Ökospiritualität

Seit Juni 2019 haben Fastenopfer und Brot für alle eine neue Form der Sensibilisierungsarbeit eingeführt, einen Zukunftsraum – die «Zukunftswerkstatt Wandel».

Aspekte des Wandels nach Wilber/Egger verbunden mit der aktuellen Angebotspalette der Zukunftswerkstatt Wandel.

 

«Niemand hungert, weil wir zu viel essen, sondern weil wir zu wenig denken», hiess einmal ein Slogan einer Fastenkampagne. Die «Zukunftswerkstatt Wandel» will Raum sein zum Denken und dadurch Veränderungsprozesse bei einzelnen Menschen und Gemeinschaften anstossen – und dies ganzheitlich.

Zwei Eigenschaften charakterisieren die «Zukunftswerkstatt Wandel»: Erstens ist ihr Wirken nicht auf die Fastenzeit beschränkt; die Angebote laufen über das ganze Jahr. Zweitens wollen sich in ihrem Wirken innerer Wandel und Spiritualität, politisches Empowerment und Lebensstilfragen gegenseitig befruchten, so wie auch in der Befreiungstheologie Spiritualität Emanzipationsprozesse durchdringt. Seit der Gründung von Fastenopfer gehört es zu dessen Selbstverständnis, dass seine Arbeit inspiriert ist von der kirchlichen Soziallehre und christlicher Spiritualität.

Veränderungsprozesse erforderlich

Die «Zukunftswerkstatt Wandel» zielt auf einen tiefgreifenden, ganzheitlichen bzw. systemischen Wandel hin. Die gegenwärtige Zeit ist in manchen Bereichen gekennzeichnet durch ein Zerbröseln von Systemen. Wirtschaft, Ökologie, Demokratie und die spirituelle Orientierung sind davon betroffen. Es macht keinen Sinn, diese Probleme voneinander getrennt lösen zu wollen, denn sie haben miteinander zu tun. Veränderungsprozesse sind erforderlich bei jeder einzelnen Person als auch in der gesamten Gesellschaft. Ken Wilber und Michel Egger – Letzterer ist in der Westschweiz für das französischsprachige Pendant der Zukunftswerkstatt von Brot für alle und Fastenopfer verantwortlich – legen Wert darauf, dass dieser notwendige systemische Wandel auch eine innere, spirituelle Dimension hat.1 Aus diesen beiden Prämissen ergeben sich die vier Felder (siehe Abbildung): links/rechts bedeutet innen/aussen, während oben/unten Individuum/Gemeinschaft meint. Diese vier Handlungsfelder entsprechen den Tätigkeitsfeldern der Zukunftswerkstatt: Lebensstil, Politik, Kultur und Spiritualität.

Neuen Lebensstil entwickeln

Flaggschiff der Zukunftswerkstatt Wandel sind die «KlimaGespräche». Fastenopfer lancierte diese Workshops zu Beginn des Jahres 2020 zusammen mit Brot für alle. Die «KlimaGespräche» bestehen aus Workshops an sechs Abenden und ermöglichen es im Folgenden Einzelpersonen, ihren CO2-Fussabdruck durch Wissen und Bewusstsein zu verkleinern. Gut 150 Personen haben bisher teilgenommen. Für 2021 sind 40 «KlimaGespräche» geplant. Überall, wo acht bis zehn Personen bereit sind, sich auf das Thema einzulassen, können sie angeboten werden.2 Hier bietet sich die Chance, Veränderung unmittelbar zu beginnen, ohne auf die Politik warten zu müssen.

Politisches Engagement

Wer sich mit seinem persönlichen CO2-Fussabdruck auseinandersetzt, merkt bald einmal, dass er/sie als Individuum damit an Grenzen kommt, da wir Einzelnen es nicht schaffen, die Schweiz klimaneutral zu machen. Initiativen aus der Zivilgesellschaft haben für strukturelle Veränderungen und verbindliche Regeln deutlich mehr Wirkung. Ohne den Druck der Zivilgesellschaft, die grosse Demo von Bern und den Protest der Klimajugend hätten wir bis heute kein halbwegs vernünftiges CO2-Gesetz. Und kaum ist es verfasst und beschlossen, ergreifen einige Konzerne und Verbände das Referendum. Schon wieder braucht es politisches Engagement, um der Klimagerechtigkeit eine Chance zu geben.

Mit «Laudato si'» zu einer neuen Kultur

Papst Franziskus ist es mit seiner Enzyklika «Laudato si‘ – Über die Sorge für das gemeinsame Haus» gelungen, zum Auftakt der Agenda 2030 und der Pariser Klimabeschlüsse (2015) ein neues Narrativ ökologisch-sozialen Wandels zu setzen. Ein Narrativ, das inneren und äusseren, individuellen und kollektiven Wandel zusammen denkt. Dieses wird von sehr vielen Menschen mit oder ohne Beziehung zu Kirche und Glaube geteilt. Bei Tagungen wollen wir uns dieses Narrativ näher ansehen und Alternativen in den Blick nehmen, die den Wandel hin zu Klima- und sozialer Gerechtigkeit ebnen.

Papst Franziskus ruft in seiner Enzyklika «Laudato si‘» dazu auf, mit allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten, um die gewaltigen Herausforderungen, die auf uns zukommen, zu stemmen.

Terry Patten befasst sich in seinem neuen Werk mit dem «Grossen Wandel» und formuliert die Vision, dass an immer mehr Orten tiefe Freundschaften und starke Allianzen entstehen, mit denen sich eine engere Zusammenarbeit auf neuen Ebenen der Gemeinschaft ergeben.3 Diese nennt er «We-Spaces», die dazu dienen, «ein intersubjektives Erwachen einer Intelligenz höherer Ordnung»4 zu ermöglichen. Dafür sei es nötig, dass wir alle unsere Traditionen nutzten, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern. Für ihn ist klar, dass wichtige öffentliche Gespräche nicht fruchtbar als «Debatten» geführt werden können. Besser geeignet sind sogenannte generative Dialoge, die kollektive Weisheit hervorbringen. Bei Fastenopfer arbeiteten wir anlässlich einer internen Weiterbildung zum Beispiel mit Geschichten-Schreibworkshops, um retrospektiv und mit viel Fantasie zu schauen, wie wir es geschafft haben, bis 2040 das Recht auf Nahrung für alle Menschen realisiert zu haben. Klar ist, dass sich durch solche neuen Methoden die Realität nicht einfach schlagartig verändern lässt. Aber durch methodisch gezielte Einfühlung in eine gewünschte Zukunft entstehen neue Kreativität und konkrete Ideen, die für den gewünschten Wandel fruchtbar sind. Es wird quasi vom Ende her gedacht.

Ein weiteres Kennzeichen der neuen Arbeitsweise liegt darin, dass nach einer Problemanalyse und der Formulierung einer gewünschten Zielsetzung nicht nach der einzig richtigen Lösung gesucht wird. Ist eine Lösungsidee gut und sicher genug, wird sie mittels eines Prototypen ausprobiert. 2020 lancierte die «Zukunftswerkstatt Wandel» auf diese Weise erste Webinare und Workshops zum Thema Ökospiritualität.

Ethik und Spiritualität

In seinem Werk «Prinzip Nachhaltigkeit» beschreibt Markus Vogt die grosse Bedeutung, die der Spiritualität für die Ethik ganz allgemein zukommt.5 Sie helfe, dass die als richtig eingesehenen Wahrheiten nicht nur geglaubt, sondern auch tatsächlich gelebt würden. Jede christliche Spiritualität – sei sie franziskanisch, ignatianisch oder benediktinisch – sei eigentlich Schöpfungsspiritualität und zeichne sich durch drei Aspekte aus:

  1. Sie führe zu Achtsamkeit und Ehrfurcht,
  2. zu Masshaltung im Rhythmus der Schöpfung und
  3. zu Kreativität in der Würde des Mitschöpferseins. Diese Aspekte eignen sich meiner Meinung nach gut als Kriterien, an denen sich Schöpfungsspiritualität (oder Ökospiritualität) zu messen hat.

