Nivellierung ethischer Grenzen

Der Druck, sich an der Suizidhilfepraxis zu beteiligen, wächst. Nutzenoptimierung und flexible ethische Entscheidungen werden zu zentralen Prämissen in der ärztlichen Betreuung von Patienten am Lebensende.

Sterben und Tod stellen eine unbestreitbare Lebenserfahrung des Menschen dar. Beides kann sich bereits in Krankheit, Leiden und Schmerz ankündigen. Die Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit fällt jedoch angesichts der massiven Steigerung der mittleren Lebenserwartung um 30 Jahre in den letzten 100 Jahren, aber auch der verbreiteten hedonistischen Lebenseinstellung nicht unbedingt leicht. Die Fortschritte der Medizin haben zu einem Machbarkeitswahn und zu überzogenen Anspruchshaltungen geführt. Verdrängung von Tod und Sterben zeigt sich demzufolge nicht selten im therapeutischen Übereifer.

Aktuelle gesellschaftliche Einstellungen sind von widersprüchlichen Tendenzen geprägt. Es wird hartnäckig über den assistierten Suizid debattiert, wobei Sterbehilfeorganisationen wie Exit und Dignitas durch ihre Medienpräsenz und Lobbyarbeit agieren und mit semantischen Veredelungen wie «Freitod» die Probleme schönreden. Tabuisierungen von Tod und Sterben sind nur scheinbar überwunden. Denn es ist eine Verschiebung der Verdrängungsarbeit auf die existenziellen Nöte am Lebensende und die damit verbundenen Leiden zu beobachten. Angewiesensein auf Hilfe wird mit sinnlosem Leben gleichgesetzt. Damit kontrastieren wiederum banalisierende Darstellungen in den Medien. Der tägliche Tod im Fernsehen hat heute geradezu Unterhaltungswert. Diesen Entwicklungen ist gemeinsam, dass sie zu einer Entfremdung des Menschen vor dem eigenen Sterben führen.

Patienten betreuen, pflegen, behandeln

Die Aufgabe der Medizin am Lebensende ist seit langer Zeit geklärt. Erste Grundlagen wurden schon von der hippokratischen Medizin bereitgestellt: «nil nocere» und «salus aegroti suprema lex» – nicht schaden und das Wohl des Kranken – sind oberstes Gesetz und zentrale Forderungen an den Arzt, auch am Lebensende. Diese Prinzipien sind auch heute noch – allerdings mit zunehmenden Einschränkungen – konsensfähig. So stehen Rettung und Erhaltung von Leben, Linderung von Leiden, Betreuung und Pflege schwer und chronisch Kranker im Vordergrund. Behandlung und Begleitung von Patienten, die mit dem eigenen Sterben konfrontiert sind, ist immer noch eine zentrale Aufgabe der Medizin. Diese Voraussetzungen können heute in den Konzepten der palliativen Medizin und der Hospizbewegung umgesetzt werden.

Druck auf Ärzte wächst

Die Situation hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren erheblich kompliziert, indem zunehmend von einem Paradigma des selbstbestimmten Sterbens die Rede ist. Die voluntas aegroti wird zum obersten Gesetz. Art und Weise sowie Zeitpunkt seines Sterbens soll das autonome Individuum frei bestimmen können. Damit verbunden ist auch ein zunehmender Druck auf Ärzte, sich an der Suizidhilfepraxis der entsprechenden Organisationen zu beteiligen. Konkret geht es um die ärztliche Verschreibung des tödlich wirkenden Mittels Natriumpentothal, das Legen eines venösen Zugangs, allenfalls auch um Begutachtungen der Urteilsfähigkeit im Alter und bei psychischen Störungen.
Als Voraussetzungen für die Suizidbeihilfe werden neben Urteilsfähigkeit immer wieder Unerträglichkeit von Symptomen, Funktionsstörungen und die Wohlerwogenheit des Wunsches erwähnt. Doch sind Definition und Kriterien der Urteilsfähigkeit umstritten, und Begriffe wie unerträglich und wohlerwogen sind dehnbar und subjektiven Beurteilungen unterworfen.

Suizid versus Würde

Suizidbeihilfe und aktive Massnahmen zur Lebensverkürzung werden oft mit der autonomen Selbstbestimmung und einer durch Leiden beeinträchtigten Menschenwürde begründet. Würdiges Sterben bedeutet in diesem Zusammenhang selbstbestimmtes und selbstgestaltetes Sterben.

In medizinethischen Debatten wird die Selbstbestimmung des Menschen meist dominant in den Vordergrund gerückt und verabsolutiert: eine Ideologie der Unabhängigkeit und Autarkie, welche jegliche Vorgaben ablehnt. Bei chronisch Kranken und Sterbenden ist eine solche Auffassung von Autonomie ein Gedankenkonstrukt, das der Realität kaum entspricht. Durch die auferlegte Selbstbestimmung werden vor allem alte Patienten oft überfordert. Als soziales Wesen ist der Mensch gerade in Krankheit und Behinderung vielfältigen Abhängigkeiten ausgesetzt. Angewiesensein gehört nicht weniger zum Wesen und zur Würde des Menschen als die Selbstbestimmung.

Es gibt eine dem Menschen inhärente Würde, die ihm kraft seines Menschseins zukommt und die er demzufolge gar nie verlieren kann. Sie ist auch nicht aufgrund äusserer Umstände relativierbar. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen und seine als absoluter innerer Wert über jeden Preis erhabene Würde stellte schon Immanuel Kant unmissverständlich fest.
Inhärente Menschwürde verträgt somit keine Begründung mit Eigenschaften, Befunden oder äusseren Lebensbedingungen. Sie ist auch dann noch Achtung gebietend, wenn der alte und beeinträchtigte Mensch nichts mehr für sich und seine Mitmenschen leisten kann und demnach anderen «zur Last fällt». Demgegenüber wird oft eine von menschlichen Erfahrungen abhängige (kontingente), relativierbare Menschenwürde ins Spiel gebracht, welche von äusseren Lebensumständen, Lebensqualitäten, Funktionen beeinflusst wird. Aus der inhärenten Menschenwürde resultiert selbstverständlich ein Anspruch auf würdevolle Behandlung. Doch kann diese gerade nicht in der Beseitigung eines Menschen durch aktive Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe bestehen. Denn mit der willentlichen Auslöschung des eigenen Lebens wird gerade die Existenzbedingung seiner Würde vernichtet.

Sedation – ein Weg hin zur Euthanasie?

Eine aktuelle Untersuchung über ärztliche Entscheidungen am Lebensende in der Schweiz ergab auch eine zunehmende Verbreitung der medikamentösen Sedierung. Bei der terminalen oder kontinuierlichen Sedation wird der sterbende Patient in einen schlafähnlichen Zustand versetzt, welcher bis zum Tod andauert. Die Methode ist allerdings umstritten, denn es wird eine heikle Grauzone zur aktiven Sterbehilfe erreicht. Entscheidend ist dabei die Absicht des Behandlungsteams.
Untersuchungen zeigen jedoch erhebliche Unsicherheiten und Ambivalenzen bezüglich Absichtserklärungen. Auch wenn die terminale Sedierung nur bei Sterbenden vorgenommen werden soll, stellen sich prognostische Schwierigkeiten. Denn der Sterbeprozess kann Tage bis Wochen dauern und ist nicht vorhersehbar. Nicht selten wird mit der terminalen Sedierung auch die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr eingestellt. Bei längerer Sedierungsdauer ist die zusätzliche Beschleunigung des Todes offensichtlich.
Die Gesellschaft steht hier leider vor einer Situation, in der eine schleichende Entwicklung zur Euthanasie, der Tötung mit oder ohne Verlangen, nicht ausgeschlossen werden kann. Denn bei der terminalen Sedierung wird es schwierig, übliches medizinisches Handeln von aktiver Lebensbeendigung zu unterscheiden.

Suizidbeihilfe bewusster hinterfragen

Wichtige Akteure im Gesundheitswesen lassen eine zunehmende Liberalisierung betreffend aktiver Massnahmen zur Beschleunigung des Todes zu. Die etablierte Suizidhilfepraxis wird nicht mehr ernsthaft hinterfragt. Das öffentliche Angebot der organisierten Suizidbeihilfe hat dem Selbstmord den Anschein von Normalität verliehen. In der laufenden Revision der Richtlinien (Umgang mit Sterben und Tod) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) will man Suizidhilfemöglichkeiten generell auf Patienten mit Sterbewunsch ausweiten. Eine Nivellierung ethischer Grenzen breitet sich auch unter Ärzten aus. Nutzenoptimierung und flexible moralisch-ethische Entscheidungen stehen daher im Vordergrund. Begriffe wie «Suizidhilfe für Hochbetagte» und «altruistischer Suizid» von Menschen, die nicht mehr zur Last fallen wollen, machen die Runde.

Aber nicht der alte, gebrechliche oder suizidale Mensch muss sich fragen lassen, welchen letzten Dienst er der Gesellschaft erweisen kann, sondern umgekehrt muss die Frage gestellt werden, warum diese Menschen sich als Last empfinden und nicht mehr leben wollen.

Hier sollte eine umfassendere und konsequentere Begleitung von Menschen ins Auge gefasst werden. So muss neben medizinischer Betreuung, der menschlichen Fürsorge und Zuwendung auch die seelsorgliche Begleitung möglich sein: dass auch eine über den Tod hinausgehende Hoffnung besprochen werden kann, angesichts der weit verbreiteten Diesseitsvertröstung. Sterbehilfe heisst dann an der Hand, nicht durch die Hand eines Menschen zu sterben. Denn wer sich getragen weiss, kann vieles leichter ertragen.

Peter Ryser-Düblin

 

 


Peter Ryser-Düblin

Dr. med. Peter Ryser-Düblin (Jg. 1945) studierte in Bern Medizin und bildete sich danach zum Spezialarzt Innere Medizin FMH weiter. Nach dem Führen einer Landarztpraxis wechselte er in die Versicherungsmedizin, zuletzt war er Vertrauensarzt für verschiedene Krankenversicherer. Er ist Vorstandsmitglied von Human Life International Schweiz und der Vereinigung Katholischer Ärzte der Schweiz.

 

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