Nox sacratissima - Hochheiligste Nacht

Finsternis und Todesschatten

Im Verständnis der Antike erstreckt sich der Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Das ist die einzige Zeitspanne, in der der Mensch seinen Aufgaben nachgehen kann. Selbst Jesus wird im Rahmen einer Heilungserzählung in den Mund gelegt: "Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann" (Joh 9,4). Am Tag stehen dem Menschen Wärme und Licht zur Verfügung, er kann auch Gefahren rechtzeitig erkennen. Anders die Nacht. Die Nacht ist die Zeitspanne ohne Wärme und Licht, in der das Leben gleichsam stillsteht und die als bedrohlich erlebt wird. Die Nacht ist der Urgrund unliebsamer Überraschungen: "Wer in die Finsternis geht, weiss nicht, wohin er gerät" (Joh 12,35). Es ist die Zeit der Finsternis und der Todesschatten (Lk 1,79) und die Zeit, als der Herr verraten wurde und in die Judas hinausging (Joh 13,20; 1 Kor 11, 24; Lk 22,53). Es ist die Zeit, von der man nur hoffen kann, dass sie schon weit vorgerückt ist und deshalb der Tag bereits naht (Röm 13,12).

"… ist uns das wahre Licht aufgestrahlt"

"Nox sacratissima" nennt die Kirche die Nacht, die bald wieder sein wird. "Stille Nacht, heilige Nacht" wird dann allerorts gesungen. Im Tagesgebet der Christmette wird es heissen: "Herr, unser Gott, in dieser hochheiligen Nacht ist uns das wahre Licht aufgestrahlt" (Messbuch 40). Der Heilige Geist – so Lukas – erfüllte Zacharias, den Vater Johannes des Täufers, so dass er vorausblickend lobpreisen konnte: "Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens" (Lk 1,78 f.). Diese Nacht, in der Gott Mensch wird, ist dann nicht mehr die bedrohliche, Angst machende, sondern die Nacht wird zu der Zeit, in der der Bräutigam kommt (Mt 25,6). Wenn das Fest der Menschwerdung des Wortes im Deutschen Weihnachten genannt wird, dann ist dies auch das Echo der Liturgie. Es ist eine Weihenacht, eine Nacht, die die Menschen mit dem Heil Gottes in Berührung bringt. Dann ist die Nacht nicht mehr die Unheilnacht, sondern die Nacht, als der Sohn Gottes in sein Eigentum kam und die Engel auf dem Felde den Hirten verkündeten: "Fürchtet euch nicht (…). Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr" (Lk 2,10).

Weihenächte

Im Kreislauf der Feste des Jahres gibt es nur noch ein einziges weiteres Fest, dessen Mysterium in der Nacht zu feiern begonnen wird: Das ist die Osternacht, die "vigilia vigiliarum", die Nacht der Nächte, oder wie Augustinus sagt: die "mater omnia vigiliarum" (Serm 219). In der Rangordnung steht die Weihenacht von Ostern also noch über der Weihenacht der Geburt des Messias. Die Weihenacht der Geburt ist der Beginn der Erlösung, die sich in der Weihenacht von Ostern vollendet. Alle anderen Feste hingegen – Pfingsten, Himmelfahrt oder Epiphanie – sind Feste des Tages, nicht der Nacht.

Dem Fest der Geburt des Messias und dem Fest von Tod und Auferstehung Jesu Christi gemeinsam ist, dass sie die Christinnen und Christen immer wieder neu in den Anfang der Erlösung stellen. Gemeinsam verheissen sie – so schrieb Karl Rahner in einem kleinen Beitrag – "den Tag, auf den wir im Glauben warten. Weil sie beide den Anfang des Sieges eines ewigen Tages, zusammen den Sieg eines neuen Anfangs bedeuten, darum sind beide Feiern einer allerheiligsten Nacht" (Rahner, Heilige Nacht 386).

In der einen Nacht ist alle Nacht geheiligt

Wenn die Kirche das Mysterium der Menschwerdung Gottes in der Nacht feiert, ist damit also viel mehr gemeint als nur die stille Verborgenheit des Anfangs eines Menschenlebens. Die Nacht wird heiligste Nacht, weil der Logos in der nächtlichen Zeit geboren wurde, der Sohn also, der von seinem Ursprung her kein Kind der Zeit, des Tages und der Nacht ist. "Weihnacht kann alle Nacht werden, weil er in unsere Zeit hineingeboren wurde und dadurch sie mit aller Verheissung und allen Wundern füllte, weil Gott die leere, arme und finstere Nacht begnadigt und zum Schicksal seines eigenen lichten Tages ohne Abend gemacht hat. Dadurch und nur dadurch ist die Nacht die Verheissung des wahren Tages, nur darum ist sie der Tag, der am Kommen ist, die Zeit, in der das Licht dunkel scheint, weil es in seiner Fülle noch unsagbar nahe beisammen ist" (Rahner, Heilige Nacht, 387 f.). In der einen Nacht ist alle Nacht erlöst. Es gibt keine Finsternis mehr, die nicht das ewige Licht in sich tragen würde. Dies gilt, weil das Wort Gottes sich in die Welt inkarniert hat und damit zum innersten Gesetz aller Natur geworden ist.

Die Nacht als Verheissung der Erlösung

Gott ist in die Nacht gekommen, um die Menschen herauszuführen in seinen ewigen Tag. Deshalb ist die Weihnacht Anfang eines Tages, dessen Sonne nie mehr untergeht. So ist diese Nacht die "nox sacratissima", die die Christin und der Christ feiern kann, weil sie in Christus Kinder des Lichts sind und in die Finsternis schauen können mit der Gewissheit, dass die Nacht durch Gott selbst gewandelt wurde, da er es Weihnachten werden liess.

Und jedes Jahr aufs Neue können die Weihnacht Feiernden mit den Hirten auf dem Feld die frohe Botschaft hören und sich hineinnehmen lassen in das Heil, das mit dem Kommen des Messias für alle Zeit Wirklichkeit geworden ist. 

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Zum Weiterlesen

Karl Rahner: Heilige Nacht, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7: Der betende Christ. Geistliche Schriften und Studien zur Praxis des Glaubens. Bearb. v. Andreas R. Batlogg. Freiburg u. a. 2013, 386–389.

 

 

Birgit Jeggle-Merz (Bild: unilu.ch)

Birgit Jeggle-Merz

Dr. theol. Birgit Jeggle-Merz ist Ordentliche Professorin für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Hochschule Chur und a. o. Professorin in derselben Disziplin an der Universität Luzern.