Bis vor drei Jahren war es bei uns selbstverständlich, sich mit einem Handschlag zu grüssen. Nicht mit Händeschütteln anderen zu begegnen, wurde meistens als Zeichen von Kälte, Distanziertheit und Unfreundlichkeit interpretiert. Die Covid-Pandemie hat dieses Empfinden und damit das soziale Verhalten radikal verändert. Obwohl sich in den letzten Monaten die Situation weitgehend normalisiert hat, ist bei jeder Begrüssung immer noch ein Zögern festzustellen. Wir bleiben unsicher, unsicher im Umgang mit unseren Mitmenschen. Wann können wir uns wieder − wie früher − über menschliche Nähe freuen? Ohne Vorsicht, ohne Bedenken – spontan und herzlich?
Die Geschichte lehrt uns, wie der Mensch aus seinen eigenen Ressourcen und aus seiner Erneuerungsfähigkeit eine Dynamik entwickeln kann, die uns schlussendlich weiterbringt und uns eine Reife, eine Belastbarkeit erlangen lässt, die beständiger und stärker als zuvor ist. Die Psychotherapeuten und Sozialpsychologen würden von Resilienz sprechen. Der Mensch hat immer wieder gezeigt, dass er eine unglaubliche Fähigkeit besitzt, Krisen zu bewältigen. Das Resultat sind oft wegweisende Errungenschaften, in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen. An die äussersten Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht, entwickelt der Mensch nie zuvor erahnte Ressourcen. Sowohl während der Pandemie als auch jetzt − konfrontiert mit dem schrecklichen Aggressionskrieg in der Ukraine − erleben wir Solidaritätsbekundungen, die es erlauben, an das menschliche Potenzial zu glauben.
Resilienz bedarf aber einer Dimension der Ewigkeit. Sie benötigt Transzendenz, um den Menschen wirklich nachhaltig Boden für ihr Leben zu geben. In der neuen Version der «West Side Story» von Steven Spielberg erklärt Tony Maria, dass das «für immer» der Liebe unabhängig davon, ob ein ganzes Leben, ein Jahr, einen Monat, einen Tag oder eine Sekunde dauert, unendliches Glück bedeutet. Wenn alle Anstrengungen, Errungenschaften und Vorwärtsentwicklungen jedoch eine limitierte Existenz hätten, stünde unsere Resilienz auf sehr wackligen Füssen. Sie wäre kraftlos und könnte uns nicht endgültig von der Resignation befreien. In diesem Zusammenhang ist eine neutestamentarische Aussage entscheidend, welche das Zurückkommen Jesu nach seinem Abschied betrifft: «noch eine kurze Zeit» (Joh 16,16). Alle Engpässe, alles, was uns kränkt, endet. Die ersehnte Fülle im Mensch-sein − die Geburt des neuen Menschen – und das nie vergehende Glück enden dagegen in der Vollendung. Der Mensch kann am besten bestehen, wenn er weiss, dass es nur noch «eine kleine Weile» dauert, der Krieg dann beendet sein und Friede herrschen wird. Es geht darum, «noch für eine kurze Zeit» die Hoffnung und das Durchhalten nicht aufzugeben. Wir dürfen darauf vertrauen: «Nur eine kleine Weile» und alles wird gut sein.
+Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur