Niger – Gewalt gegen Frauen

Hier heiraten Mädchen schon mit 12 Jahren

Ein von Armut geprägtes Land

Der Kontinent Afrika ist reich an wertvollen, altüberlieferten Traditionen. Gleichzeitig werden teilweise gefährliche Bräuche befolgt, welche die Würde der Menschen missachten. In vielen Bereichen ist es dringend erforderlich, dass über Ungerechtigkeiten reflektiert und entsprechend gehandelt wird – und dies betrifft insbesondere die Menschenrechte. Not, Hunger und zahlreiche schon lange andauernde regionale und internationale Konflikte stellen diesen Teil der Welt vor gewaltige Herausforderungen, die angepackt werden müssen. Niger ist der Schnittpunkt zwischen Schwarzafrika und Nordafrika. Seine Bevölkerung praktiziert zum grössten Teil einen gemässigten und offenen Islam. Zunehmend bedroht jedoch der Islamismus aus Mali und Nordnigeria das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ethnien. Niger sieht sich seit jeher mit schweren Lebensmittelkrisen konfrontiert, die Jahr für Jahr Tausende Tote fordern. Das Land gehört gemäss Statistiken der UNO zu den ärmsten Staaten der Welt, und es gelingt ihm kaum, die Solidarität der internationalen Gemeinschaft hervorzurufen. In der Region von Maradi an der Grenze zu Nordnigeria – hier liegt die Hochburg der islamistischen Sekte Boko Haram – schrumpfen die Vorräte an Lebensmitteln und Medikamenten. Eine in den letzten Jahren verstärkte Trockenheit macht die Hoffnung der Bevölkerung auf eine ergiebige Ernte, welche die Not etwas lindern könnte, zunichte. Ein grosser Teil der Bauern hat die Ernte dieses Jahres bei reichen Händlern im benachbarten Nigeria verpfändet, um überhaupt überleben zu können.

Gründe für die Armut in Niger

Die knappen Ernten erklären sich zu einem grossen Teil durch Klimaveränderungen: Die Temperatur im Land bewegt sich im Sommer zwischen 40 und 50 Grad. Die Bräuche, die das tägliche Leben bestimmen, behindern das Land in seiner Fähigkeit, sich eigenständig Lebensmittelkrisen zu stellen. Zudem gibt es einen Zusammenhang zwischen den strukturellen Krisen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Entwicklung sowie den internen Konflikten und Machtumstürzen. Der letzte Umsturz fand 2010 statt. Dies verhindert eine aktive Politik, welche die schwerwiegenden Probleme der Bürger in Angriff nimmt. Neben der tiefen Alphabetisierungsrate innerhalb der Bevölkerung von nicht einmal 30 Prozent, wobei es bei den Frauen kaum 15 Prozent sind, gibt es weitere Indikatoren, die bezeichnend für die andauernden Missstände in diversen Branchen sind. Das Phänomen der frühen Heiraten, das in ländlichen Gegenden mehr als 70 Prozent der Mädchen unter 12 Jahren betrifft, ist eines der Merkmale, das am meisten schockiert.

Die Situation der Mädchen in der Gesellschaft in Niger

In der Region Maradi, die ihren Namen nach der zweitgrössten Stadt des Landes trägt, treffen wir mehrere dieser jungen verheirateten Mädchen. Sprachliche Barrieren erschweren den Austausch mit ihnen, und die Kommunikation erfordert grösste Sensibilität: Die Mädchen sind meistens sehr jung – manche sind noch Kinder –, und sie sind sehr verletzlich. Ihre Welt beschränkt sich auf ihr Dorf und die Umgebung. Diesen Mädchen wird jede Öffnung gegenüber der Welt verwehrt. So haben sie keine Gelegenheit, die obligatorische Schulzeit zu absolvieren, sondern sind dazu gezwungen, schon nach vier Jahren ihre Schulbildung abzubrechen. Die Eltern ziehen es vor, ihre Töchter von der Schule zu nehmen. Bei dieser Entscheidung spielt die Armut eine entscheidende Rolle. Sie entmutigt die Eltern, in die Ausbildung ihrer Töchter zu investieren. Ein weiterer Grund ist die Angst vor der Emanzipierung der Frauen. Die wenigen jungen Frauen, welche die Oberstufe abschliessen, sind weder bereit, gemäss den Regeln der Gesellschaft und ihrer Eltern zu heiraten, noch die Polygamie zu akzeptieren. Dies war bei Madina der Fall, die für eine NGO in der Hauptstadt Niamey arbeitet. Sie beschrieb mir ihren Leidensweg, den sie durchmachen musste, da ihr Vater vier Ehefrauen hatte. Sie hat 19 Halbbrüder und -schwestern. Dank ihrem Willen und einer List schaffte sie es, einen anderen Lebensweg einzuschlagen als ihre Schwestern. Sie nutzte das Durcheinander aus, das zu Hause herrschte, und konnte dank der finanziellen Unterstützung einer Tante – ohne dass ihr Vater und seine Frauen davon wussten – ihrem grössten Wunsch nachgehen: die Schule besuchen und studieren.

Zur Heirat gezwungen

Die hohe Anzahl von Kindern treibt die Eltern dazu, ihre Töchter loszuwerden und sie wohlhabenden Männern zur Hochzeit anzubieten. Wohlstand in einem Dorf in Niger bedeutet: Der Besitz eines kleinen und dürren Stück Bodens, dazu einige Kühe, Rinder und Ziegen. Männer, die junge Mädchen heiraten, sind mindestens 40 Jahre alt und haben in ihrem Haushalt bereits zwei oder drei Frauen. In Niger ist die Polygamie ein Zeichen von Reichtum und weit verbreitet. Für Mädchen ist die frühe Heirat der übliche Lebensweg. «Für eine Frau gehört es sich zu heiraten», erklärte mir Osseina, die heute 18 Jahre alt ist. Ihrer Meinung nach ist eine 11-jährige bereits eine Frau. Es ist auch für die Menschen in Niger schwierig, sich dieser verbreiteten Sichtweise zu widersetzen. Eine Ordensschwester, die mich begleitete, erzählte mir vom Fall eines 30-jährigen Mannes, der mit einer 11-Jährigen verheiratet ist. Er wollte einige Jahre warten, bevor er Geschlechtsverkehr mit seiner jungen Ehefrau hat. Dieser Entschluss endete jedoch in der Denunzierung des Mädchens beim Dorfobersten: Sie wollte wissen, ob ihr Ehemann sie nicht liebt oder sogar impotent ist.

In vielen Ländern bezeichnet man die Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind als Pädophilie. Die Männer in Niger wehren sich gegen die Verwendung dieses Begriffs. Aber haben wir das Recht, im Namen von Traditionen oder aus Respekt vor lokalen Bräuchen über diesen Zustand zu schweigen? So führt die Entbindung bei jungen Frauen oft zu zahlreichen Komplikationen, die ihr Leben in Gefahr bringen. Fälle von Gebärmutterhalskrebs sind weit verbreitet. Aufgrund der frühen sexuellen Beziehungen leiden die Mädchen an Inkontinenz und werden deshalb von ihren Ehemännern abgelehnt und aus ihrem Dorf verstossen. Niemand will mit den kranken Mädchen zu tun haben. Das Beispiel von Ibrahim hat mich besonders erschreckt: Dieser Mann präsentierte mir voller Stolz seine drei jungen Frauen. Er erzählte mir, dass er bereits fünfmal verheiratet sei und von zwei jungen Mädchen geschieden. Ibrahim wird im August gerade einmal 32 Jahre alt.

Verlust von traditionellen Werten

Während meiner Reise führt uns Amestan, ein 70-jähriger Tuareg, der für seine Weisheit geschätzt wird und auch uns in den Bann zu ziehen vermochte, durch die schwierigen Pfade, die die Dörfer und Städte verbinden. Für die knapp 60 Kilometer bis in sein Dorf Saé Saboua benötigen wir mit dem Auto über vier Stunden. Die Tuareg bilden in Niger eine wichtige Minderheit von 10 Prozent der Bevölkerung. Amestan betrachtet die Veränderungen, die in den letzten Jahren in seinem Land eingetreten sind, mit Traurigkeit. Er erzählte mir, dass die Traditionen in seinem Land früher anders waren. Junge Mädchen wurden zwar sehr jung zur Heirat versprochen, aber sie wurden nicht weggegeben oder sogar verkauft, wie dies heute der Fall ist. Bis zum 16. Lebensjahr verbrachten sie die Zeit mit den anderen Ehefrauen und wurden im Haus des zukünftigen Ehemanns ausgebildet. Die Mutter des Ehemanns war für das Mädchen verantwortlich und unterstützte sie beim Erwachsenwerden, damit sie später Ehefrau und Mutter werden konnte. Armut und Verzweiflung haben zu Verunsicherung geführt und die Traditionen verdorben.

