag der Arbeit. Er wurde mehr oder weniger zufällig, weil an diesem Tag Arbeitsverträge abgeschlossen wurden, in den USA als Protesttag für die Einführung des Acht-Stunden- Arbeitstages gewählt und später zum internationalen Tag der Arbeit bestimmt.

Doch erst 1955 erklärte ihn Papst Pius XII. in einer Ansprache an die Mitglieder der Christlichen Arbeiterverbände Italiens zum Festtag des heiligen Josef und gab in einer Erklärung das «echte christliche Verständnis des 1. Mai» vor: Dieser Tag soll eine «stets wiederkehrende Einladung an die moderne Gesellschaft [werden], das zu vollbringen, was dem sozialen Frieden noch fehlt. Ein christliches Fest also, d. h. ein Tag des Jubels über den greifbaren und fortschreitenden Triumph der christlichen Ideale der grossen Familie der Arbeit» (Soziale Summe Pius XII., Nr. 6059).

Die Arbeitswelt heute

Doch wie sieht diese Arbeitswelt heute aus? Wir sind heute weitgehend eine Dienstleistungsgesellschaft. Arbeiter im ursprünglichen Sinne gibt es kaum mehr, während sich Handwerker als spezialisierte Fachkräfte halten können. Drei Viertel aller Arbeitenden befinden sich in Büros hinter Bildschirmen oder sonst im Dienstleistungssektor, und ohne den Zugang von ausländischen Arbeitenden wäre in unserem Land – und in unseren Kirchen! – kaum mehr etwas zu erreichen. Trotz durchschnittlicher Zunahme des Reallohnes verdienen mehr als 10 Prozent aller Beschäftigten weniger als 4000 Franken pro Monat und gelten als «Tieflohn-Arbeitende», während am andern Ende 10 Prozent über 11 000 Franken pro Monat verdienen. Diese veränderten Arbeitswelten haben einen direkten Einfluss auf die Familienformen, auf die Rollen von Frauen und Männern, auf die Gestaltung von Arbeitszeit und Freizeit und nicht zuletzt auf die Erwerbslosigkeit. An der Arbeitswelt hängt aber auch unser System der sozialen Sicherheit, und bis heute verbinden Menschen mit Arbeit die Strukturierung der Zeit und Sinnfragen. Wenn Arbeitende sich also über den Zeitdruck beklagen, von der Behandlung als «Ware» und «Kostenfaktoren » bei «Umstrukturierungen» erzählen, unter beinahe unerreichbaren Zielen leiden und immer wieder die Angst erwähnen, bei Widerspruch die Stelle zu verlieren, dann ist der Wunsch von Papst Pius XII. auch in diesem Jahr fern der Realität.

Ja, selbst uns als Kirchen gelingt es (zu) häufig nicht, die Ziele einer christlich geprägten Arbeitswelt umzusetzen, und wir haben einige Mühe, Ziele zu formulieren oder Instrumente etwa im Bereich der Personalführung mit unseren eigenen Wertgrundlagen zusammenzubringen und Forderungen unserer eigenen Soziallehre umzusetzen. Und so gilt der Gedanke, den Papst Pius XII. 1955 bei der Einsetzung des 1. Mai als Fest des hl. Josef über die Rolle der Kirche in der Gesellschaft gemacht hatte, heute in erster Linie für die Kirche und ihre eigenen Aussagen zur Arbeit: «Der Einsatz der christlichen Kräfte im öffentlichen Leben besagt also ganz gewiss, gute Gesetze und zeitgemässe Einrichtungen voranzutreiben. Aber er besagt noch mehr die Sorge dafür, dass die Herrschaft der hohlen Phrase und der täuschenden Versprechungen gebannt werde und der einfache Mann sich in seinen rechtmässigen Forderungen und Erwartungen gestützt fühle. Man muss eine öffentliche Meinung schaffen, die ohne skandalsüchtig zu sein, mutig und offen auf Personen und Verhältnisse hinweist, die den guten Gesetzen und Einrichtungen nicht entsprechen oder wirkliche Zustände in unehrlicher Weise verbergen» (Nr. 6056).

Ernüchterung

Ja, mein Eindruck ist ernüchternd, und ich sehe uns als Kirche weit weg von der alltäglichen Erfahrung vieler Menschen gerade in der Arbeitswelt. Kein Wunder, dass vielleicht noch mehr Menschen von uns als Kirche auch keine öffentliche Meinung zu diesen Fragen mehr erwarten. Doch nun ist es auch so, dass uns die Sätze von Pius XII., der 1. Mai als Fest des hl. Josef und unser christliches Selbstverständnis auf direktem Weg zurück in diese (Arbeits-)Welt drängen. Auch die Forderungen und Gedanken unser eigenen Botschaft zur sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung (vgl. «Wort der Kirchen», 2001) verweisen uns immer wieder zurück in diese Welt. Die alles entscheidende Frage ist also:

Wie der Welt begegnen?

Mit seinen ersten Worten «Buona sera» vor gut einem Jahr hat Papst Franziskus einen Weg aufgezeigt. Zur Welt kommen wir nicht im Rezitieren von Glaubenssätzen, im Verkünden von mehr oder weniger ewigen Wahrheiten und im Erheben des moralischen Zeigefingers. Nein, der Zugang zur Welt ist zuerst und vor allem eine freundliche Begrüssung, die Menschen anspricht. Wer in der Folge «Evangelii gaudium» liest, ist ja zu Recht nicht darüber erstaunt, dass keine neuen Dinge aufscheinen, sondern dass der Papst wohltuend ein paar Dinge in den richtigen Zusammenhang rückt.

Auch hier ist er nicht der erste, der solches tut, aber mit «Buona sera» hat er die Ohren von uns Menschen geöffnet, dass wir nicht nur anders hinhören können, sondern auch zu erzählen wagen. Zu Recht ermahnt der Papst uns Kirchenmitarbeitende, dass christlicher Glaube und Freude eng zusammengehören. Nicht Stellen gilt es zu schaffen, sondern Kontakte! Wir dürfen uns berühren lassen von der Welt, in der wir leben – ohne gleich Lösungen oder moralische Wertungen präsentieren zu müssen. Mit der Umfrage zu den Familienfragen hat der Papst gleich selbst damit begonnen, mit dem Kontakt zu den Menschen in ihrer Arbeitswelt dürfen wir weiterfahren. Dann werden wir erfahren, wo uns die Menschen selber auf die Sprünge helfen, wie wir unsere Botschaft einbringen können, dann werden wir aus dem Innern heraus merken, welche Verhältnisse wir ansprechen müssen, damit es nicht hohl tönt, und wo wir glaubwürdig uns für die benachteiligte Frau und den nicht ernst genommenen Mann in der Arbeitswelt einsetzen müssen. «Primerear» – die Initiative ergreifen – ist dann nicht einfach ein neues lateinisches Wort, das der Papst in «Evangelii gaudium» «erfunden» hat, sondern tatsächlich der Anfang einer aufbrechenden Kirche. Die Arbeitswelt wartet darauf.

 


Thomas Wallimann-Sasaki

Dr. Thomas Wallimann-Sasaki (Jg. 1965) studierte Theologie in Chur, Paris, Berkeley (USA) und Luzern, wo er bei Hans Halter promovierte. Seit 1999 leitet er ethik22: Institut für Sozialethik (vormals Sozialinstitut der KAB). Er ist Präsident ad interim von Justitia et Pax.