Ein wichtiger aktueller Referenzautor ist Matthew Fox. Für ihn bedeutet Schöpfungsspiritualität Heilung und Befreiung für die Menschen der «ersten Welt».6 Sie beschränkt sich nicht auf Naturspiritualität oder Pädagogik. Vielmehr sei sie zentral für die Wandlung des Menschen selbst und seiner Beziehungen zu den Mitgeschöpfen. In vier Schritten entfaltet er in seinem Werk «Original Blessing», basierend auf Studien zu Meister Eckhart, Dorothy Day, Dom Helder Camera, Elie Wiesel und Ernesto Cardenal, einen solchen Wandlungsprozess. Dieser beginnt mit der «Via Positiva», der Inspiration durch das Wunder der Schöpfung, und wird gefolgt von der «Via Negativa», bei der es um die Öffnung gegenüber dem Schmerz geht. Der Schmerz helfe den Menschen, ihre Mitmenschen, die leiden, besser zu verstehen und habe eine belebende Wirkung.7 Der dritte Schritt ist die «Via Creativa», die ein Geburtsgeschehen meint. Dunkelheit sei dessen Ursprung von allem, aber auch Freude und Vergnügen.8 Der letzte Schritt ist die «Via Transformativa»; bei dieser geht es darum, alle menschlichen Erfahrungen unter Anrufung des Heiligen Geistes zu wandeln. Das Konzept von Matthew Fox verdiente es, breiter in Erinnerung gerufen zu werden. An dieser Stelle wird darauf verwiesen, weil viele Verbindungen zur «travail qui relie/ Arbeit, die verbindet» bestehen. Die genannte Arbeit von Joanna Macy9 ist Teil der Ökospiritualitätsangebote der «Zukunftswerkstatt Wandel» von Fastenopfer.10

Terry Patten hat darauf verwiesen, dass der «Grosse Wandel» nur gelingen kann, wenn die hellsten Köpfe dieser Erde das Wissen der Traditionen, aus denen sie ihre Weisheit schöpfen, in den Diskurs einbringen. Schöpfungstheologie oder Ökospiritualität haben das Potenzial, mit welchem die Kirchen und ihre Werke einen wichtigen Beitrag als «Change agents» leisten können.

Daniel Wiederkehr

 

1 Michel Egger hat die 4 Quadranten der Integralen Theorie von Ken Wilber, dem Begründer des «Integral Institute» auf den Wandel adaptiert.

2 www.sehen-und-handeln.ch/klimagespraeche

3 Vgl. Patten, Terry, Eine neue Republik des Herzens, Frankfurt a. M. 2019.

4 Patten, Terry, 329.

5 Vgl. Vogt, Markus, Prinzip Nachhaltigkeit, München 32013, 279–290.

6 Fox, Matthew, Schöpfungsspiritualität, Stuttgart 1993.

7 Fox, Matthew, Original Blessing, New York 22000, 143.

8 Fox, Matthew, ebd., 175. Wörtlich: «All creation is ex nihilo, out of nothing. […] Darkness is the origin of everything, that is born, […] but creativity is also born of pleasure and delight.»

9 Vgl. Macy, Joanna / Johnstone, Chris, Hoffnung durch Handeln, Parderborn 2014.

10 https://sehen-und-handeln.ch/zukunftswerkstatt

 


Daniel Wiederkehr

Dr. theol. Daniel Wiederkehr (Jg. 1960) ist promovierter Theologe und hat einen Master in christlicher Spiritualität. Bei Fastenopfer ist er für die «Zukunftswerkstatt Wandel» und die «KlimaGespräche» verantwortlich.