Verzweifelte Flucht in die Prostitution

In Niger im Allgemeinen und besonders in Dörfern wollen die Mädchen heiraten. Es handelt sich um ein Lebensprojekt, das sie nicht versäumen wollen. Sie haben auch keine andere Wahl. Aber dies bedeutet nicht, dass frühe Heiraten als Normalfall betrachtet werden. Seit einigen Jahren wächst die Anzahl von Menschen in Niger, die sich dieser Praktik widersetzen. Und es gibt immer mehr zur Hochzeit gezwungene Mädchen, die vor ihrem Ehemann fliehen. Man findet diese Mädchen in den Grossstädten, wo sie gezwungen sind, sich zu prostituieren, um überleben zu können. Am Stadtrand von Maradi schätzt man, dass um die hundert Minderjährige ihre Dienste für ein paar wenige Dollars anbieten. Ordensschwestern der Fraternité des Servantes du Christ besuchen diese Mädchen regelmässig. Die Mädchen beschweren sich nicht darüber, als Prostituierte zu arbeiten. Im Gegenteil: Sie fühlen sich frei, sind weit weg vom harten Dorfleben, das die Frauen auslaugt, und fern von einem zu alten Ehemann, für den sie Scham und Ekel empfinden. Hier entscheiden sie, mit wem sie schlafen, und bekommen noch Geld dafür. Ein kleines Mädchen, nicht älter als 12 Jahre, stösst zu der Gruppe von Mädchen dazu, die dabei sind, mir ihre Geschichten zu erzählen. Sie ist keine Prostituierte, sondern wohnt im angrenzenden Quartier. Die Ordensschwester und ich sind geschockt von ihren Worten, die sie mit bestimmter Stimme äussert: «Wenn ich könnte, würde ich mich zu diesen Mädchen gesellen. Ich träume auch von dieser Freiheit.» Als ich die Mädchen frage, wovon sie träumen, lautet die Antwort einstimmig: «In einigen Jahren heiraten und ein Geschäft eröffnen.» Leider erfüllt sich dieser Traum nur für wenige von ihnen. Viele sterben an Aids, Drogenmissbrauch, oder werden umgebracht. Andere werden in diesem Quartier alt, wie Sueba, die heute 30 Jahre alt ist und im Alter von 13 Jahren nach Maradi gekommen ist. Heute ist sie die Schirmherrin für die Strassenmädchen: Sie vermietet den Mädchen ihre Hütte und hat für ihre Anliegen immer ein offenes Ohr.

Ordensschwestern im Dienst der Verletzlichsten

Seit einigen Jahren setzt sich die Fraternité des Servantes du Christ ein, um den Frauen in Niger neue Horizonte zu eröffnen. Unter der Leitung einer senegalesischen Ordensschwester, die in Übereinkunft mit ihrer früheren Gemeinschaft ihr Heimatland zurückgelassen hat. Diese Schwester setzt sich für diese Sache ein, zu der sie sich von Christus berufen fühlt. Sie und ihre junge Gemeinschaft aus Ordensschwestern, Novizen und Postulanten besuchten in sechs Jahren über 120 Dörfer. Die Gemeinschaft hat Ausbildungskurse auf die Beine gestellt, die den Frauen erlauben sollen, sich zu emanzipieren. Die Kurse reichen von der Verwaltung des Familienbudgets über dreitägige Kurse zur Liebe in der Ehe bis zu Kursen zu den Kehrseiten und Folgen von früher oder erzwungener Heirat. Jeder Kurs bringt bis zu 200 Frauen zusammen, die sich gewissenhaft beteiligen. Niger, das von Armut und Leid geprägt ist und viermal die Fläche von Deutschland aufweist, ist dabei, sich zu verändern. Die Veränderung geschieht nicht über Nacht, aber sie ist von unschätzbarem Wert in der Situation, in der sich Niger gegenwärtig befindet. Die Nonnen hinterlassen einen starken Eindruck bei der Bevölkerung durch die Tatsache, dass sie nicht heiraten und von einem Ideal überzeugt sind, das sie dazu treibt, sich für das Gemeinwohl des Landes einzusetzen. So werden sie von den Dorfobersten und den Männern in ihrer Arbeit geschätzt.

Diese Bewunderung ist das Ergebnis einer Mission, die unter Berücksichtigung von lokalen Traditionen konzipiert ist. Die Ordensschwestern involvierten zuerst die Dorfobersten und holten ihre Zustimmung ein, bevor sie tätig wurden. Einige Dorfoberste haben die Wichtigkeit des Projektes zur Emanzipation der Frauen gleich verstanden: Die Not, die Armut und das Leid belasten die Menschen, und der Wunsch, davon wegzukommen, ist in vielen Dörfern spürbar. Die Ordensschwestern wurden sogar dazu ermutigt, Schulen und Krankenstationen zu eröffnen. Doch die Mittel bleiben begrenzt und sind rasch ausgeschöpft. So waren zu Beginn des Jahres 2013 die Lebensmittelvorräte bereits aufgebraucht, und die Medikamentenvorräte begannen zu schwinden. Während die Ordensschwestern auf grosszügige Spenden warteten, haben sie sich verstärkt für das Programm zur Sensibilisierung vor frühen Heiraten und Polygamie eingesetzt. Das Konzept der Liebe und der Freiheit liegt der christlichen Botschaft zugrunde und richtet sich insbesondere an Frauen, die Opfer von früher und zwingender Heirat sind. Diese Botschaft ist für viele Menschen in Niger revolutionär. Einige Frauen stimmen dieser Botschaft vollumfänglich zu und sind von ihrer Gültigkeit überzeugt. Dies ist der Fall bei Bara-Aka, einer Muslimin, die sich dazu entschieden hat, Ordensschwester zu werden. Ihre Familie akzeptierte zwar ihre Konversion zum Christentum, aber sie verstiess Bara-Aka trotzdem, da es in Niger undenkbar ist, dass eine Frau nicht heiratet. Sie ist eine Schande für die ganze Familie. Bara-Aka litt unter der Zurückweisung durch ihre Familie, doch das Evangelium war ihr diese Bürde wert. Es ist dem Evangelium und der Bezeugung von einigen zu verdanken, dass sich die Gesellschaft in Niger weiterentwickeln und verändern kann. Dies ist das Ideal von Bara-Aka, und es ist auch das Ideal von anderen Konvertiten und Konvertitinnen, die ich während meiner Reise kennengelernt habe. Dieses Engagement geht einher mit Risiken: Die Islamisten haben kein Interesse daran, dass sich die Frauen vom Joch der Unwissenheit befreien. Für diese Extremisten bleibt das Land ein bevorzugter Ort für die Rekrutierung junger Dschihadisten und für die Verbreitung und das Gedeihen eines intoleranten und gewalttätigen Islam. Aus diesem Grund ermutigen sie zu frühen Heiraten und weisen darauf hin, dass auch der Prophet ein junges Mädchen geheiratet habe.

Ein Sultan unterstützt die katholischen Ordensschwestern

Die jungen Ordensschwestern sind sich während ihrer heldenhaften Mission bewusst, dass ihr Leben jeden Tag in Gefahr ist und ihre Anwesenheit viele stört. Denn sie sind das sichtbare Zeichen und der friedliche und mutige Ausdruck der Würde von Frauen, welche die Islamisten bekämpfen. Die Ordensschwestern sind eines der wenigen Zeichen der Hoffnung für das Land und für alle Muslime, die an einen Islam glauben, der andere respektiert – ein Islam, wie er vor dem schicksalshaften 11. September 2001 in mehreren afrikanischen Ländern praktiziert wurde. Die terroristischen Attentate haben den Einfluss der extremistischsten islamistischen Schulen von Ägypten, Pakistan und Saudi-Arabien verstärkt. 30 Kilometer von der Stadt Maradi entfernt, betrete ich mit meinem Mitarbeiter von «Kirche in Not» die Provinz Tibiri, die von Sultan Balla Marafa regiert wird. Dieser Sultan setzte sich energisch dafür ein, dass die Ordensschwestern ihr Kloster auf seinem Gebiet bauen konnten. Er betrachtet ihr Projekt auch als sein Projekt, als ein Projekt für seine Bevölkerung. Er ist sich bewusst, dass die Menschen in seiner Provinz zum Christentum konvertieren könnten. Doch er weiss, dass die Ordensschwestern nicht von einem Bekehrungseifer angetrieben werden, sondern sich mit ihrem Projekt für die Schwächsten einsetzen wollen.

Ihre Motivation liegt in ihrer tiefen Überzeugung begründet: Eine Überzeugung, die durch ihre Beziehung zu Christus genährt wird und die ihnen die Kraft gibt, unter diesen extremen Bedingungen in einem Land zu arbeiten, in dem es an allem fehlt, in dem die Temperaturen nur schwer ertragbar sind und in dem sie jeden Monat Hunderte von Kilometern zurücklegen müssen, um die Dörfer im Busch zu erreichen. Sultan Balla Marafa bekräftigt: «Diese Kraft, Gutes zu tun, die sich im täglichen Leben zeigt, beschäftigt die Menschen. Das Volk meiner Provinz soll frei sein, Gott zu erfahren.»

 

Roberto Simona

Roberto Simona

Roberto Simona ist Verantwortlicher für «Kirche in Not» in der Westschweiz und im Tessin und «Research Manager in Islam and Christian Minorities»